Was ist dran am "Aufschwung XL"?

Euro drohen neue Schwierigkeiten und Spannungen


 

Bundeswirtschaftsminister Rainer Brüderle (FDP) prahlt: „Wir erleben derzeit einen Aufschwung XL.“ Commerzbank-Chefvolkswirt Jörg Krämer schwärmt von einem „Sommermärchen“. Fakt ist, dass die Steigerung des Bruttoinlandsprodukts im zweiten Quartal um 2,2 Prozent im Vergleich zum Vorquartal das beste Quartalsergebnis seit 1990 ist. Fakt ist aber auch, dass diesem Ergebnis die tiefste Rezession in der Geschichte der Bundesrepublik vorausging (2009 schrumpfte die BRD-Wirtschaft um 4,7 Prozent). „Trotz des hohen Wachstums hat die deutsche Wirtschaft bislang erst 60 Prozent des Einbruchs wieder aufgeholt, der durch die Finanzkrise verursacht wurde“, muss Krämer von der Commerzbank eingestehen.

von Aron Amm, Berlin

Eine Fortdauer der aktuellen ökonomischen Erholung ist mehr als fraglich. Neben der Lageraufstockung nach der dramatischen Talfahrt basiert die Erholung der deutschen Wirtschaft maßgeblich auf der Nachfrage aus Nordamerika und vor allem Asien. Alles andere als eine stabile Grundlage für eine nachhaltige Boomphase.

In den USA ist der Wachstumsmotor schon wieder ins Stocken geraten, kaum dass er angekurbelt wurde. Die Arbeitslosigkeit steigt und steigt, hat offiziell die Marke von zehn Prozent erreicht und beläuft sich eigentlich, legt man EU-Maßstäbe an, auf das Doppelte! Angesichts der industriellen Demontage der letzten 30 Jahre und der beispiellosen Kreditaufblähung droht der größten Volkswirtschaft der Welt ein ähnliches Szenario wie dem von Japan nach 1990.

Und China konnte dieser Tage zwar die bisherige zweitgrößte Wirtschaftsmacht überrunden. Doch die Gefahr einer „Überhitzung“ (aufgrund der aufgebauten Überkapazitäten) und dem Platzen der gigantischen Spekulationsblase (die Wolfgang Münchau von der Financial Times Deutschland kürzlich mit der US-Blase 2006 verglich) nimmt alarmierend zu. Im Nachhinein betrachtet könnte Chinas vorläufiger größter ökonomischer Erfolg mit dem Vorabend seiner verheerendsten Wirtschaftskrise seit Jahrzehnten zusammentreffen.

Südeuropa von wirtschaftlicher Erholung abgekoppelt

Wegen seiner Exportabhängigkeit steht und fällt die Zukunft der deutschen Wirtschaft mit den Aussichten für die Weltwirtschaft im Allgemeinen – und der EU-Wirtschaft im Besonderen. Schließlich gehen zwei Drittel der BRD-Ausfuhren in andere Länder der Europäischen Union. Und hier fällt es den Regierenden erheblich schwerer, dem ökonomischen Verlauf ein „Sommermärchen“ anzudichten. In vielen wichtigen Ländern der Euro-Zone ist der Sommer vielmehr „ins Wasser gefallen“. Gerade auf Südeuropa trifft dies zu. So kommen Spanien, Portugal oder Italien kaum aus der Stagnation. Und Griechenland steckt weiter in der Rezession.

Streit um Euro-Zins

Kaum dass die Kapitalisten im Euro-Raum – nach der turbulentesten Krise der Gemeinschaftswährung seit ihrer Einführung – aufatmen konnten, sehen sie schon die nächsten Probleme auf sie zukommen. Denn die divergierenden Tendenzen der verschiedenen nationalen Wirtschaftsräume führen zu divergierenden Ansprüchen an die Geld- und Zinspolitik. Mehr und mehr müssen die Herrschenden in der Bundesrepublik eine Fortdauer der Niedrigzinspolitik als nicht förderlich empfinden – während die wirtschaftlich besonders angeschlagenen Staaten Südeuropas weiter auf extrem niedrige Zinssätze angewiesen sind, um zaudernden Investoren einen zusätzlichen Anreiz zu bieten. Entgegengesetzt verhielt es sich vor dem Crash in der Euro-Zone: Damals waren die von Deutschland und anderen gewünschten Niedrigzinsen der Europäischen Zentralbank Gift für Staaten wie Spanien oder Irland – da sie nur ihre stetig wachsenden Immobilienblasen nährten.

Zu Recht bezeichnete Holger Steltzner in der FAZ vom 21. August die derzeitige Ruhe an den Kapitalmärkten des Euro-Raums als „trügerisch“. Und warnte: „Noch bevor sich die Frage nach der Rückzahlung der Notkredite für Griechenland stellt, dürften die Spannungen im gemeinsamen Währungsgebiet wieder zunehmen. (…) Nun wird nach der Krise wegen der Wachstumsschwäche in der Peripherie des Euro-Raums der Einheitszins weiter niedrig gehalten, was die deutsche Wirtschaft übermäßig stimuliert. Das kann auf Dauer nicht gutgehen. Ein Zins für auseinanderstrebende nationale Wirtschaftsentwicklungen – das passt nicht.“

„Olivengürtel“ versus BRD und Co.

Fast ein Vierteljahr nach dem panikartigen Brüsseler Euro-Gipfel am 7. Mai trat der britische Historiker Peter Ludlow mit einer Studie an die Öffentlichkeit, in der er die erhitzten Debatten auf dem Gipfeltreffen fast minutiös widergibt. Diese Studie zeigt nicht nur auf, „dass sich auf der Sitzung Bundeskanzlerin Merkel durchsetzte“ (Nikolas Busse in der FAZ vom 29. Juli), sondern außerdem, dass die miteinander streitenden Kräfte größtenteils den gleichen Lagern zuzuordnen sind wie bei den sich heute abzeichnenden Spannungen. Auf der einen Seite stand damals der „Olivengürtel“, wie Ludlow die Südländer nannte (hier spielte sich der französische Präsident Nicolas Sarkozy als Hauptkontrahent von Angela Merkel auf), auf der anderen Seite die Bundesrepublik, die Niederlande oder Luxemburg.

Eine wesentliche Quelle für die mal latent, mal offener existierenden Konflikte unter den 16 Euro-Ländern stellen die strukturellen Ungleichgewichte in Wirtschaft und Handel dar. Zum einen auf den Export ausgerichtete Länder wie Deutschland, zum anderen die lange auf Pump ausgeweitete Konsumtätigkeit von Staaten wie Irland oder Spanien. Die grundlegend anderen ökonomischen Strukturen verhindern, dass die Bundesrepublik plötzlich einfach viel mehr importiert und andere über Nacht massiv die Warenausfuhr ankurbeln. Nicht zuletzt daraus resultieren die immer deutlicher zu Tage tretenden Auseinandersetzungen zwischen der deutschen und der französischen Regierung. Erinnert sei nur an den Vorwurf von Frankreichs Finanzministerin Christine Lagarde an die Adresse Deutschlands gerichtet, nicht genug für den Konsum zu tun.

In Aufschwungszeiten können die verschiedenen Länder eines gemeinsamen Währungsraums sich noch irgendwie zusammenraufen. In Zeiten wie diesen, die der US-Ökonom Paul Krugman als neue Depressionsära einstuft, bedeuten 16 unterschiedliche, in das Korsett einer einheitlichen Geld- und Zinspolitik eingeschnürte Volkswirtschaften eine perspektivisch immer unerträglichere Zerreißprobe.