Mächtiger Studierenden-Streik in Quebec dauert nun schon 100 Tage an

Wenn autoritäres Gebaren auf Widerstand stößt

von Olivier Lachance, „Alternative Socialiste“ (Schwesterorganisation der SAV und Sektion des CWI in Quebec)

Dieser Artikel erschien zuerst in englischer Sprache auf der Webseite socialistworld.net vom Komitee für eine Arbeiterinternationale engl. CWI, dem in Deutschland die SAV angehört.

Seit hundert Tagen nun schon befinden sich die Studierenden in der kanadischen Provinz Quebec im Streik. Sie kämpfen gegen die Anhebung der Studiengebühren auf 1625 kanadische Dollar (rund 1.250 Euro; Anm. d. Übers.). Von Anfang an ist diese Bewegung mit krasser Repression konfrontiert gewesen. Und die Lage spitzt sich nur noch weiter zu, seit die Regierung das „Gesetz 78“ eingeführt hat, welches das Demonstrationsrecht streng eingeschränkt. Trotz dieses entsetzlich undemokratischen Gesetzes (vgl. Kasten am Ende dieses Artikels) gibt es Berichte von über 250.000 Menschen, die am 22. Mai in Montreal gegen die Anhebung der Studiengebühren wie auch gegen das „Gesetz 78“ selbst protestierten. Anlässlich des hundertsten Tages, die der Kampf nun schon andauert, veröffentlichen wir einen Artikel über die fortdauernde Streikbewegung, den Olivier Lachance von der „Alternative Socialiste“, der Schwesterorganisation der SAV und Sektion des CWI in Quebec, verfasst hat.

Die Redaktion von Socialistworld.net

Entgegen Behauptungen von Journalisten und Politikern, die von Marginalisierung und einem Abflauen der Studierendenbewegung sprechen, bricht der Kampf gegen die Anhebung der Studiengebühren in Wirklichkeit neue Rekorde. Rund 150.000 Studierende befinden sich weiterhin im Ausstand – nach drei Monaten, die der Streik nun schon andauert. Überall in Quebec kommt es jeden Tag zu Demonstrationen und Protestaktionen. Mehrere Gewerkschaften, Bürgerinitiativen und politische Organisationen unterstützen die Studierenden.

Mehr noch: Seit Beginn der Auseinandersetzung hat der Kampf auch Einiges angestoßen. Es geht nicht mehr „nur“ darum auszudrücken, dass man gegen die Regierungsentscheidung ist, die Studiengebühren auf 1625 kanadische Dollar anzuheben. Mittlerweile spielt auch eine Rolle, sich gegen eine so noch nie dagewesene autoritäre Maßregelung zur Wehr zu setzen, bei der es sich um einen letzten Versuch der Regierung handelt, die Studierendenbewegung in die Schranken zu weisen.

Und was in den letzten Tagen von statten gegangen ist, ist in der Tat reichlich beunruhigend. Es wird aber nicht dazu beitragen, den einmal begonnenen Kampf zum vorzeitigen Ende zu bringen. Im Gegenteil ist dies ein weiterer Grund zum Kämpfen.

Mit einer Opposition konfrontiert, die schlicht und einfach zu groß ist, als dass man sie ignorieren könnte, musste die Regierung Charest den Studierenden Angebote machen. Und das, obwohl Charest (von der „Parti libéral du Québec“, der „Liberalen Partei“, Anm. d. Übers.) selbst gesagt hatte, er würde sich nicht nach deren Forderungen richten. Natürlich waren diese Angebote nichts weiter als eine Täuschung. Es ging darum, von dem Wandel, den die Studierenden tatsächlich fordern, abzulenken. Das erste Angebot bestand lediglich darin, eine unbedeutende Veränderung vorzunehmen, was die Höhe der von Studierenden beantragbaren finanziellen Zuschüsse angeht. Und beim zweiten Angebot, handelte es sich um den Vorschlag, gemeinsam mit den Studierenden-Gewerkschaften über die Form der Hochschulverwaltung zu diskutieren. Die Bedingung dafür war aber, dass eben diese Studierenden-Gewerkschaften zuvor die Protestierenden als „Hooligans“ zu verurteilen hätten. Erfreulicherweise haben sich die Studierenden nicht hinters Licht führen lassen, und die Versuche, die Studierendenschaft zu spalten, schlugen letztlich voll und ganz fehl.

Die Leitungen von Hochschulen und Colleges stehen mit dem Rücken zur Wand. Aus diesem Grund versuchten einige von ihnen Anfang Mai, den Konflikt auf eigene Faust zu beenden. Ihr Lösungsansatz bestand darin, gerichtliche Verfügungen zu erreichen, um die Studierendenstreiks an ihren jeweiligen Einrichtungen verbieten zu lassen und damit die von den Studierenden demokratisch gefällten Entscheidungen zu ignorieren. Ob den Anträgen auf einstweilige Verfügungen stattgegeben wird oder nicht: Die Regierung übt sich bereits in Phantastereien, dass die Bewegung durch diese lächerliche Maßnahme zur Aufgabe gezwungen werden könnte.

An den Colleges in Valleyfield und Saint Jean-sur-Richelieu haben Studierende und ProfessorInnen trotz einstweiliger Verfügungen ihre Demonstrationen fortgesetzt und so dafür gesorgt, dass die Seminare ausfallen mussten. Dasselbe passierte auch an der „Université du Québec en Outaouais“, wo die Situation bald schon ausuferte, weil der Rektor (ein Sympathisant der „Liberalen Partei“) die Sicherheitskräfte anrief. Über die Dauer von drei Tagen wurden mehrere hundert Studierende, ProfessorInnen und andere in Gewahrsam genommen. Das heizte die Demonstrationen nur weiter an und ließ sie noch größer werden. Doch die DemonstrantInnen haben unter schwerwiegender Repression zu leiden, was dazu führte, dass einige aufgrund der brutalen Vorgehensweise der Polizei schwere Verletzungen davon trugen.

An der „Université de Montreal“ wurde den Anträgen auf einstweilige Verfügungen nicht stattgegeben. Und dennoch richtete sich die Universitätsleitung, vom eigenen repressiven Eifer angetrieben, an Sicherheitsbeamte, die Polizei und ein privates Sicherheitsunternehmen, diese möge herbeieilen und die Proteste beenden. Diese Provokation führte zu einer zunehmend von Einschüchterung geprägten Stimmung und Wut. So kam es am Ende auch dazu, dass es zu Sachbeschädigungen kam.

Obwohl es in der Hauptstadt von Quebec, in Quebec-Stadt, selbst nicht viele Streikende gibt, geht der Kampf hier genauso vonstatten. Am 17. April fand eine Demonstration statt, um sich gegen ein Papier zu wenden, das von einem hochrangigen Beamten in einer wichtigen Lokalzeitung veröffentlicht wurde und in dem die von Faschisten zur Unterdrückung von Protesten benutzten Methoden angepriesen wurden. Zwei Tage später kam es aus Protest gegen die vom Verwaltungschef der weiterführenden Schule CEGEP geäußerten Drohungen gegen LehrerInnen, die symbolisch im Freien unterrichten wollten, um sich damit gegen die Erhöhung der Schulgebühren zu positionieren, zu einer weiteren Spontandemonstration. Bei dieser ansonsten vollkommen friedlich verlaufenden Demonstration missbrauchte die Polizei erneut ihre Position und verhaftete absolut willkürlich schätzungsweise 50 Personen.

Vor diesem Hintergrund fand am 20. April der Aktionstag statt, an dem hunderte von entschlossenen DemonstrantInnen versuchten, eine Rede des Premierministers Charest zu stören, die er in Montreal hielt. Rasch entwickelte sich eine gespannte Atmosphäre. Als die Polizei alles, was sie hatte (von gewaltsamen Verhaftungen über Schlagstöcke, Tränengas, und Lärm-Granaten bis hin zu Gummigeschossen), nutzte, um wieder einmal eine Demonstration willkürlich zu behindern, begannen die DemonstrantInnen mit Krawallen, die einige Stunden andauerten. In den Straßen wurden Barrikaden errichtet, von allen Seiten flogen Projektile, Rauchwolken aus Feuer und Gas standen über der Stadt. Es war das völlige Chaos und endete nicht nur in zahlreichen Verhaftungen sondern auch damit, dass viele DemonstrantInnen, PassantInnen und sogar Polizeibeamte verletzt wurden.

Unterdessen war der Premierminister (der genötigt war, seinen Vortrag über den „Plan Nord“ vor Geschäftsleuten im Kongress-Palast zu verschieben) nicht in der Lage mehr zu tun, als Witze über die Situation zu machen. Er sagte, dass Studierende dank seiner Person im Norden der Provinz Quebec Arbeit finden könnten und dass man schon bald nichts mehr von ihnen hören würde. Dieser „Witz“ ist nicht nur eine Beleidigung aller Studierender, die versuchen sich zu einem Aspekt, der sie angeht, Gehör zu verschaffen, sondern auch ein Affront gegen die Bevölkerung als ganze, die einen wirklichen Dialog wollen und eine wirkliche Lösung für die herrschenden Krise.

Die Inkompetenz der „Liberalen“, diesen Konflikt zu lösen, (verbunden mit Korruptionsskandalen und ihrem „Plan Nord“, der den Ausverkauf der Naturreservate Quebecs zu Gunsten der Privatwirtschaft bedeutet) verdeutlicht nur die Tatsache, dass die Regierung sich überhaupt nicht darum schert, was die Menschen in Quebec denken oder wollen. Alles, was für sie zählt, sind das eigene Interesse und die Interessen ihrer Freunde bei den Großkonzernen. Doch selbst mit dem Einsatz von Gewalt, was ihre Geringschätzung gegenüber der Bevölkerung belegt, waren sie nicht in der Lage, die Studierenden und die, die mit ihnen sympathisieren, auszuschalten. Der Kampf gegen steigende Studiengebühren muss weitergehen – und dass der Kampf bislang anhält, ist für sich genommen in Wirklichkeit schon eine Art von Erfolg. Natürlich ist das allein und für den Moment genommen noch kein kompletter Sieg, aber dieser Kampf hat bereits zur Entwicklung eines bestimmten Bewusstseins geführt und dazu, dass mehr und mehr Menschen den Ansatz verfolgen, große Zahlen an DemonstrantInnen zu mobilisieren, die dabei helfen werden, in Zukunft unsere kollektiven Interessen in Quebec zu verteidigen.

Aus diesem Grund gehen wir, „Alternative Socialiste“, davon aus, dass der Kampf sich noch weiter entwickeln kann und muss. Insbesondere müssen wir den Kampf dahingehend ausweiten, dass er sich auch gegen die sogenannten Sparpakete als ganzes richtet. Wir müssen unter den „einfachen Leuten“ eine Basis schaffen, die – gemeinsam mit den Studierenden – in der Lage sein werden, als Kontrapunkt zu den Machenschaften unserer Eliten zu handeln. Dieser Kampf darf jedoch nicht dabei stehen bleiben, „nur“ die Angriffe des Establishments abwehren zu wollen. Es muss dabei auch darum gehen, einen politischen Kampf daraus zu machen, der darauf abzielt, die Diktatur der Märkte zu stürzen, die all diese Probleme erst schafft.

Studiengebühren-Erhöhung als Drangsalierungsinstrument zur Durchsetzung der reaktionären Ansichten der Regierung
Alle auf die Straße gegen Korruption und Gebühren! In einem Versuch, den Kampf der Studierenden zu zerschlagen, haben die „Liberalen“ unter der Führung von Charest am 17. Mai ein Sondergesetz verabschiedet (Gesetzentwurf 78). Das ist eine Maßnahme, die an die Äre der „Grande Noirceur“ (die „Große Dunkelheit“) zur Zeit des Regimes unter Maurice Duplessis erinnert. Im Wesentlichen sieht dieses Drangsalierungsinstrument Sonder-Haft und Strafen (i.H. von 7.000 kanadischen Dollar und mehr) gegen jede und jeden vor (z.B. und in erster Linie gegen Studierende und ProfessorInnen), die/der zu durch gerichtliche Verfügungen verbotenen Handlungen aufruft, sich darauf vorbereitet oder an ihnen teilnimmt und nicht wie vorgesehen im August wieder an den obligatorischen Vorlesungen, Kursen und Seminaren teilnimmt. Studierenden-Vereinigungen können mit Strafzahlungen i.H. von mehr als 25.000 kandischen Dollar (~ 19.000 Euro; Anm. d. Übers.) belegt werden, wenn sie an derlei Handlungen teilhaben. Dieses Gesetz sieht auch vor, dass sämtliche Demonstrationen von mehr als 25 TeilnehmerInnen inklusive geplanter Marschroute mindestens acht Stunden vorher bei der Polizei angemeldet werden müssen. Die Polizei ist im Folgenden bemächtigt, die geplante Route zu ändern. Hinzu kommt, dass einige Städte und auch die kanadische Regierung von Stephen Harper zur Zeit dabei sind, ein Gesetz einzuführen, das das Tragen von Masken auf Demonstrationen untersagt. Wir erleben bereits jetzt Polizeibrutalität, willkürliche Verhaftungen und unfaire gerichtliche Verfügungen. Diese neuen Maßnahmen werden die Umwandlung Quebecs in einen Polizeistaat nur weiter beschleunigen, der angestrebt wird, um die Kämpfe der sozialen Bewegungen zu unterdrücken. Die Krise, von der Quebec betroffen ist, ist in der Tat so gewaltig, dass unsere Regierenden alles tun, um zu bekommen, was sie wollen.

 

  • Wir lassen uns von dieser autoritären Regierung nicht einschüchtern! Heute mehr denn je: Wir müssen den Kampf ausweiten! Jede und jeder sollte weiter auf der Straße bleiben, um mit den Demonstrationen und Besetzungen weiter zu machen!
  • Studierende und ArbeiterInnen, wir alle sind Opfer der heuchlerischen Politik des Establishments. Wir müssen aufstehen und uns gegen die Handvoll Lügner an der Macht und deren Freunde in der Privatwirtschaft vereinigen. Sie wollen, dass wir die Rechnung bezahlen, zu der ihr Missmanagement geführt hat. Sie sind ausschließlich an der eigenen und individuellen Profitrate interessiert. Lasst uns in unseren Studierenden-Gewerkschaften und Gewerkschaften damit beginnen, für einen Generalstreik gegen Korruption, Gebühren und Privatisierungen zu mobilisieren!
  • Lasst uns damit aufhören, weiterhin die „Liberale Partei“ Quebecs und auch die konservative CAQ sowie die national-quebecische PQ zu tolerieren und uns mit ihnen zu begnügen. Auch die letzten beiden sind nicht in der Lage, unsere Interessen zu verteidigen und auch ihr Anliegen besteht darin, den Eliten behilflich zu sein. Nur „Quebec Solidaire“ hat das Potential, zum Sprachrohr dieser Protestbewegung zu werden. Lasst uns bei dieser Partei mitmachen und sie unterstützen!

Homepage der „Alternative Socialiste“ (Schwesterorganisation der SAV und Sektion des CWI in Quebec): www.alternativesocialiste.org