Nach der Krise ist vor der Krise

Aussichten für Deutschland und die Weltwirtschaft


 

„Wodurch überwindet die Bourgeoisie die Krisen? Einerseits durch die erzwungene Vernichtung einer Masse von Produktivkräften; anderseits durch die Eroberung neuer Märkte und die gründlichere Ausbeutung alter Märkte. Wodurch also? Dadurch, dass sie allseitigere und gewaltigere Krisen vorbereitet und die Mittel, den Krisen vorzubeugen, vermindert.“

Karl Marx und Friedrich Engels 1848 im „Kommunistischen Manifest“

Kaum hat die deutsche Elite den Kater, den der schwindelerregende Wirtschaftseinbruch 2009 hervorrief, auskuriert, schon taumelt sie in ein neues, rauschendes Fest hinein. „Die deutsche Wirtschaft ist wieder in Partylaune“, schwärmte das Ifo-Institut im September 2010. Und gibt es nicht auch Anlass zur Freude? Das Bruttoinlandsprodukt stieg im abgelaufenen Jahr um 3,6 Prozent. Die meisten Konjunkturforscher prognostizieren für 2011 ebenfalls stattliche 2,3 oder 2,4 Prozent. „Die Schwarzmaler mit ihren Horrorszenarien hatten unrecht“, kommentierte Thomas Exner am 12. Januar auf „Welt Online“.

von Aron Amm

Wenn in den Chefetagen Champagnerkorken knallen, dann dürfen die Gewerkschaftsbürokraten am Katzentisch Platz nehmen. Da man selber noch nie dabei war, lässt sich nur mutmaßen. Dom Perignon von Moet & Chandon wird Berthold Huber und Co. sicherlich nicht in ihr Schälchen gegossen, aber ein Riesling von „Fürst von Metternich“ mag es schon sein. Doch die deutliche Petrolnote dieses Sekts soll ja nicht jedem bekommen. Offenbar ist sie auch DGB-Chef Michael Sommer zu Kopf gestiegen, der unlängst bereits vom „Beginn eines wirklich goldenen Jahrzehnts“ faselte.

Dagegen bleibt festzuhalten: Die jüngste ökonomische Talfahrt war die dramatischste seit 80 Jahren. Von Flensburg bis Freiburg sind nach Angaben des Statistischen Bundesamts heute erst wieder drei Viertel des Vor-Krisen-Niveaus erreicht.

Der US-Ökonom und New-York-Times-Kolumnist Paul Krugman erinnerte daran, welche Zerstörungsorgie dem Aufschwung nach der letzten vergleichbaren Weltwirtschaftskrise den Weg ebnete: „Wer einmal sehen will, welche Anforderungen erforderlich sind, um die Wirtschaft aus der Schuldenfalle zu befreien, der sollte das massive öffentliche Beschäftigungsprogramm betrachten, das die Große Depression beendete, besser bekannt unter dem Begriff Zweiter Weltkrieg“ (16. Februar 2009).

Alles in Butter?

Auf dem Höhepunkt der Krise zählte Deutschland 1,5 Millionen Kurzarbeiter. Die meisten von ihnen müssen heute nicht den Gang zur Arbeitsagentur antreten, viele sind gegenwärtig sogar mit Überstunden konfrontiert. 300.000 neue Arbeitsplätze prophezeit der Industrie- und Handelskammertag für 2011. Aber wer zu lange in die Sonne starrt, wird blind. Blind dafür, sich ein vollständiges Bild der Lage zu machen.

Dabei ist die Exportabhängigkeit evident. Nehmen wir das zweite Quartal 2010: Hier basierten zwei Drittel des Wachstums auf den Ausfuhren. In der Binnenwirtschaft waren es primär die Ausrüstungs- und Bauinvestitionen, die zu Buche schlugen. Und diese fußen auf den Konjunkturprogrammen, deren Gelder mittlerweile zu mehr als der Hälfte ausgegeben wurden.

Aber brummt nicht auch der Motor der globalen Wirtschaft wieder? Nachdem das Weltsozialprodukt 2010 um fünf Prozent zulegte, soll es auch in diesem Jahr um vier Prozent wachsen. Selbst Dr. Doom (Dr. Untergan), wie der New Yorker Wirtschaftsprofessor Nouriel Roubini bezeichnet wird, hat sich kürzlich für 5,5 Millionen Dollar ein neues Penthouse in Manhattan zugelegt und damit signalisiert: Die Immobilien- und Bankenkrise ist vorüber.

In der Tat hat sich die Ökonomie der Vereinigten Staaten ebenfalls leicht erholt. Eine Million neuer Jobs wurden geschaffen (nachdem man neun Millionen Stellen platt machte). Das Ganze wurde aber extrem teuer erkauft. Geschätzte 3,3 Billionen Dollar flossen in die US-Rettungspakete. Weltweit verschlangen staatliche Kapitalhilfen, Garantien und Konjunkturprogramme nach Berechnungen des SPIEGEL sogar 15 Billionen Dollar. Mehr als ein Viertel der gesamten Jahreswirtschaftsleistung auf dem Erdball! Da es größtenteils die öffentlichen Haushalte waren, die maroden Banken und Unternehmen unter die Arme griffen, weiteten sich die schon vor 2007 bestehenden staatlichen Schuldenberge in Schuldengebirge aus.

Damit ist die Finanz- und Wirtschaftskrise keineswegs überwunden, sondern nur in ein neues Stadium eingetreten, das Stadium der Staatsschuldenkrise. In einem Land nach dem anderen reagieren die Regierungen und Parlamente auf die aufgetürmten Defizite mit einer Welle von Kürzungsmaßnahmen. In der Folge könnte die ökonomische Erholung nicht nur schnell wieder an Kraft einbüßen, sondern gar in eine neue Rezession („Double Dip“) münden. Die Euro-Zone ist bereits einer Zerreißprobe ausgesetzt. Zudem heizte das Kapital, das aufgrund der Krise von Westeuropa und den USA in die „Schwellenländer“ (in Asien und Lateinamerika) verlagert wurde, die dortige Spekulation weiter an. Offen ist außerdem, wie sich die Wirtschaft in China (inzwischen nach den USA und vor Japan und Deutschland die größte Ökonomie) weiter entwickelt – auch dort liegen Sprengsätze, die jederzeit hochgehen können. Sollten sich diese Prozesse zum Teil oder komplett entfalten, würde die deutsche Wirtschaft unvermeidlich abschmieren. Gepaart mit „hausgemachten“ Problemen (Konsumschwäche und weiterhin angeschlagener Bankensektor) könnte die deutsche Arbeiterklasse schon bald in einen Strudel von Sozialkürzungen, Stellenstreichungen bis hin zu Betriebsschließungen geraten.

Der Kaiser ist nackt

Selbst die ernsthafteren Ökonomen im bürgerlichen Lager, wie Roubini, Krugman oder Joseph Stiglitz (die mehr oder weniger stark Anleihen bei John Maynard Keynes nehmen), beschränken ihre Krisenforschung auf die Aufblähung des Finanzsektors. Ohne Zweifel vollzogen sich hier atemberaubende Entwicklungen.

Beispiel Nr. 1: Waren die Volumen von Weltfinanzvermögen und Weltsozialprodukt 1980 noch fast identisch, so übertraf das Finanzvermögen das reale Sozialprodukt 2007, als die jüngste Weltwirtschaftskrise ihren Lauf nahm, beinahe um das Vierfache. In anderen Worten: Heute müsste die Weltbevölkerung vier Jahre arbeiten, um Güter und Dienstleistungen im Gegenwert des Finanzvermögens herzustellen.

Beispiel Nr. 2: Im gleichen Jahr, 2007, betrug der Tagesumsatz im globalen Devisenhandel 3,2 Billionen Dollar. Der weltweite Jahres-Export von Gütern und Dienstleistungen belief sich auf 14,4 Billionen Dollar. Folglich hätten knapp fünfeinhalb Tage Devisenhandel ausgereicht, um den internationalen Handel für das gesamte Jahr abzuwickeln. Laut International Financial Services ist der Rest von über 95 Prozent rein spekulativer Natur.

Trotzdem greift die Losung zu kurz, lediglich die Spielhölle des „Casino-Kapitalismus“ schließen zu müssen. Schon Karl Marx warnte während der großen Krise 1857 davor, die Symptome der Krankheit mit der Krankheit und ihren wahren Ursachen selber zu verwechseln: „Wenn die Spekulation gegen Ende einer bestimmten Handelsperiode als unmittelbarer Vorläufer des Zusammenbruchs auftritt, sollte man nicht vergessen, dass die Spekulation selbst in den vorausgegangenen Phasen der Periode erzeugt worden ist und daher ein Resultat und eine Erscheinung und nicht den letzten Grund und das Wesen darstellt. Die politischen Ökonomen, die vorgeben, die regelmäßigen Zuckungen von Industrie und Handel durch die Spekulation zu erklären, ähneln der jetzt ausgestorbenen Schule von Naturphilosophen, die das Fieber als den wahren Grund aller Krankheiten ansehen“ (Karl Marx in „Die Handelskrise in England“, 1857).

Zugegeben, anders als beim Einbruch vor 150 Jahren trat die Spekulation nicht nur „als unmittelbarer Vorläufer des Zusammenbruchs“ auf, sondern prägt die kapitalistische Weltwirtschaft seit über drei Jahrzehnten. Trotzdem haben auch heute die neuen Phänomene im Finanzsektor ihren Ursprung in der sogenannten Realwirtschaft. In der Wirtschaftskrise 1974/75 fand der Nachkriegsaufschwung sein Ende. Zwar war auch die Periode nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs in den marktwirtschaftlichen Staaten von Auf- und Abschwüngen gekennzeichnet. Allerdings ermöglichten besondere Faktoren einen bis Ende der sechziger Jahre anhaltenden Boom: In den USA erfreuten sich die Unternehmer dank des technologischen Vorsprungs steigender Profite, in Westeuropa und Japan begründeten die Niedriglöhne exorbitante Gewinne. In dem Maße, wie die USA ihre Vormachtstellung in Wissenschaft und Technik einbüßten und die westeuropäische und japanische Konkurrenz parallel dazu Lohnerhöhungen und sozialstaatliche Ausbauschritte zugestehen mussten, schmälerten sich diesseits und jenseits des Atlantik die Renditen. Die von Karl Marx analysierte langfristige Krisentendenz, der tendenzielle Fall der Profitrate, schlug durch: Verglichen mit dem Ende der fünfziger Jahre halbierte sich die Profitrate Anfang der Siebziger und kam mit einer strukturellen Überakkumulation von Kapital zusammen. Das Resultat waren Überproduktion und Überkapazitäten, sowie „akkumulierte“, angehäufte Geldmengen, die nicht gewinnbringend angelegt werden konnten. Seit diesem Zeitpunkt sind Arbeitslosigkeit, Verschuldung und ein Abbau der Produktionsstätten wieder Massenphänomene.

Aufgrund gesunkener profitabler Anlagemöglichkeiten in der Produktion setzten die Kapitalisten mehr und mehr auf den Finanzsektor sowie auf eine ausgedehntere Internationalisierung von Produktion und Handel, eine verstärkte globale Arbeitsteilung und Privatisierungen. Die Öffnung Chinas für den kapitalistischen Markt und der Zusammenbruch des Ostblocks verstärkten den Prozess der neuerlichen kapitalistischen Globalisierung noch gewaltig.

Nachdem bis in die siebziger Jahre hinein keynesianische Ideen (nachfrageorientierte Politik und staatliche Interventionen in Krisenzeiten) im bürgerlichen Lager dominierten, wurde der Neoliberalismus in den letzten 30 Jahren zur bestimmenden Wirtschaftspolitik. Den Herrschenden gelang es, ihre Profitbedingungen wieder zu verbessern. Privatisierung, Deregulierung, Lohn- und Sozialkürzungen reduzierten jedoch die kaufkräftige Nachfrage erheblich. Das ging Hand in Hand mit einer immer abenteuerlicheren Finanzpolitik. Letztendlich wurden die Probleme, die zu den tiefen Rezessionen 1974/75 und 1980-82 führten, nicht gelöst, sondern verlagert. Die Folgen waren gigantische Überkapazitäten, Schulden und ein Konsumsektor, der sich seinen Anbietern gegenüber wie Treibsand verhält. Wie in anderen Perioden des Kapitalismus sind auch heute Überproduktion und Unterkonsumption zwei Seiten einer Medaille.

Die globale Rezession 1991-93 war vom Scheitern des Stalinismus überschattet gewesen, die Krise 2000/01 vom 11. September und (neben einer Steigerung der Rüstungsausgaben) von einer Tätigkeit im Finanzsektor, die an den Turmbau zu Babel erinnerte. Doch dieser Turm wuchs nicht in den Himmel, der Aufschwung war auf Pump finanziert. Das war so sichtbar wie die Nacktheit des Kaisers, aber wie in Hans Christian Andersens Märchen schwindelte man sich lange Zeit selber was vor und wollte daran glauben, dass der Kaiser tatsächlich neue Kleider trägt.

„Dieses Mal ist alles anders“

An der Wall Street soll die wirtschaftliche Entwicklung vor drei Jahren mit einem Börsianer verglichen worden sein, der vom Dach eines Wolkenkratzers springt und nach jedem Stock, an dem er vorbei segelt, zu sich sagt: „Bis jetzt ist alles glatt gegangen.“ Ein ähnlicher Gedanke taucht im Titel des vorletztes Jahr erschienenen Buches von Carmen Reinhart und Kenneth Rogoff auf: „Dieses Mal ist alles anders: Acht Jahrhunderte Finanzkrisen“. Aber im Kapitalismus muss jeder Boom irgendwann ein Ende finden, so wie ein morsch gewordenes Dach ab einem bestimmten Punkt einbrechen muss. Bis Sommer 2007 hieß es erneut: „Dieses Mal ist alles anders.“ Als es dann plötzlich auf dem US-Häusermarkt hoch her ging, stempelte man das Ganze noch als „Subprime-Krise“ ab (im Sektor für Hypothekenkredite niedrigerer Bonität war es zu einem erschreckenden Anstieg der Zahlungsausfälle gekommen). Da das aber direkt mit der Verweigerung vieler Banken verzahnt war, anderen Banken weiterhin zu den üblichen Konditionen Geld zu leihen und der Geldmarkt somit in Mitleidenschaft gezogen war, musste man schon bald von einer „Banken- und Finanzkrise“ sprechen, die mit der Pleite der – immerhin viertgrößten US-amerikanischen – Investmentbank Lehman Brothers im September 2008 ihren vorläufigen Höhepunkt erreichte und kurz darauf in eine Krise der „Realwirtschaft“ überging.

In einem Land nach dem anderen schauten die Kapitalistenklassen in einen Abgrund. Das Gespenst von einem „neuen 1929“ ging um. Damals reagierten die Regierungen mit Kahlschlag – in den USA unter Präsident Herbert Hoover, in Deutschland unter Reichskanzler Heinrich Brüning. Damit schlug die Weltwirtschaftskrise in die „Große Depression“ um. Da 2008 bei den Herrschenden rasch die Angst umging, Geschichte könne sich wiederholen, versuchte man sich über Ländergrenzen hinweg abzustimmen und riesige Rettungsprogramme zu starten. Auf diese Weise konnte tatsächlich eine Depression abgewendet werden, wobei es dennoch zu einer „Großen Rezession“ kam. Um den galoppierenden Staatsschulden Herr zu werden, vollzogen die meisten Regierungen nun im letzten Jahr eine Kehrtwende und traten energisch auf das „Sparpedal“. Mit den Kürzungsplänen wird dem Konsum, der ohnehin auf tönernen Füßen steht, der Boden unter den unsicheren Füßen weggezogen. In Griechenland sinken die Einkommen offiziell um zehn Prozent, das Bruttoinlandsprodukt schrumpfte 2010 um vier Prozent und soll auch 2011 zurückgehen; auch Portugal soll – durch Gehaltskürzungen im Öffentlichen Dienst und einer Mehrwertsteuererhöhung auf 23 Prozent – in diesem Jahr erneut in die Rezession abrutschen; in Großbritannien werden Ausgabenkürzungen um 20 Prozent sowie die Streichung von 490.000 Stellen im öffentlichen Sektor den Konjunkturmotor abwürgen. Auch in weiteren Ländern droht ein neuer ökonomischer Einbruch, international ein „Double Dip“. Da viele Banken weiterhin nicht über den Berg sind, werden zudem Erinnerungen an 1931 wach. Seinerzeit eskalierte die Krise durch eine Serie von Bankenpleiten. In Deutschland geriet mit der Darmstädter und Nationalbank die zweitgrößte Bank des Landes ins Straucheln.

Ein im gleichen Jahr, 1931, angesetzter internationaler Wirtschaftsgipfel in London, platzte damals. Demgegenüber jagt heute ein Krisentreffen das nächste. Im Januar rollten die USA Hu Jintao, dem Präsidenten ihres Erzrivalen China, beim Staatsbesuch den roten Teppich aus (im Reich der Mitte gilt die Farbe Rot übrigens als Farbe, die böse Geister vertreibt). Allerdings bedeuten Arbeitsplatzabbau, Lohn- und Sozialkürzungen auch einen Einbruch der Inlandsnachfrage. Kein Wunder, dass man deshalb auf den Absatz im Ausland baut. Um die eigenen Waren zu verbilligen und den Export anzuheizen, wird nun versucht, die eigene Währung abzuwerten. Auf diesem Weg will man die eigenen Probleme „exportieren“. Da das aber von fast allen probiert wird, ist die Gefahr eines Währungskrieges real. Mehr noch: Ein Währungskrieg wäre nur die Vorstufe zu einem Handelskrieg. Noch gehen die heutigen protektionistischen Maßnahmen nicht so weit wie Anfang der dreißiger Jahre. Aber die Weichen sind gestellt. Und angesichts der heute noch stärkeren globalen Verflechtung sind die Folgen unkalkulierbar. Pascal Lamy, Chef der Welthandelsorganisation, fürchtet einen „Dominoeffekt“ nach dem Muster der Depressionsära.

Teil der Krise des Weltkapitalismus ist die Umweltkrise. Hier gilt mehr als in allen anderen Bereichen, dass das Kapital sie dadurch zu lösen sucht, in dem es „allseitigere und gewaltigere Krisen vorbereitet und die Mittel, den Krisen vorzubeugen, vermindert“. Schon zu Beginn der achtziger Jahre wurde der Kohlendioxidausstoß durch die Rettung von Chrysler in Form der Förderung von spritfressenden Geländewagen forciert. In den Jahren 2008 bis 2010 nun transferierte man mittels der staatlichen Konjunkturhilfen (ob Abwrackpämie oder Straßenbauprogramme) 250 Milliarden Euro an die Autoindustrie, den Straßenverkehr und die Luftfahrt.

Hundert Endspiele

So wie die Finanz- und Wirtschaftskrise auf das Ende des kapitalistischen Nachkriegsaufschwungs 1974/75 zurückgeht, so hat auch die Staatsschuldenkrise ihren Ausgangspunkt Mitte der siebziger Jahre. Zum damaligen Zeitpunkt belief sich das Defizit der Staaten Westeuropas und der USA im Schnitt auf 40 Prozent des Sozialprodukts. Seitdem haben sich diese Staatsschulden auf etwa 80 Prozent verdoppelt – um jetzt Gefahr zu laufen, komplett aus dem Ruder zu geraten (wie das bei Japan mit einer „Horror-Staatsverschuldung“, so DER SPIEGEL, von 200 Prozent bereits der Fall ist).

Vor genau einem Jahr wurde es für Griechenland schier unmöglich, sich auf dem Kapitalmarkt zu refinanzieren. Nach vielem Hin und Her stellten die Euro-Länder und der Internationale Währungsfonds (IWF) Kredite von insgesamt 110 Milliarden Euro bereit. Um andere Staaten und Investoren ein für alle Mal zu beruhigen, wurde im Mai 2010 der Rettungsschirm gespannt, der Hilfskredite und Kreditgarantien von 750 Milliarden Euro umfasst (440 Milliarden durch Euro-Länder, 60 Milliarden durch den EU-Haushalt und 250 Milliarden durch den IWF). Obwohl man damals behauptete, dieser Schirm sei so riesig, dass unter ihm jedes notleidende Euro-Land locker Platz hätte, kann es darunter schon bald zu eng werden. So schrieb Philip Plickert am 3. Januar in der FAZ: „Die Euro-Krise ist keineswegs ausgestanden. Nachdem schon Irland den großen Rettungsschirm beansprucht hat, dürfte Portugal diesen Schritt nicht mehr lange hinauszögern. Dann könnte das Misstrauen auch auf Spanien übergreifen. Dessen Schuldenstand ist zwar bislang noch recht niedrig, in einigen Banken lauern jedoch viele faule Kredite. In diesem Fall wären die Rettungskapazitäten weitgehend ausgeschöpft.“

Zwar gab es viel Beifall für Portugals erste erfolgreich aufgelegte Staatsanleihe von gut einer Milliarde Euro 2011. Der Rücktritt von Ministerpräsident José Sócrates und das Scheitern der Regierung Ende März 2011 drückt aber aus, dass dies keinen Ausweg aus der Krise bedeutete, sondern eine Selbsttäuschung war. Schließlich musste Portugal sich zu Zinsen knapp unterhalb der Angstschwelle von sieben Prozent verpflichten. Zudem muss das kleine Land allein in der ersten Jahreshälfte für weitere zwanzig Milliarden Euro Anleihen verkaufen. Vor allem spanische Banken stehen unter Druck, weil sie dem iberischen Nachbarn besonders viel Geld geliehen haben. Ins Schwitzen geraten die Kapitaleigner der viertgrößten Ökonomie der Euro-Zone auch aufgrund des eigenen bis Oktober fällig werdenden Finanzierungsbedarfs von 60 Milliarden Euro. Zumal der bisherige Fall der Häuserpreise von 20 Prozent als viel zu gering eingeschätzt wird und man eine Entwertung von 30 bis 50 Prozent erwartet. Vor diesem Hintergrund unkte Paul Krugman am 30. November 2010 in der International Herald Tribune: „Das Beste, was man über Iren zur Zeit sagen kann, ist, dass es so wenige sind. Allein für sich genommen wird Irland die Perspektiven Europas nicht allzu stark eintrüben können. Vergleichbares kann über Griechenland und Portugal gesagt werden. Doch dann gibt es da Spanien. All die anderen – das waren Tapas. Spanien wird das Hauptgericht.“

Derzeit zittern sich die Finanzmärkte von einer Anleiheemission, der Ausgabe von Staatsanleihen zur Finanzierung der Schulden, zur nächsten. Bis Jahresende „sind es mehr als hundert Termine für die bedrohten Staaten – lauter Endspiele“ (Stefan Ruhkamp in der FAZ vom 14. Januar). Wegen der sich eintrübenden Aussichten überlassen immer mehr Käufer Hedge-Fonds diesen Markt, die kurzfristiger investieren, Kursschwankungen ausnutzen und jede Anleiheauktion zu einer Zitterpartie werden lassen.

Die Streichkonzerte steigern die Verschuldung noch. Denn für diese ist der entscheidende Indikator der Anteil der öffentlichen Schulden am – durch den Kahlschlag rückläufigen! – Bruttoinlandsprodukt. In Griechenland geht man von einem Anstieg der Schulden von 143 Prozent 2010 auf 160 Prozent 2012 aus.

Aktuell dreht sich der Hauptstreit in der Euro-Zone um eine Ausweitung des Rettungsschirms. Da vom 440-Milliarden-starken Euro-Stabilitätsfonds (EFSF) nur 250 Milliarden Euro genutzt werden können, weil der Rest als Sicherheit dient, wird eine Erhöhung der Kreditgarantien diskutiert. Die schwächeren Staaten fordern auch eine „Euro-Anleihe“, die Bonitätsunterschiede nivellieren und somit Staaten wie Portugal entlasten könnte. Gegen beide Vorschläge stemmt sich die Bundesregierung bislang noch.

Es geht aber nicht nur darum, dass die Schuldenkrise im Euro-Raum ein Fass ohne Boden ist. Ein Risiko stellt nicht nur die Sicherstellung des Kreditbedarfs dar, sondern vor allem die Frage der Tilgung. Zu Recht meinte der Leiter des wissenschaftlichen Beirats des Bundesfinanzministeriums, Clemens Fuest, am 26. Januar im Deutschlandfunk: „Das Problem ist nicht, dass es nicht genug Kredite gäbe für Länder wie Griechenland oder Irland; das Problem ist, dass diese Länder so hoch verschuldet sind, dass sie ihre Kredite wahrscheinlich nicht mehr zurückzahlen können. Es geht also darum, dass jemand diesen Ländern entweder helfen muss, oder dass es einen Schuldenschnitt geben muss.“ Beides kann ein Scheitern der Euro-Zone herbeiführen.

Aufgrund des brisanten Zustands der Staatsschulden fürchtet die Financial Times Deutschland (FTD) schon „die nächste Weltfinanzkrise“ (5. Oktober 2010). Allerdings beschäftigte sich die FTD in der Analyse, in der sie zu diesem Schluss kam, nicht mit der Lage im Euro-Raum, sondern mit der Verschuldung der Kommunen und Bundesstaaten in den USA. So befand sich Ende letzten Jahres die Hauptstadt des Bundesstaates Pennsylvania, Harrisburg, vorm Bankrott. Hunderte mittelgroßer Städte geht es ähnlich. Befürchtet wird zudem die Insolvenz von Kalifornien und Illinois. Auch die US-Kommunen und Bundesstaaten sind zur Finanzierung ihrer Schulden auf festverzinsliche Anleihen – mit einem Gesamtvolumen von 2,8 Billionen Dollar – angewiesen. Da – erstmals seit der Großen Depression – mehr und mehr Kommunen den Zins- und Schuldendienst für ihre Anleihen nicht mehr bedienen können, kam es jetzt schon zu Ausfällen in Höhe von umgerechnet zwei Milliarden Euro. Die Analystin Meredith Whitney (die schon vor der Subprime-Krise gewarnt hatte) prognostizierte Mitte Januar im Wirtschaftssender CNBC Ausfälle im Volumen von Hunderten Milliarden Dollar. Seit über zwei Monaten ziehen Privatanleger stetig Geld aus den kommunalen Anleihefonds ab. Deshalb sind die Renditen bereits auf den höchsten Stand seit dem Höhepunkt der Finanzkrise geklettert.

Und jetzt auch noch Inflationsgefahren?

Kurz vor Beginn der Tarifrunden bei Telekom, Bau, Chemie, VW, Charite und den Landesbeschäftigten zetteln die deutschen Arbeitgeber eine Inflationsdebatte an. Ein Schelm, wer Böses dabei denkt. Dabei wird die These, Lohnerhöhungen seien Preistreiber, auch dann nicht wahrer, wenn sie immer wieder aufgewärmt wird. Schließlich geht es beim Lohnniveau immer um einen Verteilungskampf: Welcher Anteil des von der Arbeiterklasse geschaffenen Mehrwerts kommt den Lohnabhängigen zu Gute, welcher Anteil wandert in die Taschen der Kapitalisten?

Aufgrund der Vernichtung von Werten im Zuge der Weltwirtschaftskrise steht für die USA, die EU und andere Ökonomien bisher die Gefahr einer Deflationsspirale im Vordergrund. Das kann sich jedoch ändern, falls die wirtschaftliche Erholung weiter anhalten sollte und die Bürgerlichen (die in den besonders geschwächten, führenden Industrieländern die Zinssätze extrem niedrig halten, um Investitionen anzustoßen) nicht rechtzeitig umsteuern. Angst macht sich zudem breit, dass man die gestiegenen Rohstoff- und Lebensmittelpreise der sogenannten Schwellenländer „importiert“. Allerdings beläuft sich die Inflation in der Bundesrepublik aktuell auf etwa zwei Prozent. Damit ist man noch weit von den sieben Prozent entfernt, die die Preissteigerung in der Rezession Mitte der siebziger Jahre betrug, als Westdeutschland im Würgegriff von Stagnation und Inflation („Stagflation“) gefangen war.

Es kann jedoch niemand leugnen, dass die Rohölpreise international in den vergangenen zwölf Monaten um ein Drittel (auf hundert Dollar pro Barrel) in die Höhe geschnellt sind. Auch der Anstieg der Lebensmittelpreise ist in vielen Ländern fatal – und ein Auslöser für die revolutionären Kämpfe in Nordafrika. Für den Preisanstieg von Rohstoffen und Nahrungsmitteln ist eine Kombination von Faktoren ursächlich: die Nachfrage Chinas und anderer „Schwellenländer“, Umweltkatastrophen, vor allem aber auch die Spekulation – in der volatilen Finanzwelt wittern Investoren seit geraumer Zeit auf den Rohstoffmärkten neues gewinnbringendes Anlagepotenzial.

Auch die Katastrophe von Erdbeben, Tsunami und AKW-Desaster in Japan kann weitreichende Folgen für die Weltwirtschaft haben. Zwar gelten Wiederaufbauprogramme in der Regel als wachstumsfördernd. Allerdings hängt Japan die Staatsverschuldung von über 220 Prozent des BIP wie ein Mühlstein am Hals. Jetzt könnte die aufgrund der exorbitanten Schulden lange erwartete Abstufung der Kreditwürdigkeit eintreten. Unmittelbar bedeutet der katastrophenbedingte Produktionsstopp in vielen Fabriken das sichere Abrutschen in eine Rezession, da die drittgrößte Volkswirtschaft der Welt schon im letzten Quartal des Jahres 2010 schrumpfte. Zwar ist Japan ein Exportwirtschaft, aber solch ein Schlag für eine Ökonomie, die über acht Prozent der Weltwirtschaft ausmacht, muss zwangsläufig Spuren hinter lassen – zumal Japan Hersteller vieler Vorprodukte ist. Patrick Welter überschrieb seinen Kommentar in der FAZ vom 18. März mit den Worten: "Die Weltwirtschaft ist angeschlagen". Welter hält fest: "Das Tohoku-Erdbeben trifft die Weltwirtschaft in einer Zeit der Erholung, die schon durch Risiken bedroht war. Seit dem Frühjahr 2010 schwelt die europäische Schuldenkrise. Seit dem Herbst treibt der Aufschwung in den Schwellenländern die Öl- und Nahrungsmittelpreise in die Höhe." Nachdem der Ölpreisanstieg durch die Revolution im arabischen Raum bereits neue Nahrung erhielt, wird die Nuklearkatastrophe die Preise weiter in die Höhe schnellen lassen. Aber auch für die Euro-Länder kann die Krise Japans Folgen haben: Schließlich war Japan nach China bisher der zweitgrößte Abnehmer von Staatsanleihen – jetzt ist jedoch zu erwarten, dass Japan Staatsanleihen abstößt, da es mehr Liquidität benötigt.

Werden die Retter zur Last?

Nach zwei Zinserhöhungen in zwei Monaten kündigte China jetzt die dritte Erhöhung des Leitzinses an. Damit reagiert das Land auf die steigenden Nahrungsmittel- und Rohstoffpreise. Ähnlich sieht es in den sogenannten Schwellenländern Asiens und Lateinamerikas aus. Hier wirkt sich der Kapitalzustrom aus. Kapital, das wie ein „scheues Reh“ (so Marx) in den Epizentren der globalen Krise Ungemach witterte, wanderte in den vergangenen drei Jahren verstärkt dorthin ab. Das fördert inflationäre Tendenzen, nährt die schon vorher angeschwollenen spekulativen Blasen und wertet die Währungen auf.

Noch fungiert China als Lokomotive der Weltwirtschaft. So wuchs beispielsweise der Automarkt allein 2010 um fast ein Drittel auf 18 Millionen Fahrzeuge. Aber in dem Maße, wie die Schwierigkeiten der führenden Industriestaaten auch in China zum Tragen kommen, könnte der wichtigsten ökonomischen Lok ebenfalls der Dampf ausgehen. Zumal die Aktien- und Immobilienblasen Chinas längst umfangreicher sind, als sie in den USA vor Beginn der Talfahrt 2007 waren.

Die Zukunft Chinas steht und fällt mit dem weiteren Verlauf der Weltwirtschaft. Schließlich ist die chinesische Ökonomie einseitig auf den Export ausgerichtet. Auch wenn das Regime inzwischen laut darüber nachdenkt, umzusteuern, lässt sich die ökonomische Struktur nicht über Nacht komplett ändern. Während sich die Konsumquote in den USA auf 70 Prozent und selbst im exportabhängigen Deutschland auf 58 Prozent beläuft, sind es in China bloß 36 Prozent. Da so gut wie keine sozialen Sicherungssysteme existieren, sind chinesische Familien auch „zum Sparen verdammt“. Zudem sind die Gewinnmargen so knapp, dass die meisten Konzerne sich gegen Lohnerhöhungen, die dem Binnenmarkt helfen könnten, massiv widersetzen werden.

Aufgrund dieser einseitigen Ausrichtung auf die Ausfuhren sträubt sich China weiterhin gegen eine Aufwertung des – um bis zu 40 Prozent unterbewerteten – Renminbis. Lange profitierten sowohl China als auch die USA von ihrem „Gleichgewicht des Schreckens“: Die Nachfrage der USA kam China zu Gute, der Kauf von Dollar (Peking hält rund zwei Drittel seiner 2,7 Billionen Dollar Währungsreserven in US-Dollar und ein Drittel in Euro) finanzierte die US-Schulden. Da die Ausmaße der Staatsverschuldung und die anstehenden Kürzungen die USA, aber auch die EU-Staaten vermehrt zwingen, auf den Export zu setzen, wird sich der Trend zur Abwertung der eigenen Währung zwangsläufig verstärken. US-Präsident Obama hielt im Januar eine denkwürdige und bedenkliche „Rede an die Nation“. Kaum verklausuliert stellte er eine Strategie für mehr Konkurrenz in den Mittelpunkt. „Das ist der Sputnik-Moment unserer Generation“, sagte er an den Satelliten erinnernd, den die Sowjetunion 1957 in den All geschickt hatte, und der nicht nur den Anstoß für das amerikanische Mondprogramm, sondern auch für gewaltige Rüstungsausgaben gab. Für Obama ist China „die heutige Sowjetunion“, der Hauptgegner.

Deutschlands Export – Segen und Fluch

Der Deutsche Aktienindex (Dax) ging 2010 um fast 20 Prozent nach oben – damit ist der Rückschlag des Jahres 2008 beinahe – bis auf 1.000 Punkte – wieder ausgebügelt. Die Profite der Dax-Konzerne stiegen in den ersten neun Monaten des Vorjahres sogar um 73 Prozent.

Trotzdem titelt die FAZ in ihrer Beilage zu den Wirtschaftsaussichten 2011: „Aufschwung mit Gefahren“. Noch skeptischer klingt die Überschrift von Günther Lachmanns Artikel in „Welt Online“ vom 21. Januar: „Nach dem Aufschwung kommt der tiefe Absturz“. Da fragt man sich: Irgendetwas kann da nicht stimmen. Genau mit diesen Worten beginnt auch Lachmanns Beitrag.

Was ist da los? Auf der einen Seite gelang es der deutschen Kapitalistenklasse vor zehn Jahren, mit der Schaffung der Euro-Zone einen von ihr beherrschten Wirtschaftsraum als konkurrierenden Block gegen Nordamerika, China und Japan zu realisieren. Damit verknüpft konnte sie ihre Wettbewerbsfähigkeit deutlich verbessern. Die Agenda 2010 war das Startsignal. Spanien zum Beispiel probiert jetzt, mitten in der Krise, ihre Version einer Agenda 2010 zu verwirklichen. So konnte die deutsche Industrie ihre Stellung halten. Seit der Jahrtausendwende stieg ihr Anteil an der Bruttowertschöpfung sogar leicht von 22 auf 24 Prozent des BIP. Demgegenüber trägt das verarbeitende Gewerbe in den USA und in Großbritannien nur noch 13 Prozent zum Sozialprodukt bei. In beiden Staaten verdoppelte sich der Finanzsektor innerhalb einer Generation auf acht Prozent des Bruttoinlandsprodukts; in Deutschland macht der Anteil von Banken und Versicherungen knapp fünf Prozent des BIP aus.

Das hat zur Folge, dass die deutsche Wirtschaft auf Gedeih und Verderb vom Zustand der Weltwirtschaft abhängig ist. Der ökonomische Einbruch 2009 ließ Deutschland mit einem Minus von fast fünf Prozent besonders stark in die Misere stürzen. Von der internationalen Erholung wiederum konnte die BRD überdurchschnittlich profitieren. Extrem sind die Ausschläge beim Export: Während die Ausfuhren 2009 um etwa 15 Prozent einbrachen, legten sie 2010 um eine ähnliche Größenordnung zu. Da die Staatsverschuldung mächtig wächst, die Kürzungsorgien den Konsum amputieren und die Lage der Weltwirtschaft heikel bleibt, klaffen die Prognosen für Deutschland so beachtlich auseinander.

Niedriglöhne und Verarmung in Deutschland

Könnte es der deutschen Bourgeoisie nicht gelingen, den Binnenmarkt zu stabilisieren und somit ein zweites Standbein zusätzlich zum Export zu kreieren?

Zwar stieg 2010 auch die Binnennachfrage. Der Zuwachs konzentrierte sich jedoch maßgeblich auf die staatliche Nachfrage – stimuliert durch die Konjunkturprogramme, die allmählich auslaufen. Der private Konsum wuchs um lediglich 0,5 Prozent. Aufgrund der unsicheren Verhältnisse – nach den Monaten der Kurzarbeit – bleibt die arbeitende Bevölkerung vorsichtig. Vor allem aber kommt die Umverteilungspolitik der letzten Dekade zum Tragen. Zwar konnte sich die Bundesrepublik auf der Rangliste des World Economic Forum (WEF) auf Platz fünf vorschieben. Die andere Seite der Medaille ist aber eine beispiellose Umverteilung von unten nach ganz oben. Seit dem Regierungsantritt vom Schröder-Kabinett 1998 haben die Steuervergünstigungen für Unternehmen und Vermögende zu jährlichen Mindereinnahmen des Staates von hundert Milliarden Euro geführt. Die Reallöhne sanken zwischen 2000 und 2008 um 7,2 Prozent. Die Lohnquote – der Anteil der Löhne am Volkseinkommen – brach im gleichen Zeitraum von 72,2 auf 65,2 Prozent ein (Statistisches Bundesamt), ein Verteilungsverlust für die Beschäftigten von 596,8 Milliarden Euro in acht Jahren. Dazu kommen Privatisierungen, kommunale Kürzungen und „Reformen“ wie die Rente mit 67 oder die Kopfpauschale.

Aber hat die Zahl der Erwerbstätigen 2010 mit knapp 40,5 Millionen nicht eine neue Rekordmarke erreicht, sank die Arbeitslosenzahl nicht auf 2,9 Millionen? Es ist ein offenes Geheimnis, dass die Arbeitslosigkeit in Wahrheit mehr als doppelt so hoch liegt – würde man alle berücksichtigen, die in irgendwelchen „Maßnahmen“ geparkt oder inzwischen aus der Statistik rausgerechnet werden (wie zum Beispiel die über 58-jährigen Erwerbslosen). Betrachtet man das gesamte Arbeitsvolumen, kommt man der Wahrheit schon näher. In der Folge von Flexibilisierung, Teilzeitarbeit und Leiharbeit forciert sich der Rückgang der real geleisteten Arbeitsstunden: von fast 60 Milliarden Stunden 1991 auf etwa 57,4 Milliarden 2010. Würde man das Arbeitsvolumen auf Vollzeitstellen umrechnen, würde sich ein Verlust von 1,8 Millionen Erwerbsverhältnissen ergeben.

Was boomt, ist der Niedriglohnsektor: Der Kreis der Personen, der in Billigjobs steckt, nahm zwischen 1998 und 2008 um 2,3 Millionen auf 6,6 Millionen zu. Die Zahl der Leiharbeiter betrug 2008 fast 800.000, ging im Folgejahr auf etwa 600.000 zurück und schnellte 2010 auf 923.000 in die Höhe (laut IG Metall).

Natürlich ist die Konsumbereitschaft nicht nur vom aktuellen Zustand der Konten und Portemonnaies abhängig. Denkbar wäre auch eine Steigerung der Verbrauchertätigkeit auf Pump. Das traf auf Millionen US-Arbeiterfamilien im letzten Aufschwung zu. Nach den vergangenen turbulenten Jahren wird sich die Risikobereitschaft der deutschen Arbeiterklasse jedoch in Grenzen halten.

Die Achillesferse von Europas Bankensektor

Während die Unternehmer und Politiker hierzulande suggerieren, dass Deutschland seine Hausaufgaben machen würde und nur durch Versäumnisse im Ausland gefährdet sei, schrieb John Plender am 8. September in der Financial Times: „In Wirklichkeit stellen die deutschen Banken die Achillesferse im europäischen Bankensystem dar. Sie sind ernsthaft unterkapitalisiert.“ Selbst Jürgen Stark, das deutsche Mitglied im Vorstand der Europäischen Zentralbank (EZB), musste eingestehen, dass alle deutschen Finanzhäuser Wackelkandidaten sind. Für eine ausreichende Kapitaldecke müssten allein die zehn größten deutschen Banken geschätzte 105 Milliarden Euro zusätzliches Kapital aufnehmen.

In einer Zwischenbilanz der Bankenrettung vom 29. Dezember fasst die FAZ die größten für Banken aufgebrachten staatlichen Summen zusammen: „21 Milliarden Euro für die Landesbanken. 18 Milliarden Euro für die Commerzbank. Zehn Milliarden Euro für die Hypo Real Estate. Die Bankenrettung ist dem deutschen Steuerzahler teuer zu stehen gekommen.“

Und was ist mit den Rettungsaktionen auf Euro-Ebene? Bei den Hilfen für Irland geht es nicht zuletzt um Hilfen für deutsche Banken. Schließlich halten die deutschen Finanzhäuser nach den britischen Geldinstituten mit 150 Milliarden Euro die zweithöchsten Forderungen. Die Forderungen deutscher Banken gegen Spanien sind sogar nochmal um ein Viertel höher.

Dieses Jahr wird für die deutschen Banken eine Rekordsumme von 340 Milliarden Euro fällig, um alte und neue Schulden zu finanzieren. Angesichts der ungelösten Schuldenprobleme auf europäischer Ebene kein leichtes Unterfangen.

Die Bundesrepublik und der Euro

Wenn Horst Seehofer (CSU) uns in einer seiner Aschermittwoch-Reden die Welt erklärt, dann ist die Bundesrepublik der „Zahlmeister“ Europas. In Wahrheit gleicht der deutsche Imperialismus in den wirtschaftlich stürmischen Zeiten aber keinem Fels in der Brandung, sondern stellt vielmehr eine Kraft dar, die dafür verantwortlich ist, dass andere Ökonomien sich gegenwärtig vorkommen wie in Seenot geratene Schiffe. So konnte die deutsche Unternehmerriege andere Volkswirtschaften nicht nur dank hoher Arbeitsproduktivität, sinkender Reallöhne und Agenda 2010 niederkonkurrieren. Ihnen gelang es auch, die Euro-Zone nach ihren Vorstellungen zu konstruieren. Lange Zeit war gerade die deutsche Bourgeoisie die treibende Kraft bei diesem Projekt gewesen. Es darf nicht unterschätzt werden, welchen Wert diese Währungsunion für das Kapital hierzulande in den letzten Jahren hatte.

Die US-Imperialisten waren lange erpicht, sich mit der NAFTA einen von ihnen beherrschten Handelsblock zu schaffen, führende kapitalistische Staaten im asiatischen Raum hatten in Bezug auf die ASEAN-Zone die selbe Intention. Dank einer gemeinsamen Währung für 17 Staaten Europas sind die deutschen Imperialisten sehr weit mit ihrem Vorhaben gekommen, sich unter ihrer Führung (vor Frankreich) einen Wirtschaftsraum von 350 Millionen Menschen zu schaffen. Die Exportmacht konnte ihre Position ausbauen, da 40 Prozent der deutschen Ausfuhren in die EU gehen. Berlin und Frankfurt am Main bekamen großen Einfluss auf die Zinssätze der Europäischen Zentralbank (EZB); die schwächeren Ökonomien waren der Möglichkeit beraubt, durch Währungsabwertungen ihre Wettbewerbsfähigkeit zu stärken. Durch den Wegfall des Devisenumtausches zwischen den Euro-Ländern konnten grenzüberschreitend tätige Konzerne viel Geld sparen.

Die deutsche Wirtschaft ist also nicht zur Geisel „fauler Griechen“ und „kurzsichtiger Iren“ geworden, sondern hat erheblichen Anteil an dem heutigen Dilemma im Euro-Raum – in dem frühere ökonomische Ungleichgewichte und Abhängigkeiten noch intensiviert wurden. Und die bisherigen Rettungspakete sollten vor allem auch deutsche Banken rausboxen.

Allerdings drohen die Vorteile des Euro für das deutsche Kapital in Nachteile umzuschlagen. So muss die EZB mehr und mehr Rücksicht auf die in der Rezession gefangenen Länder wie Griechenland, Irland oder Portugal nehmen und sieht sich gezwungen, die Zinssätze auf niedrigem Niveau zu belassen – da so Investitionen günstiger sind und diese Ökonomien dadurch gestützt werden (während die deutsche Wirtschaft sich um Kapitalabzug und Inflation Sorgen macht). Und die Kuh, die von Berlin aus in rücksichtslosester Weise gemolken wird (bisher profitieren deutsche Kapitaleigner ja sogar von den Rettungsaktionen, da sie keine Geschenke, sondern mit hohen Auflagen verbundene Darlehen bedeuten), liefert womöglich schon bald keine Milch mehr, weil sie am Verrecken ist. In jedem Fall wird es teuer für die deutsche Wirtschaft: Entweder (wie der Berkeley-Professor Barry Eichengreen meinte) lassen sie sich auf Euro-Anleihen ein beziehungsweise erlassen Staaten wie Griechenland einen Teil der Schulden oder aber sie kriegen gar nichts, weil Griechenland, Irland oder sogar Spanien Insolvenz anmelden. Das würde auch den Anfang vom Ende des Euro markieren.

Nouriel Roubini verwies im SPIEGEL-Interview 2/2011 richtigerweise auf einen deutlichen Unterschied zwischen den USA und der Euro-Zone (die wegen des Zusammenschlusses von weiterhin miteinander konkurrierender Nationalstaaten eben besonders anfällig ist): „Selbst wenn Kalifornien pleite ist, glaubt niemand, dass die US-Währungsunion deshalb zerbrechen würde. Die Schuldenprobleme Griechenlands und Irlands können dagegen tatsächlich zu einem Zusammenbruch der Euro-Zone führen.“

So verwundert auch nicht, dass auf den Finanzmärkten plötzlich für die Bundesrepublik das Spitzenrating von AAA in Frage gestellt wird. „Den Bürgen sollst du würgen.“ Das zeigen die Staaten-Versicherungsprämien an. Die Kreditausfallversicherungen (CDS), mit denen sich Marktteilnehmer gegen einen Zahlungsausfall Deutschlands absichern, sind seit Ende Oktober 2010 um hundert Prozent in die Höhe geschossen!

Soziale Unruhen

„Die Krise frisst sich seit Herbst 2007 durch das Gebälk der Weltwirtschaft. Kaum konnte eine Feuerstelle unter Einsatz von Hunderten Milliarden Dollar gelöscht werden, gibt es einen neuen Brandherd. Auf die Immobilienkrise folgte der Crash bei den privaten Banken. Folgte die Krise der Realwirtschaft. Folgt die Staaten-Krise (Griechenland, Irland, Spanien; demnächst Italien und Belgien). Dürfte folgen ein Euro-Crash. Droht zu folgen die Krise des Weltwährungssystems. Womit eine Wiederkehr der Krise der Realwirtschaft kommen kann. Global Double Dip“ (Winfried Wolf in „Lunapark21“, Heft Nr. 12, Winter 2010).

Natürlich ist ein „Double Dip“ nicht zwangsläufig. Zwar wachsen die Gefahren, dass die Kapitalisten nun doch die Fehler wiederholen, die sie vor drei Jahre vermeiden wollten, und sich Parallelen zu den Depressionsjahren der Dreißiger auftun: Kürzungsorgien Brüningschen Ausmaßes, Bankenpleiten wie 1931, ein Währungskrieg, der in einen Handelskrieg münden könnte. Möglich ist aber, dass die Euro-Krise gestreckt und Banken- und Staatsbankrotte weiter hinausgezögert werden. Auch die Krisenherde Chinas müssen dort nicht zwangsläufig zu einem Flächenbrand führen; das zeigen die Rettungsprogramme Pekings und ihre besonderen Effekte für die chinesische Wirtschaft und international an.

Da die deutsche Wirtschaft sich 2010 wieder berappelt hat und sich gerade in den letzten Monaten die Auftragslage aufhellte, könnte sich der Aufschwung noch in die zweite Jahreshälfte hinein fortsetzen. Wenn jedoch neue Erschütterungen in der Weltwirtschaft und im Euro-Raum eintreten, wird gerade Deutschland im Auge des Sturms sein. Da der Bankensektor fragil ist und auch hier die Staatsverschuldung über 80 Prozent des Bruttoinlandsprodukts beträgt, schrumpft der Spielraum für vergleichbare Krisenmaßnahmen wie 2008 (die Kurzarbeit kostete dem Staat zum Beispiel knapp zehn Milliarden Euro).

Zwar existiert in der Arbeiterklasse überhaupt keine Aufschwungseuphorie. Trotzdem herrscht in den Betrieben die Meinung vor, nochmal mit einem blauen Auge davon gekommen zu sein. Im Winter 2008 war intensiv über die Krise des Kapitalismus diskutiert worden, die Forderung nach Verstaatlichung der Banken kam auf. Das ebbte bald wieder ab. Viele denken mittlerweile, dass es sich mit der Finanz- und Wirtschaftskrise doch nur um einen „Betriebsunfall“ gehandelt haben mag. Wenn die Wirtschaft aber erneut abschmiert, Banken vor dem Aus stehen und Entlassungen drohen, dann könnte die Stimmung hier rasch umschlagen. Trotzki hat einmal betont, dass nicht Aufschwung oder Krise, sondern vor allem das Auf und Ab, abrupte Veränderungen, radikalisieren. Die von den Herrschenden vor zwei Jahren in Deutschland befürchteten „sozialen Unruhen“ könnten Gestalt annehmen.

Die Weltwirtschaftskrise Mitte der siebziger Jahre ging einher mit Revolutionen in Angola , Portugal und Mosambik, die Diktaturen in Spanien und Griechenland und wurden gestürzt, in der Bundesrepublik erstreikte der Öffentliche Dienst eine elf prozentige Lohnerhöhung. Die internationale Rezession Ende der Siebziger ging Hand in Hand mit den Revolutionen in Nicaragua und im Iran, in Frankreich versprachen sich viele französische ArbeiterInnen vom Wahlsieg der Sozialistischen und Kommunistischen Parteien eine Serie von Verstaatlichungen, massive Arbeitszeitverkürzungen bei vollem Lohn- und Personalausgleich und eine sozialistische Veränderung.

Heute sind wir – vor dem Hintergrund der globalen Krise des Kapitalismus – Zeuge vom Beginn der Revolutionen im Iran, in Tunesien und Ägypten. Soziale Unruhen werden aber nicht auf Länder in Nordafrika oder im Nahen Osten begrenzt bleiben. Die Massenbewegung im US-Bundesstaat Wisconsin gegen die Abschaffung der Verbindlichkeit von Tarifverträgen ist dafür ein Beispiel. So orakelt der US-Anlagemanager und Chef von Gerken Capital Associates, Lou Gerken: „Wir werden den Menschen Dinge wegnehmen, auf die sie seit 30 Jahren einen Anspruch haben. Das wird ihnen nicht gefallen. Es wird in den USA zu Unruhen, zu einem Bürgerkrieg, na ja, jedenfalls zu schweren Unruhen kommen.“