Portugal nach dem Generalstreik: Keine Angst weiter zu kämpfen!

Bericht aus Lissabon

Auch wenn es in den deutschen Medien wenig beachtet wurde: Am 14. November fand einer der bedeutendsten Massenproteste in der portugiesischen Geschichte statt. Trotz der massiven Polizeirepressionen wird die Bewegung gegen die Regierung und die Troika nicht an Kraft verlieren.

von Anne Engelhardt, zur Zeit in Lissabon

In Lissabon meldete die Feuerwehr bereits um 21 Uhr eine Streikbeteiligung von 100 Prozent. Von den 120 Müllwagen der Stadt waren in der Nacht nur zwei unterwegs, die sich nicht an der Arbeitsniederlegung beteiligten. Ein einziger Kollege vom Sicherheitsdienst wollte die Streikenden davon abhalten, das Gelände der Stadtreinigung zu betreten, wurde dann aber von GewerkschafterInnen überrannt. Unter ihnen befand sich der Präsident des Gewerkschaftsdachverbandes der CGTP, der ausführlich von der Presse zum bevorstehenden Streiktag interviewt wurde. Der zweitgrößte Gewerkschaftsdachverband der PS (Partido Socialismo – der Politik nach sozialdemokratische Partei in Portugal) nahen UGT hatte sich geweigert ebenfalls zum Generalstreik aufzurufen, obwohl der Präsident der UGT ebenfalls Mitglied im EGB ist, der gerade in Solidarität mit Portugal und Spanien zum N14 europaweiten Aktions- und Streiktag ausgerufen hatte. Nach und Nach hatten zudem die einzelnen Gewerkschaften, die in der UGT organisiert sind, ihre Streikbeteiligung bekundet, darunter auch die eigene Gewerkschaft des UGT-Präsidenten.

Mitglieder von Socialismo Revolutionario, der Schwesterorganisation der SAV in Portugal, beteiligten sich in der Nacht zum 14. November an insgesamt sieben Streikposten. Gemeinsam mit Arbeitslosen, StudentInnen, Mitgliedern sozialer Bewegungen, RentnerInnen und Gewerkschaftsfunktionären unterschiedlicher Zusammenschlüsse wurden Streikposten bei den öffentlichen Buslinien, der zentralen Postsammelstelle, einigen Universitäten, der Feuerwehr, der Stadtreinigung und dem deutschen Postzulieferers DHL besucht und unterstützt. Während der Streikposten bei der Post in ein Fest mündete, dass bis morgens um 5 Uhr mit Gesang, Tanz und Grill andauern sollte, entwickelte sich bei dem Busunternehmen Carris immer neue Spannungen. Ein Kollege hatte versucht mit seinem Bus das Gelände zu verlassen und dabei beinahe einen Teil der Streikenden überfahren, konnte aber noch rechtzeitig gestoppt werden. Während er sich am Anfang komplett weigerte mit den KollegInnen aus der Streikblockade zu diskutieren, sorgten die geduldigen Argumentationsleistungen der Streikenden dafür, dass er am Ende freiwillig mit dem Bus andere Streikbrecher blockierte. Eine Kollegin, die schon seit 40 Jahren bei dem Busunternehmen Carris arbeitete, kommentierte den versuchten Streikbruch damit, dass sie verstehen könne, dass viele Leute es sich nicht leisten können, einen Tag Lohn zu verlieren, in diesen Zeiten: „Doch ein Tag ist nichts im Verhältnissen zu den Jahren an Lohn, den wir verlieren werden, wenn wir uns jetzt nicht zur Wehr setzen.” Ein Student, der ebenfalls tapfer die Busse blockierte und zum Streikposten dazu gestoßen war, nachdem ein Posten bei einem anderen Busunternehmen gewaltsam von der Polizei aufgelöst wurde, sagte: „Portugal begeht gerade Selbstmord. Es werden keine Kinder mehr geboren, die Leute ziehen weg.“ Diese Situation könne er sich nicht länger ansehen.

Am Morgen blockierten StudentInnen den Eingang einer der Lissaboner Universitäten. Ein Bündnis mit dem Namen „StudentInnen für den Generalstreik“, was von Socialismo Revolutionario mit aufgebaut wurde, organisierte diese Aktion in Solidarität mit spanischen StudentInnen, die zum gleichen Zeitpunkt zu ähnlichen Aktionen aufriefen. Zunächst wollte ein Kollege vom Sicherheitspersonal die StudentInnen überzeugen, die Blockade einzustellen und die Leute durchlassen. Als die Polizei anrückte und einschreiten wollte, verteidigte der Wachmann jedoch die Blockade und stellte sich auf die Seite der StudentInnen.

Am 14. November fand eine der radikalsten Demonstrationen seit Beginn der Bewegung gegen die Troika und die Regierung statt. Die StudentInnen organisierten einen eigenen Protestzug zum Treffpunkt der Gewerkschaften. Die Hafenarbeiter einen weiteren, der mit lauten Rufen und der Forderung nach dem Sturz der Regierung begleitet wurde. Die Hafenarbeiter gehörten zu den wenigen Gewerkschaften, die in der Nacht keinen Streikposten organisieren wollten, da bei ihnen der gewerkschaftliche Organisationsgrad 100 Prozent beträgt und alle sich im Ausstand befanden. Ihr Zug zum Rossio wurde von diversen sozialen Bewegungen begleitet, darunter MSE (Bewegung der Menschen ohne Arbeit), die ebenfalls von GenossInnen von Socialismo Revolutionario im Vorfeld des Streiks aufgebaut worden war und mit als erste zur Solidarität mit den laufenden Streiks der Hafenarbeiter aufriefen.

Auf dem Rossio, wo die CGTP den Beginn der gemeinsamen Demonstration zum Parlament angemeldet hatte, kamen weit über 100.000 Menschen zusammen. Der Demozug war derart riesig, dass die ersten schon längst am Kundgebungsort angekommen waren, während die letzten auf dem Rossio erst losliefen.

Bei ihrer Kundgebung lobte die CGTP-Führung zum ersten Mal die sozialen Bewegungen für ihren enormen Einsatz bei der Unterstützung der Streikposten und rückte damit und mit dem Zulassen einer gemeinsamen Demonstration von ihrer ablehnenden Haltung gegenüber dem gemeinsamen Kampf mit anderen Organisationen ab. Der Gewerkschaftspräsident der CGTP Armenio Carlos warnte die Regierung, dass dieser Generalstreik die rote Karte sei und sie weitere organisieren würde, wenn die Regierung ihre Politik nicht ändern würde.

Leider versäumte er die nächsten Schritte für den Widerstand und den Sturz der Regierung vorzuschlagen. Doch die Energie, die durch den Streik und die kämpferische Demonstration auf die Straße gebracht wurde, konnte hier nicht einfach verpuffen. Carlos hätte vorschlagen können als nächstes zu diskutieren, wie zum Beispiel ein 48-stündiger Generalstreik auf die Beine gestellt werden könnte, um eine Bewegung zum Sturz der Regierung aufzubauen. Doch nach der Rede verschwanden die FunktionärInnen der Gewerkschaften und ließen über 50.000 Menschen zurück, die immer noch wütend vor dem Parlament den Sturz der Regierung forderten.

Die Absperrung vor der Parlamentstreppe wurde eingerissen und DemonstrantInnen versuchen die Treppe zu besetzen. Sie wurden jedoch brutal von den Polizeikräften daran gehindert. Verzweifelte und wütende Menschen warfen Kartoffeln und zunehmend Pflastersteine auf die Schilder der Polizei. Wenn im Nachhinein in den Medien von organisierten Terroristen gesprochen wird, ist das einfach nur lächerlich. Ob die Steinwürfe gegen die massiv gepanzerte Polizei irgendetwas bringen, kann man diskutieren. Wenn jedoch in der verzweifelten Lage in der sich die Menschen in Portugal befinden, die jeden Tag durch die Kürzungen, die nichts weiter als brutale Verarmung hervorrufen, auf unterschiedliche Weise staatliche Gewalt erfahren und von linken Parteien und Gewerkschaften kein Programm vorgeschlagen wird, diese Situation zu überwinden, ist es schwer die Steinwürfe zu verurteilen. Die Frage steht in diesem Zusammenhang Im Raum: Was wäre in dem Moment die Alternative gewesen und warum wurde sie nicht aufgezeigt?

Lenin schrieb 1920 in „Der linke Radikalismus – die Kinderkrankheit des Kommunismus“, dass der Anarchismus nicht selten „eine Art Strafe für die opportunistischen Sünden der Arbeiterbewegung“ war. Bis heute haben Linksblock und die kommunistische Partei Portugals kein Wort über die massiven Ausschreitungen vom 14. November verloren und schlimmer noch trotz zwei Jahren Troika-Verarmungspolitik kein Programm aufgezeigt, dass diese Politik und letztendlich das System was sie hervorruft effektiv bekämpft.

Die Polizei schoss Feuerwerksraketen und -böller auf die Demonstration. Eine Massenpanik brach aus, tausende flohen in die Seitenstraßen, verfolgt von den Polizeikräfte, die wie Wahnsinnige um sich schlugen und dabei vor allem Kinder und RentnerInnen, die nicht schnell genug fliehen konnten, schwer verletzten. In den Seitenstraßen setzte sich die Polizeigewalt fort, das gesamte Regierungsviertel war einige Stunden im bürgerkriegsähnlichen Ausnahmezustand. 21 Menschen wurden festgenommen und irgendwo an einen abgelegenen Ort der Stadt gebracht, wo sie sich ausziehen mussten, verprügelt wurden, und ein leeres Blatt unterschreiben mussten, um gehen zu dürfen. Den Inhalt des Blattes wollten die Polizeikräfte im Nachhinein ergänzen. Telefonieren, auch mit Anwälten, wurde den Betroffenen untersagt. Diese Maßnahmen erinnern an die Salazar-Diktatur und zeigen einmal mehr auf wie weit die Herrschenden mittlerweile gehen, demokratische Rechte zu brechen um den Widerstand der arbeitenden Klasse zu zerstören.

Am Tag danach trafen sich die sozialen Bewegungen und diskutierten wie sie auf die staatlichen Repressionen reagieren können. In den Medien sprach Armenio Carlos von der CGTP davon, dass die Steinwürfe einzig das Resultat der radikalen Kürzungspolitik sei und verurteilte die Polizeigewalt. Weitere Schritte dagegen leitete er jedoch nicht ein.

In den nächsten Tagen wird es Demonstrationen für politische Freiheit und gegen staatliche Repressionen geben. Die CGTP organisiert eine weitere Demonstration vor dem nationalen Parlament am 27. November wenn die letzte Haushaltslesung der neuen Kürzungspläne stattfindet.

Diese Demonstration muss massiv werden und bietet die nächste Gelegenheit für die Gewerkschaftsführung ein Aktionsprogramm für den Widerstand vorzuschlagen und einen 48-stündigen Generalstreik zum Sturz der Regierung auszurufen. Mitglieder von Socialismo Revolutionario setzen sich dafür ein, dass diese Chance nicht ein weiteres Mal verpasst wird. Dieser Schritt könnte auch auf europaweiter Ebene für die Gewerkschaften in Spanien und Griechenland angeregt werden, um erneut europaweite Schritte für den Widerstand gegen die Kürzungspolitik und das kapitalistische System als Ganzes herauszufordern.