Niederlage kurz vor dem Ziel

Am 13. Dezember 1981 wurde in Polen das Kriegsrecht ausgerufen und die Bewegung der Arbeiterklasse unterdrückt.


 

Polen kam unter den zentral- und osteuropäischen Ländern einem erfolgreichen Arbeiteraufstand gegen den Stalinismus wohl am nächsten. Vor 1980 hatten ArbeiteraktivistInnen eine gut organisierte illegale Gewerkschaftsbewegung aufgebaut. Dann tauchte Solidarność auf, mit einer Flutwelle von Betriebsbesetzungen und Streiks, die drohte, das verfaulte Regime mit sich fortzureißen. Aber neun Jahre später gab es ein prokapitalistisches Regime, in dem Solidarność-Mitglieder eine zentrale Rolle spielten. Paul Newbery (CWI Polen) betrachtet, wie das möglich war.

von Paul Newberry, Alternatywa Socjalistyczna (Schwesterorganisation der SAV in Polen)

Die Slogans und Organisationsformen, die während des Kampfes 1980 aufgeworfen wurden zeigen, das große Teile der ArbeiterInnen nach Möglichkeiten suchten, die stalinistische Bürokratie zu stürzen und eine echte Arbeiterdemokratie zu schaffen. Das wurde durch Graffiti an den Mauern in Gdańsk ausgedrückt: „Sozialismus ja! Aber ohne Verzerrungen!“ Als Nebenprodukt des Widerstands entstand die unabhängige Gewerkschaft Solidarność (Solidarität). Aber nur 9 Jahre später bildete Solidarność eine Regierung und leitete eine Reihe schneller „Marktreformen“ ein, die den Kapitalismus wieder herstellten. Wie konnte eine solche Bewegung zur Agentin der kapitalistischen Restauration werden? Waren die Wurzeln der Degeneration von Solidarność von Anfang an angelegt?

Um den Prozess von Revolution und Konterrevolution in Polen und den anderen Ländern des damaligen Ostblocks in den 1980ern zu verstehen ist es notwendig, die Ursprünge dieser Regimes zu betrachten. In Russland gab es 1917 einen revolutionären Umsturz des Massen, der erst später durch die wirtschaftliche und kulturelle Rückständigkeit des Landes und seine Isolation nach dem Ausfall der Weltrevolution bürokratisch degenerierte. Aber die stalinistischen Regime in Mittel- und Osteuropa wurden nicht auf diese Art geschaffen. Diese Länder wurden am Ende des 2. Weltkriegs von der Roten Armee befreit, die anschließend dort blieb. Die kommunistischen Parteien der jeweiligen Länder bildeten Koalitionsregierungen mit dem Schatten der Bourgeoisie. Aber die Repressionsorgane des Staates waren fest in der Hand der StalinistInnen. Binnen kurzer Zeit schafften sie mit Unterstützung der Masse die Bevölkerung die letzten Reste des Kapitalismus und des Großgrundbesitzes ab. In einigen Ländern, besonders in der Tschechoslowakei, gab es Massendemonstrationen von hunderttausenden ArbeiterInnen für diese Maßnahmen.

Von Anfang an waren diese neu geschaffenen Regimes deformierte Arbeiterstaaten nach dem Vorbild von Stalins Sowjetunion, groteske Verzwerrungen des Sozialismus in denen Arbeiterdemokratie durch bürokratische Diktatur ersetzt wurde. Trotz des anfänglichen Enthusiasmus fanden die ArbeiterInnen die brutale Unterdrückung durch diese Regimes bald abstoßend. Binnen kurzer Zeit brachen in vielen Ländern Arbeiteraufstände aus, der größte 1956 in Ungarn, ein heroischer Versuch der Arbeiterklasse eine politische Revolution durchzuführen.

Polen bildete in diesem Prozess keine Ausnahme. 1956 wurden ein Streik und eine Demonstration gegen das Regime in Poznań brutal unterdrückt. Danach versuchte es mit einer neuen Strategie, seine Unterstützerbasis zu verbreitern.Wladyslaw Gomulka wurde erster Sekretär. Als Zugeständnis an die BäuerInnen verzichtete das Regime auf eine massive Kollektivierung des Landes. Bürokraten auf unteren Ebenen wurden stärker privilegiert, um sie an das System zu binden. Auch die Kirche bekam im Gegenzug für ihre Unterstützung Privilegien.

Ein Wendepunkt

Zunächst gab es in Polen und den anderen osteuropäischen Ländern dank der Vorteile der Planwirtschaft starkes Wirtschaftswachstum. Das BIP Polens wuchs um 7% pro Jahr. Aber die Parasitenrolle der stalinistischen Bürokratie, die zu Missmanagement und Verschwendung führte, bremste die Wirtschaftsentwicklung. Von einem relativen Hindernis für das Wachstum entwickelte sich die Bürokratie zu einem absoluten Hindernis. Planung verwandelte sich in ihr Gegenteil – in Chaos.

Am Ende der 1960er gab es schon wirtschaftliche Probleme, die Subventionen für die Nahrungsversorung der Bevölkerung konnten nur mit Mühe beibehalten werden. 1970 führte die Ankündigung von Preiserhöhungen für Fleisch zu Arbeiterdemonstrationen an der Ostseeküste, die sich zu einem Aufstand entwickelten. Die meisten Proteste gab es in Gdynia und Gdańsk, aber auch Szczecin, Elblag, Warschau, Wrocław und einige andere Orte waren betroffen. Das Regime schickte Panzer und der Aufstand wurde im Blut ertränkt, es gab wahrscheinlich über 100 Tote. Die stalinistische Bürokratie war erschüttert und versuchte wieder, Repression mit Zugeständnissen zu verbinden. Gomulka wurde durch Edward Gierek ersetzt, der im Westen massive Kredite aufnahm. Ein großer Teil dieser Kredite wurde schlecht investiert, große Summen wurden aufgewendet um den Konsum der Massen zu steigern und so sozialen Frieden zu erkaufen.

Es gab eine Periode schnellen Wachstums und steigender Lebensstandards, aber die Atempause dauerte nicht lang. Bald bekam das Regime Schwierigkeiten bei der Rückzahlung der Kredite. 1976 organisierten ArbeiterInnen in Radom, dem Zentrum der polnischen Waffenindustrie. Während den ArbeiterInnen Zugeständnisse gemacht wurden, ging das Regime gegen die StreikführerInnen vor. Eine Gruppe von Oppositionellen und Intellektuellen bildete das Arbeiter-Verteidigungskomitee (KOR) um Spenden für die betroffenen ArbeiterInnen zu sammeln, Rechtshilfe zu leisten und für ihre Sache zu werben. In den folgenden Jahren unterstützte KOR die Bildung illegaler „Freier Gewerkschaften“ in einigen Städten, auch in den Werften von Gdańsk.

Ein Wendepunkt kam im Sommer 1980, als eine weitere Serie von Fleischpreiserhöhungen eine landesweite Streikwelle auslöste. Das Regime plante die ArbeiterInnen durch Zugeständnisse an Streikende in strategisch wichtigen Branchen zu spalten. Aber diese Taktik ermutigte nur weitere Belegschaften zum Streiken. In Lublin, wo die ArbeiterInnen auch die Privilegien der Bürokratie angriffen und Redefreiheit forderten wurde der Protest zum Generalstreik, durch eine Blockade der Bahnlinien nach Russland kamen die polnischen Exporte zum Erliegen. Die örtliche Zeitung griff die Streikenden an und warnte vor einer Intervention Russlands, aber am nächsten Tag stoppten DruckerInnen die Pressen. Der Vize-Ministerpräsident flog zu Verhandlungen nach Lublin, und zu den errungenen Zugeständnissen gehörte, dass die Zeitung eine Entschuldigung drucken musste.

Politische Forderungen

Als Mitte August auf der Werft in Gdańsk ein Streik zur Verteidigung der Arbeiterführerin Anna Walentynowicz, Mitglied der KOR-Gruppe an der Küste, ausbrach gab es eine qualitative Veränderung. Seit vielen Jahren gab es hier eine illegale freie Gewerkschaft, so dass die ArbeiterInnen erfahren und gut vorbereitet waren. Die Forderungen der Streikenden waren fortschrittlicher als irgendwo anders im Land und reichten auf die politische Ebene. Sie forderten die Freilassung politischer Gefangener, die Wiedereinstellung entlassener ArbeiterInnen, Lohnerhöhungen entsprechend denen der Miliz und ein Denkmal für die 1970 getöteten ArbeiterInnen.

Die Betriebsbesetzungen verbreiteten sich schnell in der „Dreifachstadt“ Gdańsk-Sopot-Gdynia. Die Streikkomitees in Gdańsk vernetzten sich. Am zweiten Tag unterbrachen die Behörden alle Telefonleitungen nach Gdańsk um den Streik zu begrenzen. Trotzdem verbreitete er sich in andere Städte. Die WerftarbeiterInnen schienen sich in Verhandlungen mit dem Regime zu einigen, bis sich die Beschäftigten der Verkehrsbetriebe in Gdańsk beschwerten, dass sie allein weiterkämpfen müssten wenn die WerftarbeiterInnen ihren Streik beenden würden. Die Führung der WerftarbeiterInnen machte eine schnelle Kehrtwende und der Streik ging weiter, jetzt aus Solidarität mit den anderen ArbeiterInnen.

An jenem Wochenende versammelten sich Delegierte der Streikkomitees in der Stadt und gründeten eine neue Organisation, das Betriebsübergreifende Streikkomitee (MKS). Es war ähnlich organisiert wie Sowjets oder Arbeiterräte: gebildet aus demokratisch gewählten Delegierten aus den Betrieben die wiederum ein Präsidium wählten. Zu Beginn war es eine extrem demokratische Struktur. Das Präsidium war dem MKS gegenüber zu Rechenschaft verpflichtet, dessen Mitglieder den Belegschaften die sie vertraten rechenschaftspflichtig waren. Verhandlungen zwischen dem MKS-Präsidium und dem Regime wurden live an das MKS in Gdańsk und alle WerftarbeiterInnen übertragen. Aber schon in dieser Phase fanden einige Diskussionen zwischen den Experten des Regimes und „Fachleuten“ des MKS hinter verschlossenen Türen statt.

Am selben Wochenende entstand eine Liste mit 21 Forderungen. Diese waren vor allem politisch und zeigten, dass sich die ArbeiterInnen in Richtung einer politischen Revolution bewegten. Sie begannen mit der Forderung nach der Anerkennung freier Gewerkschaft und des Streikrechts, nach Redefreiheit und Zugang zu den Medien für Menschen aller Überzeugungen sowie für die Streikbewegung und das MKS. Alle diese Forderungen würden MarxistInnen unterstützen. Nach den demokratischen Forderungen kamen solche gegen die Privilegien der Bürokratie und der Geheimpolizei und gegen die Spezialläden, in denen es Mangelware zu höheren Preisen gab. Es gab auch eine Reihe wirtschaftlicher Forderungen zur Verbesserung der Bedingungen für Arbeitende und größere soziale Gleichheit. Rufe nach Marktreformen oder der Restauration des Kapitalismus waren nirgends zu hören.

MarxistInnen würden zusätzlich die Wahl aller AmtsträgerInnen mit der Möglichkeit, sie jederzeit abzuwählen fordern, und dass kein Amtsträger mehr als einen durchschnittlichen Facharbeiterlohn verdienen soll. Außerdem sollte es eine regelmäßige Ämterrotation geben. Solche Maßnahmen würden die Bildung einer zukünftigen Bürokratie verhindern. Vor allem war es notwendig, zu erklären dass das MKS die Macht übernehmen und das Organ der Herrschaft der ArbeiterInnen werden sollte.

Riesige Macht der Arbeiterklasse

Trotz Versuchen, Gdańsk zu isolieren, drangen Informationen nach außen und die Bewegung verbreitete sich wie ein Lauffeuer über Polen. Betriebsbesetzungen, Streiks und MKS-ähnliche Strukturen erschienen im ganzen Land. In Sczeczin bekamen WerftarbeiterInnen eine Gehaltserhöhung um 10%, bevor sie überhaupt aktiv geworden waren. Das ermutigte sie, einen Streik zu organisieren und ihr eigenes MKS zu bilden. Binnen einer Woche hatten sich 370 Belegschaften mit über 400000 ArbeiterInnen dem MKS in Gdańsk angeschlossen.

In dieser Situation bestand eine Doppelherrschaft. Während des Generalstreiks kontrollierte das MKS in Gdańsk die Verteilung von Nahrungsmitteln, den Nahverkehr und die Gesundheitsversorgung. Für die Dauer des Streiks wurde der Verkauf von Alkohol und der Alkoholkonsum durch Streikende verboten. Als sich der Streik in immer mehr Städte ausbreitete, kam das Land langsam zum Stillstand.

Dieser Streik bestätigte die dominante Rolle, die die Arbeiterklasse in Revolutionen spielt. Die ganze Gesellschaft war vom Geist der Demokratie infiziert. Unter Studierenden, KünstlerInnen, Journalisten, BäuerInnen, BüroarbeiterInnen, LehrerInnen und Intellektuellen blühten offene demokratische Debatten und Diskussionen. Alle Schichten der Gesellschaft wurden inspiriert und begannen ihre eigenen demokratischen Organisationen zu schaffen oder wandelten bestehende offizielle Gruppen und Vereine um.

Auf der anderen Seite war das Regime völlig isoliert, seine Macht hing am seidenen Faden. Es konnte keine Gewalt gegen die Streikenden einsetzen, weil es Zweifel an der Zuverlässigkeit des Militärs gab. Sogar die herrschende Polnische Vereinigte Arbeiterpartei (PZPR – die Kommunistische Partei in Polen) war infiziert, ihre Basismitglieder aus der Arbeiterklasse lösten sich von der Bürokratie. Ein Drittel der MKS-Mitglieder in Gdańsk waren Mitglieder der PZPR, ebenso wie die beiden Vizepräsidenten des MKS in Sczeczin. In vielen anderen Orten gehörten Parteimitglieder aus der Arbeiterklasse zur Führung oder ergriffen die Initiative zur Bildung eines MKS. Später traten über eine Million PZPR-Mitglieder aus der Arbeiterklasse in Solidarność ein!

Das Regime musste auf Zeit spielen und in Gdańsk mit dem MKS verhandeln. Am 31. August unterschrieb das Regime die 21 Forderungen – das Abkommen von Gdańsk. Der Streik war vorbei, und die Unabhängige Selbstverwaltete Gewerkschaft Solidarność war geboren. Aber das Abkommen war nur ein Teilsieg. Man hatte eine historische Möglichkeit verpasst, das Regime zu stürzen und eine gesunde, demokratische sozialistische Gesellschaft zu schaffen. Es fehlte eine revolutionäre Führung, die den ArbeiterInnen eine ehrliche Einschätzung der bevorstehenden Aufgaben gegeben und ihren Forderungen vollständig Ausdruck verliehen hätte.

Stattdessen hatten die Führungen des MKS in Gdańsk und von Solidarność – Lech Wałęsa, KOR-Intellektuelle und die „Berater“ von Solidarność – eine viel begrenztere Perspektive. Sie glaubten, dass sie im besten Fall ein Paar Reformen gewinnen könnten. Jacek Kuroń, einer der Führer des KOR, gab sogar zu dass er vor dem Abkommen von Gdańsk die Forderung nach freien Gewerkschaften für reine Verhandlungsmasse und nicht durchsetzbar gehalten hatte. Zu jeder Zeit spielte die Führung eine konservative Rolle, hielt die Bewegung zurück und blockierte radikalere Forderungen der ArbeiterInnen. Zum Beispiel lehnte sie Forderungen nach Abschaffung der „führenden Rolle“ der PZPR und nach freien Wahlen ab, sie wurden nicht in die 21 Forderungen aufgenommen. Nachdem sie das Abkommen unterzeichnet hatte reiste die Führung durchs Land , um die ArbeiterInnen zu überzeugen, ihre Streiks zu beenden. Die katholische Kirche spielte eine ähnlich konservative Rolle. Sie rief zur Mäßigung auf und sprach sich gegen Streiks aus um die Nachbarländer Polens nicht zu provozieren.

Trotz der Rolle der Führung wuchs Solidarność phänomenal. Zwei Wochen nach dem Abkommen hatte die Gewerkschaft 3,5 Millionen Mitglieder. Bis Herbst waren 8,5 Millionen ArbeiterInnen eingetreten, und binnen kurzer Zeit wurden 10 Millionen Mitglieder erreicht. Binnen Monaten wurde Solidarność zur mächtigsten Organisation Polens. Im ganzen Land zwangen Streiks hunderte von Bürokraten, Parteisekretären und Fabrikmanagern zum Rücktritt.

Die letzte Chance

Dann wurden im März 1981 Solidarność-AktivistInnen in Bydgoszcz nach einer Versammlung von der Polizei verprügelt. Das führte zu einem landesweiten Aufschrei und Solidarność organisierte einen vierstündigen Warnstreik, dem ein Generalstreik am 31. März folgen sollte. Wałęsa und die Kirche, darunter Kardinal Wyszyński und Papst Johannes Paul II., drängten Solidarność, den Streik abzusagen. Im letzten Moment erfüllte das Regime die Forderungen von Solidarność, die Verantwortlichen für die Übergriffe zu bestrafen und Solidarność auf dem Land anzuerkennen. Damit hatte Wałęsa einen Vorwand, den Generalstreik abzusagen.

So ging eine Möglichkeit verloren, die Bewegung auf eine höhere Ebene zu bringen und den Bestand des Regimes zu gefährden. Stattdessen geriet Solidarność in eine Krise, die inneren Widersprüche spitzten sich zu. Die Bürokratie bekam Luft zum Atmen, die sie voll nutzte. Sie sabotierte die Wirtschaft, um die Arbeiterklasse zu demoralisieren und Solidarność die Schuld in die Schuhe zu schieben. Viele Produkte wurden rationalisiert und man musste für Grundlebensmittel wie Zucker, Fleisch, Seife und sogar Klopapier lange anstehen.

Die Taktik des Regimes begann zu wirken. Es kam zu Demoralisierung und Frustration über die ineffektive Solidarność-Führung. Laut Kuroń ging in der ersten Jahreshälfte 1981 die Unterstützung für Solidarność von 60 auf 40% zurück.

Im September 1981 fand der erste und letzte Solidarność-Kongress statt. Es gab eine Opposition gegen die Führung und breite Unterstützung für die Idee der Arbeiterselbstverwaltung. Darin kam der instinktive Kampf der ArbeiterInnen für eine politische Revolution und der Wille, die Verwaltung der Gesellschaft und der Wirtschaft in die eigenen Hände zu nehmen zum Ausdruck. Leider wurden diese Ideen nicht in einem klaren Programm zum Ausdruck gebracht. Die Opposition innerhalb der Gewerkschaft war nicht organisiert oder vereint. Vor allem fehlte ihr eine Perspektive über die der Bewegung bevorstehenden Aufgaben. Obwohl der Kongress eine Resolution für Arbeiterselbstverwaltung verabschiedete, wurden Wałęsa und die Führung wiedergewählt. Die Politik der Kompromisse und der „Selbstbegrenzung“ („keine Intervention provozieren“) wurde fortgesetzt.

Der Kongress im September war die letzte Möglichkeit für Solidarność, den Kurs zu wechseln und die Bewegung wieder zu stärken. Nachdem diese Möglichkeit verpasst worden war, verschob sich das Kräftegleichgewicht zugunsten des Regimes. Die Bedingungen für die Niederschlagung der Bewegung waren erfüllt. Am 13. Dezember 1981 trat der militärische Flügel der Bürokratie in Aktion. General Wojciech Jaruzelski organisierte einen Militärputsch und rief das Kriegsrecht aus. Die Solidarność-Führung wurde verhaftet, ebenso wie tausende AktivistInnen. Sogar Gierek wurde interniet. Versammlungen wurden Verboten, eine Ausgangssperre wurde verhängt.

Das Kriegsrecht war ein Wendepunkt in der Entwicklung von Solidarność und der politischen Revolution. Die demokratischen Strukturen der Gewerkschaft waren zerstört. Alle FührerInnen, die der Verhaftung entgingen wurden in den Untergrund gezwungen. In dieser Situation konnte es keine demokratischen Debatten und keine Kontrolle der ArbeitervertreterInnen durch die Basis geben. Unter klandestinen Bedingungen konnten die FührerInnen jetzt ohne den Druck der Arbeiterklasse arbeiten.

Annäherung an den Kapitalismus

Zur gleichen Zeit vertiefte sich die Wirtschaftskrise. Die Masse der Bevölkerung litt unter dem Mangel an wichtigen Gütern, wachsenden Schlangen und starker Inflation. Obwohl es in vielen westlichen Ländern Massenarbeitslosigkeit und periodische Rezessionen gab, schienen die kapitalistischen Länder den polnischen ArbeiterInnen einen Hoffnungsschimmer zu bieten. Illusionen in den Markt und den Kapitalismus wurden gestärkt. Sogar die Bürokratie war davon betroffen. Sie hatte das Vertrauen auf die Planwirtschaft verloren und versuchte erfolglos, die Wirtschaft durch „Marktreformen“ wieder in Gang zu bringen.

1988 hatten die Führung von Solidarność und die Bürokratie in etwa die gleiche prokapitalistische Position, Solidarność war jetzt völlig von Intellektuellen und katholischen Beratern dominiert, Wałęsa hatte sich sehr weit nach rechts zu marktfreundlichen Positionen bewegt. Sie glaubten, dass weitreichende „Marktreformen“ und letztlich die Wiederherstellung des Kapitalismus die Lösung seien. Diese Maßnahmen mussten notwendigerweise mit starken Kürzungen des Lebensstandards verbunden sein, aber um diese durchzusetzen fehlte dem Regime die Legitimität. Gleichzeitig gab es eine Wiederbelebung von Solidarność, und die Zahl der Streiks stieg. Deshalb musste die Bürokratie Solidarność am Prozess beteiligen. Wenn Solidaność überzeugt werden könnte, die Maßnahmen zu unterstützen und die Verantwortung dafür mit zu übernehmen, könnte der Widerstand gegen die harte Kürzungspolitik klein gehalten werden.

Die Lösung waren Gespräche an so genannten „Runden Tischen“, um die Bedingungen für einen entsprechenden Deal auszuhandeln. Anders als im August 1980 fanden die wichtigen Diskussionen diesmal hinter verschlossenen Türen ohne Einflussmöglichkeit für die ArbeiterInnen statt. Die im Fernsehen übertragenen Teile der Diskussion waren nur Show. Im Gegenzug erstickten Wałęsa und andere FührerInnen die Streiks, die im ganzen Land begonnen hatten auszubrechen. Die Gespräche endeten mit einem Abkommen für teilweise freie Parlamentswahlen. Nur 35% der Abgeordneten im Sejm (Parlament) wurden gewählt, die übrigen Sitze waren für die PZPR und ihre Verbündeten reserviert.

Die Wahlen am 5. Juni 1989 waren für Solidarność ein vollkommener Sieg. Die KandidatInnen der Opposition gewannen alle zur Wahl stehenden Sitze bis auf einen, die Isolation und der Legitimitätsverlust des Regimes wurden offensichtlich. Einige Monate später bildete Solidarność eine Koalitionsregierung und begab sich auf den Weg der kapitalistischen Restauration, die in den folgenden 2 Jahren zu einem dramatischen Rückgang des BIP und einer Massenarbeitslosigkeit von über 20% führte.

Aber diese Niederlage für die Arbeiterklasse war nicht unvermeidbar. Einerseits trug Solidarność von Beginn an den Samen der Konterrevolution in sich, verkörpert in den Fehlern und dem Verrat der konservativen, reformistischen Führung. Andererseits enthielt Solidarność auch den Samen der politischen Revolution, mit der Organisationsform des MKS und den politischen Forderungen der Basis. Erst nach der Verhängung des Kriegsrechts, der Zerschlagung der demokratischen Arbeiterorganisationen und dem totalen Zusammenbruch der Wirtschaft gab es fruchtbaren Boden, auf dem der konterrevolutionäre Same wachsen konnte. Wenn es 1980 eine starke marxistische Opposition in Solidarność gegeben hätte, um die falsche Strategie der Führung zu bekämpfen und eine klare Alternative aufzuzeigen hätte die Arbeiterbewegung die stalinistische Bürokratie stürzen, eine gesunde demokratische sozialistische Gesellschaft aufbauen und den Gang der Geschichte verändern können.