Aufruhr in Stuttgart

Bürgerliche, kleinbürgerliche Rebellion oder Protest der arbeitenden Bevölkerung – was ist los im Ländle?


 

Vom Münchner „Merkur“ über den „Kölner Stadtanzeiger“ bis hin zu den „Lübecker Nachrichten“ – überall sorgt der Kampf um Stuttgart 21 dieser Tage für Schlagzeilen. Die FAZ widmete dem Widerstand gegen dieses Großprojekt drei ganze Zeitungsseiten innerhalb einer Woche. Tagesschau und heute-journal nehmen die Stuttgarter Demonstrationen regelmäßig in ihren Nachrichtenüberblick auf. Sogar der „Independent“ lässt Auslandskorrespondenten darüber schreiben. Warum diese Medienberichte? Was tut sich in der baden-württembergischen Landeshauptstadt?

von Aron Amm

„Einen derart intensiven Protestmarathon hat es in der Geschichte Stuttgarts noch nicht gegeben“, kommentierte Achim Wörner am 7. August in der Stuttgarter Zeitung. „Fast täglich und mit ungeahnter Verve deklamieren dieser Tage mal Hunderte, mal ein paar Tausend Bürger gegen Stuttgart 21. Bei manchen Reden scheint"s, als ginge es nicht um eine neue Zugstation, sondern um ein Atomkraftwerk mitten im Tal, nicht um die Zukunft der Stadt, sondern um Leben und Tod. Demokratisch legitimierte Gremien werden in eins gesetzt mit diktatorischen Regimen; der Bürgerchor singt Lieder des blutrünstigen Revolutionärs Jean-Paul Marat.“

Einen Samstag zuvor, am 31. Juli, schrieben Lena Bopp und Edo Reents in der FAZ von „frappierender Militanz“ und zogen Parallelen zur Hamburger Hafenstraße und zu Berlin-Kreuzberg. SPIEGEL ONLINE titelte: „Schwaben auf den Barrikaden.“

Werner Sauerborn von ver.di Stuttgart meint wiederum: „Es sind keine Kreuzberger Nächte in der Schwabenmetropole, es ist die Bürgergesellschaft, die da auf den Beinen ist“ (junge Welt vom 4. August). „De facto wird eine Verschlechterung des Bahnverkehrsangebots in Kauf genommen – und das für bis zu acht Milliarden Euro in Zeiten knapper Kassen. Das ist zu viel der Zumutung. Da rebelliert der Schwabe.“

Welchen Charakter also hat die Protestwelle? „Militanz“ – von sparsamen Schwaben, von der „Bürgergesellschaft“? Aber permanent, und zu Tausenden? Oder erfasst die Gegenwehr doch die Lohnabhängigen? Nur, wo sind dann die Gewerkschaften?

Wie sich der Protest Bahn gebrochen hat

Vor 16 Jahren fand sich in der Stuttgarter Zeitung ein Satz, dessen Tragweite damals den Wenigsten bewusst sein konnte: „Am Montag morgen um elf platzt die Bombe.“ In der Stuttgarter Zeitung vom 19. April 1994 war zu lesen, dass an jenem Montag morgen das Projekt Stuttgart 21 der Öffentlichkeit präsentiert wird. Anderthalb Jahre später war der Sack bereits zu, die Stuttgart-21-Mafia konnte einen wichtigen Erfolg verbuchen: Im November 1995 schlossen Bahn, Bund, Land und Stadt eine „Rahmenvereinbarung“, einen Knebelvertrag, ab, der einen Ausstieg schier unmöglich machen sollte (denn für diesen Fall müsste der „Schuldige“ dann für die entstehenden Verluste haften). Kaum jemand war darüber im Bilde, was sich damals abspielte. Die große Mehrheit der Bevölkerung hatte keine klare Vorstellung davon, was Stuttgart 21 bedeutete. Auf dieser Basis ergaben Umfragen seinerzeit eine Zwei-Drittel-Mehrheit für das Projekt.

Das hat sich inzwischen komplett gewandelt. Das ist maßgeblich auf die unermüdliche Aufklärungsarbeit der Stuttgart-21-Gegner der ersten Stunde zurückzuführen. Auch die Stuttgarter SAV lehnte das Projekt einschließlich der Hochgeschwindigkeitszugpläne von Anfang an ab und brachte bereits vor 14 Jahren eine 36 Seiten dicke Broschüre „Stoppt Stuttgart 21“ heraus. Laut Stuttgarter-Nachrichten-Umfrage vom April 2008 hielten sich Befürworter und GegnerInnen noch etwa die Wage, im November 2008 lehnten dann schon 64 Prozent der StuttgarterInnen dieses Projekt ab. Die Schwäbische Zeitung ermittelte erst kürzlich, dass heute nur noch acht Prozent die Tieferlegung des Hauptbahnhofs gut heißen. Auch in der Region wird mehrheitlich gegen den Hauptbahnhof im Untergrund opponiert.

Eine Zäsur bedeutete die Initiative für einen Bürgerentscheid. 2007 wurden dafür innerhalb mehrerer Wochen 67.000 Unterschriften gesammelt. In dieser Zeit begann ein kleiner Teil der Bevölkerung erstmals, den harten Kern der GegnerInnen aktiver zu unterstützen. Im Freundeskreis und in der Nachbarschaft wurde nach Unterschriften gefragt, in einigen Geschäften oder Kinos wurden Listen ausgelegt. Immer öfter war Stuttgart 21 Gegenstand der Diskussion. Im Oktober 2008 schlossen sich 4.000 Menschen als Kette um den Hauptbahnhof.

Im November 2009 wurden die Montagsdemonstrationen gegen Stuttgart 21 angeleiert. Das erste Mal kamen vier, das zweite Mal ein paar Dutzend, dann 250 Personen zusammen. Nach einigen Wochen weitete sich das auf 3.000 DemonstrantInnen oder besser gesagt Kundgebungs-Teilnehmer aus (denn demonstriert wurde nur selten, das Ganze dauerte auch oft nicht viel länger als eine halbe Stunde). Am 29. Januar protestierten Tausende gegen Bahn-Chef Grube. Als am 2. Februar 400 geladene Gäste im Bahnhof den Baubeginn vortäuschten, schallte ihnen aus 4.000 Kehlen „Lügenpack“ entgegen. Am 24. April fand eine große Protestaktion im Park statt. Von da an, bis Frühsommer 2010, tauchten immer mehr Anstecker, bedruckte Taschen und Materialien gegen Stuttgart 21 auf. Nach Montagsdemonstrationen wurde im Bus, in der Bahn über die Reden gesprochen. Tausende trugen sich bei den „Parkschützern“ ein (mittlerweile sind es 20.000 – davon ein Zehntel, die sich gegen das Abholzen der Schlossgarten-Bäume sogar anketten wollen). Zu einer Veranstaltung der LINKEN in Bad Cannstatt kamen im Mai 150 BesucherInnen.

Einen weiterer Höhepunkt stellte die überregionale Demonstration des Anti-Krisen-Bündnisses gegen die Rotstift-Politik der Bundesregierung am 12. Juni dar. Als der SPD-Landesvorsitzende Claus Schmiedel zur Rede ansetzte, ging er in einem ohrenbetäubenden Lärm unter – als Quittung für die SPD-Exekution von Stuttgart 21 (der SPDler Wolfgang Drexler erledigt als „Mister 21“ für OB Wolfgang Schuster und Co. die „Drecksarbeit“). Am 10. Juli kamen dann 20.000 Menschen zu der ersten landesweiten Protestdemonstration. Im Vorfeld waren eine halbe Million Flugblätter verteilt worden – was ein Licht darauf wirft, dass sich im Frühsommer bereits Hunderte von AktivistInnen für diesen Einsatz fanden.

Bauzaun errichtet – Ausnahmezustand in der City

Ursprünglich war der Abriss der Seitenflügel des Hauptbahnhofs für Spätherbst anvisiert worden. Allerdings dämmerte den Vandalen schon seit geraumer Zeit, dass sie damit nun offenbar Massenproteste in der Stadt auslösen könnten. Im Februar hatten sie den S-21-Gegnern bereits den Wind aus den Segeln nehmen wollen, als sie per Prellbock-Anhebung den scheinbaren Baubeginn inszenierten: „Seht her, Stuttgart 21 wird gebaut – jeglicher weiterer Protest ist verlorene Liebesmüh“. Damals hatten sie die Opposition jedoch in keiner Weise demoralisieren können. Ihre psychologische Kriegsführung schlug fehl. Jetzt also erhofften sie sich durch eine Vorverlegung des Abrisses in den August und damit in die Schulferien einen relativ ruhigen Baubeginn. Stattdessen provozierten sie eine neue, heftigere Form der Auseinandersetzung.

Am letzten Montag im Juli gab der Widerstand gegen Bahnchef Rüdiger Grube und die Stuttgart-21-Politiker einen eindrucksvollen Warnschuss ab. 55 S-21-Gegner besetzten während der Montagsdemonstration den Seitenflügel beim Nordausgang. Die Akteure stießen damit auf große Zustimmung bei der überwältigenden Mehrheit der DemonstrantInnen.

In der Nacht von Freitag, dem 30. auf Samstag, den 31. Juli wurde dann der Bauzaun beim Nordflügel hochgezogen. Seitdem ist Stuttgart kaum wieder zu erkennen. Der Widerstand konnte eine völlig neue Stufe erklimmen. Obwohl der Bauzaun in einer Nacht-und-Nebel-Aktion ohne jede Vorankündigung aufgestellt wurde, konnte der „Parkschützer“-Alarm binnen Stunden 5.000 Gegendemonstranten auf die Beine bringen. Nach Räumung der Sitzblockade wurden bis in die frühen Morgenstunden immer wieder Straßenkreuzungen blockiert. Am nächsten Tag zogen 3.000 Menschen ins Rathaus. Samstag und Sonntag Abend waren erneut Tausende auf der Straße, die Bannmeile des Landtags wurde gestürmt, mehrfach der Verkehr in der Innenstadt zum Erliegen gebracht. Die Polizei blieb bei alledem auf Abstand und stand höchstens Spalier. Mehr als 500 Menschen fanden sich Montag morgen um 6 Uhr beim Bauzaun ein, um einen möglichen Abrissbeginn aufzuhalten. Die darauf folgende Montagsdemonstration war mit 6.000 TeilnehmerInnen die bislang größte. Endlich ließ man es auch nicht bei einer Kundgebung bewenden – da die Organisatoren fürchten mussten, dass andernfalls ohne ihre Leitung Tausende spontan los gezogen wären. Obwohl 6.000 Menschen trotz strömendem Regen zur Projektstelle der Bahn marschierten, kam es nach Auflösung der offiziellen Demonstration erneut zu einer Verkehrsblockade und zu einem 1.000 TeilnehmerInnen starken, kämpferischen Demozug durch die Innenstadt, der schließlich in eine vorübergehende Bahnhofsbesetzung mündete. Eine treibende Kraft war, wie auch bei den vorhergehenden Spontandemos, die „Jugendoffensive gegen Stuttgart 21“, die von Mitgliedern der SAV und von Linksjugend ["solid] ins Leben gerufen worden war.

Seit jenem Wochenende ist die Stadt elektrisiert. Ständig kommen Menschen zur Rund-um-die-Uhr-Mahnwache, die seit der Bekanntgabe des Abrisses am 17. Juli im Einsatz ist. Jeden Tag laufen Aktionen, jede Nacht campieren S-21-Gegner in Schlafsäcken beim Bahnhof. Innerhalb weniger Tage wurde der Bauzaun mit unzähligen selbst gemalten Plakaten und Handzetteln geschmückt. Jeden Abend um 19 Uhr treffen sich in über 30 Stadtvierteln Menschen zum „Schwabenstreich“ – eine Minute Krachschlagen nach dem Vorbild Argentinien 2002. In Betrieben, Stadtteilen, Nachbarschaften ist Stuttgart 21 nunmehr Thema Nr. 1. Jeder zehnte läuft mit Button oder Aufkleber durch die Gegend. Manche begrüßen sich nicht mehr mit „Grüß Gott“, sondern mit „Oben bleiben“. Es gibt auch schon ein Widerstandsbier.

In der zweiten August-Woche kam es innerhalb von sieben Tagen zu drei Großdemonstrationen mit 10.000 und mehr Beteiligten. Das gab es in Stuttgart zum letzten Mal zu Beginn des Golfkrieges 1991, als binnen weniger Tage zwei Schülerstreiks und eine Protestdemo am Tag des Kriegsbeginns durchgeführt wurden. Die erste dieser drei Großdemos gegen Stuttgart 21 in einer knappen Woche fand am Samstag Abend, den 7. August statt. Über 16.000 Menschen zogen stundenlang durch die Innenstadt und besetzten nachts um halb elf nach offiziellem Demoende für eine halbe Stunde den kompletten Hauptbahnhof. Zwei Tage darauf erreichte die Montagsdemonstration mit 10.000 Menschen einen neuen Rekord. Am Freitag, den 13. August kulminierte die Wut in der bis jetzt größten Demonstration gegen Stuttgart 21: Über 20.000 Menschen beteiligten sich erst an einer Menschenkette um den Bahnhof, zogen dann in den Schlossgarten und marschierten anschließend zum Marktplatz vor dem Rathaus. Der Block von „Jugendoffensive“, der sich durch kämpferische Parolen und gegen Stuttgart-21-Mafia und Konzernherren gerichtete Megafon-Reden hervor tat, bekam erneut viel Zuspruch.

„Stuttgarter Appell“

In den Tagen nach Errichtung des Bauzauns, als die Proteste täglich zahlenmäßig zunahmen und eine Radikalisierung der Kampfformen einsetzte, gab es für einen Teil der S-21-Gegner und der Befürworter plötzlich einen gemeinsamen Nenner: die Angst vor der „Eskalation“. Ausgerechnet am Samstag, den 7. August – an dem Tag, an dem für den Abend eine erneute Steigerung erwartet wurde – fanden sich in der Stuttgarter Zeitung aus beiden Lagern Appelle zur „Besonnenheit“. So überschrieb das konservative Blatt seinen Kommentar mit den Worten: „Sehnsucht nach Frieden“. Darin wird der Hoffnung Ausdruck verliehen, dass „insgesamt – wie bisher – die gemäßigten, vernünftigen Kräfte unter den Gegnern und Kritikern die Oberhand behalten. Denn an Krawallen kann niemand gelegen sein.“

Ein ganz ähnlicher Ton wird in einer zeitgleich geschalteten Anzeige angeschlagen. In einem „Offenen Brief an die Befürworter und Gegner des Projekts“ heißt es, dass „die scheinbar unausweichlich eskalierende Konfrontation (…) in jüngster Zeit bedenkliche Dimensionen angenommen“ habe. „Weit entfernt von jedem demokratischen Konsens besteht die große Gefahr, dass diese Konfrontation auf Jahrzehnte hinaus die traditionell von Gemeinschaftssinn geprägte politische Kultur der Stadt Stuttgart und des Landes Baden-Württemberg nachhaltig schädigt.“ Und weiter heißt es in diesem „Stuttgarter Appell“, dem sich binnen einer Woche über 20.000 Menschen anschlossen: „Geht die Eskalation auf diese Weise weiter, wird es nur Verlierer geben.“ Zu den Unterzeichnern gehören einige Künstler, langjährige Politiker wie Peter Conradi (früherer SPD- Bundestagsabgeordneter) oder der ehemalige Daimler-Vorstandschef Edzard Reuter.

„ Stuttgart 21 entgleist die Stadt“, schrieb die Süddeutsche Zeitung. Die Stuttgarter Zeitung warnte vor einem „Riss“, der durch die „Schwabenmetropole“ gehen würde. Gemeinschaftssinn? Sozialer Friede? Mit diesen Worthülsen sollen all diejenigen eingelullt werden, die jahrein, jahraus Arbeitsverdichtung, Stellenabbau, Hartz IV, Bildungskahlschlag, Abbau demokratischer Rechte und und und einstecken mussten. Nein, von sozialem Frieden kann keine Rede sein. „Die da oben“ haben ständig das Kriegsbeil ausgegraben. Jetzt müssen sie in der Frage von Stuttgart 21 fürchten, dass „die da unten“ sich endlich einmal wirksam zur Wehr setzen.

Der „Stuttgarter Appell“ macht sich konkret für die Forderung nach einem „Moratorium“ stark und erneuert das Postulat nach einem „Volksentscheid“. Statt den Elan und die zunehmenden Selbstinitiativen aufzugreifen, um die Protestbewegung erfolgreich weiter aufzubauen, soll mittels eines Moratoriums der Widerstand ausgebremst werden. Statt das sich bietende Potenzial für Massenproteste zu nutzen, soll mittels eines Volksentscheids auf eine Individualisierung hinüber geleitet werden. Dabei zeigt sich in diesen Tagen ganz deutlich, welche Dynamik massenhafte Gegenwehr und welche Kraft das Gefühl der eigenen Stärke, kollektives Bewusstsein, haben.

Aufstand des Kleinbürgertums?

Noch sind die traditionellen Kampfmittel der Arbeiterbewegung für die meisten Montagsdemonstranten weit weg. Streiks gegen Stuttgart 21 werden nur bei wenigen als real durchführbar betrachtet. Die gegenwärtigen Kampfformen haben überwiegend kleinbürgerlichen Charakter – weil die führenden Kräfte der Bewegung bislang größtenteils aus dem Kleinbürgertum stammen. Allerdings ziehen diese inzwischen mehr und mehr in verschiedene Richtungen.

Auf der einen Seite steht das „Aktionsbündnis“ (die Initiative „Leben in Stuttgart“, der BUND und andere), dessen Protagonisten monatelang auf Kundgebungen und symbolischen Protest gesetzt haben. Frei nach dem Motto: „Das weiche Wasser bricht den Stein.“ Redner der Grünen, wie Cem Özdemir am 2. August, propagieren primär die Idee eines Moratoriums und machen Stimmung für einen Volksentscheid. Die Kreisvorsitzende der Grünen, die häufig die Montagsdemonstration moderiert, warnte am 9. August erstmals explizit davor, nach der Kundgebung eine Spontandemo zu starten (damit würde man sich angeblich nur dem schwarzen Block anschließen – der im Übrigen bislang noch von niemand gesichtet werden konnte).

Auf der anderen Seite haben sich die „Parkschützer“ enorme Anerkennung verschafft. Von ihnen ging die Besetzung des Nordflügels aus. Seit Monaten werben sie dafür, sich beim Abholzen der 280 Schlossgarten-Bäume anzuketten. Die „Parkschützer“ bauen auf aktive Blockadeaktionen gegen die Abrissarbeiten.

Während für die Grünen und relevante Akteure des Aktionsbündnisses oberstes Gebot bleibt, den Status Quo, die bestehenden Verhältnisse nicht zu gefährden, ist für die „Parkschützer“, jedenfalls für viele AktivistInnen, das Wichtigste, Stuttgart 21 real zu stoppen. Wenn dafür die Konfrontation mit dem Establishment eingegangen werden muss, ist das für sie in Kauf zu nehmen.

Die Spontandemos und Verkehrsblockaden in den ersten beiden Augustwochen können nicht hoch genug eingeschätzt werden. Zwar waren es mehrfach nur Hunderte beziehungsweise am Montag, den 2. August eintausend Menschen und bei den Besetzungsaktionen des Hauptbahnhofs und vor allem am Wochenende nach dem Aufstellen des Bauzauns sogar noch sehr viel mehr – aber in diesen Situationen, und auch bei kämpferischen Beiträgen auf den Demonstrationen, hatten sie die Sympathie beträchtlicher Teile der Demo- oder Kundgebungs-Teilnehmer. Diese Aktionen halfen der Bewegung, ein paar Schritte dahin zu machen, sich vom Einfluss der Grünen und anderer gemäßigter Kräfte zu befreien. Zudem konnte so darauf hingewiesen werden, dass es nötig und möglich ist, über symbolische Aktionen hinauszugehen und mittels massenhaften Blockaden den erforderlichen Konflikt mit dem bürgerlichen Establishment zu suchen.

Es ist kein Zufall, dass in dieser Phase verstärkt Aktionen wie Lichterketten oder Schweigemärsche vorgeschlagen oder auf den Weg gebracht werden. Damit soll eine weitere Radikalisierung der Kampfformen und Inhalte vereitelt werden.

Wer protestiert gegen Stuttgart 21?

„ Auf dem Bürgersteig stehen rüstige Senioren mit teuren Tourenrädern und Damen im Kostüm“, schildert die FAZ am 9. August die Lage am Bauzaun. „In diesem Staat helfen keine Demonstrationen mehr, da muss man schon Steine werfen“, doziert eine Rentnerin, die aussieht, als ob sie die Nachmittage gewöhnlich in den plüschigen Cafés am Schlossplatz verbringt.“ Natürlich sind auch betuchtere Personen unter den GegnerInnen, einige gehören definitiv zum bürgerlichen Lager. Das wird von den Medien allerdings enorm aufgebauscht. Herausgestellt wird die Empörung der gemäßigten Kräfte über Stuttgart 21.

Es ist auch keine Frage, dass bislang wenig Gewerkschaftsfahnen zu sehen sind und fast keine Gruppen von KollegInnen aus einer Belegschaft gemeinsam zur Montagsdemonstration kommen. Dennoch ist die soziale Zusammensetzung der Demonstrationen – im Gegensatz zu den Organisatoren – in ihrer Mehrheit nicht kleinbürgerlich.

In der Bundesrepublik gehören über 90 Prozent aller im erwerbsfähigen Alter heute zur Arbeiterklasse, zur Klasse der Lohnabhängigen. Allein deshalb müssen bei Protesten von 10.000, 20.000 und mehr auch Teile der arbeitenden Bevölkerung vertreten sein. Schon bei den Montagsdemonstrationen im letzten Halbjahr, vor dem Anschwellen der Proteste, waren viele Beschäftigte unter den TeilnehmerInnen. Weniger Metallarbeiter, vor allem LehrerInnen, Sozialarbeiter oder Angestellte waren anwesend.

Allerdings ist nicht nur Tom Adler (Stadtrat der LINKEN), sondern auch eine ganze Reihe anderer KollegInnen von Daimler zu den Demos gegen Stuttgart 21 gekommen. Beim Sommerfest der Daimler-„Alternative“ war Stuttgart 21 in aller Munde. In den vergangenen Wochen nahmen immer wieder die Behr-KollegInnen mit einem eigenen Transparent (das sich gegen die Schließung des Werks 8 in Feuerbach richtet) teil. Auch die Gewerkschaftslinke ist häufig mit einem eigenen Transparent sichtbar. Eine relevante Zahl langjähriger betrieblicher, gewerkschaftlicher AktivistInnen und der politischen Linken gehört seit Monaten zu den TeilnehmerInnen der Montagsdemos.

Der Mittelstand, das Kleinbürgertum ist in stabileren kapitalistischen Zeiten darauf aus, sich im bürgerlichen System einzurichten. Wenn der Kapitalismus aber in eine tiefe Krise gerät, können sie sich auch auf die Seite der Arbeiterklasse schlagen, wie das in der deutschen Novemberrevolution 1918/19 der Fall war (damals gehörte in Deutschland noch beinahe die Hälfte der Bevölkerung dem Kleinbürgertum an, während dieses seitdem extrem geschrumpft ist). Der russische Revolutionär Leo Trotzki verwies darauf, dass in Zeiten gesellschaftlicher Gärung oft das Kleinbürgertum zuerst erfasst wird – so wie ein Sturm zunächst die Zweige eines Baumes schwanken lässt, bevor der Stamm beeinträchtigt wird. Im Fall von Stuttgart 21 sind es nicht die Studierenden, auf die sich Trotzki im Wesentlichen bezog, sondern KünstlerInnen, kleine Selbstständige (Anwälte, Steuerberater oder andere), RentnerInnen, die in Rage darüber sind, wie von oben an solch einem Wahnsinnsprojekt unbeirrt festgehalten werden kann und nicht erkennen, dass dieser „Wahnsinn Methode hat“ (Shakespeare). Viele Azubis, ArbeiterInnen, Angestellte, einfache Beamte waren lange Zeit weniger entsetzt, weil sie weniger Illusionen in das bürgerliche Establishment haben. In jedem Fall kann sich der Ärger des Kleinbürgertums über Dinge, die in diesem System falsch laufen, auch auf die Arbeiterklasse ausweiten – ein Phänomen, das im Fall von Stuttgart 21 zu beobachten ist.

Zum ersten Mal auf einer Demo

Monatelang beschränkte sich der Kreis derjenigen, die Stuttgart 21 entschieden ablehnen und regelmäßig dagegen demonstrieren, auf wenige Tausend. Zwar steht schon lange eine große Mehrheit in Opposition zu dem Projekt. Aber die meisten befassten sich nicht intensiver damit und gingen davon aus, dass sowieso schon alles gelaufen ist. Das hat sich in den letzten zwei, drei Wochen dramatisch gewandelt.

Bei den Großdemos waren Tausende, die zum ersten Mal erschienen. Auch zu den Montagsdemonstrationen kommen jetzt ganz neue Leute. Bei der Demonstration am Samstag, den 7. August waren auch mehr MigrantInnen präsent (Stuttgart hat neben Frankfurt am Main den größten prozentualen Anteil Nichtdeutscher), die bislang kaum zu sehen waren. Aber vor allem hat die Zahl der Jugendlichen unter den Demoteilnehmern klar zugenommen – seit auch demonstriert und radikalere Kampfschritte gewagt werden.

Eine zentrale Aufgabe der Bewegung gegen Stuttgart 21 besteht derzeit darin, von Neuem die Argumente gegen dieses Projekt vorzubringen, klar und verständlich, um die Zehntausenden, die dem Ganzen lange skeptisch gegenüber standen, aber erst jetzt ein echtes Interesse daran haben, zu überzeugen. Denn seit ein paar Wochen diskutieren die Beschäftigten in den Krankenhäusern, in den Verwaltungen, bei den Autobauern mit enormen Interesse über den Widerstand. Tausende und Zehntausende überlegen inzwischen, sich dem Protest anzuschließen.

Gegen „die da oben“

Die Stuttgarter Zeitung urteilte in ihrem Kommentar vom 7. August, dass „all jene, die ihren Unmut artikulieren, offenkundig – und das vereint das Kollektiv – eine Wut gegen die da oben“ beschleicht. Das trifft den Nagel auf den Kopf. Eine Wut, die sich über eine lange Zeit angestaut hat, bricht sich nun an Hand von Stuttgart 21 Bahn.

Stuttgart ist die reichste Großstadt der Bundesrepublik, die Stadt mit den meisten Millionären. Die City hat die größte Ladendichte, immer schickere und teurere Boutiquen werden eröffnet. Während die „Wirtschaftswoche“ der Landeshauptstadt attestiert, „durch die Wirtschaftsfreundlichkeit der Stadtverwaltung zu überzeugen“, zählt die Stadt 40.000 Hartz-IV-Empfänger, jedes siebte Kind lebt in Armut. Bei einer Bürgerversammlung in Feuerbach klagten im Juli erzürnte Elternvertreter über abgestützte Fassaden und marode Fenster beim Leibnitz- und beim Neuen Gymnasium. Zudem „stinkt den Schülern und Eltern vor allem die Jahrzehnte alte Toilettenanlage in beiden Schulen“ (Stuttgarter Zeitung vom 20. Juli).

Gleichzeitig erfahren sie eine beispiellose Arroganz der Macht. So frotzelte Finanzbürgermeister Michael Föll (CDU) über Spar- beziehungsweise Kürzungsmaßnahmen im Juni 2009: „Das Schwarzbrot werden wir wohl auch künftig finanzieren können, doch auf die Sahnetörtchen müssen wir verzichten.“ Als durchsickerte, dass der gleiche Vize-OB Berater bei der mit dem Abriss des Nordflügels beauftragten Baufirma Wolff & Müller wurde, waren auf den Montagsdemonstrationen Schilder mit Sprüchen zu sehen wie: „Föllig korrupt“. Dieter Laube von den „Parkschützern“ wurde am 12. Juli in der Südwestpresse in Bezug auf Schuster, Föll und Drexler mit den Worten zitiert: „Hier denkt eine kleine Clique, ihr gehöre die Stadt.“

Es ist dieser lang angestaute Ärger über Bildungs- und Sozialabbau, über Korruption, über die Bereicherung der oberen Zehntausend, der beim Protest gegen Stuttgart 21 ein Ventil findet.

Die Radikalisierung in den Kampfformen (ob Nordflügel-Besetzung, Spontandemos oder Verkehrsblockaden) korrespondiert mit einer inhaltlichen Radikalisierung. Am 4. August veröffentlichte die Stuttgarter Zeitung in einem „Leserforum“ zwölf Beiträge zu Stuttgart 21 (von denen elf das Projekt nachdrücklich ablehnten). In einem war zu lesen: „Meine Wut – und die vieler anderer Menschen auch – steigt von Tag zu Tag ins Unermessliche.“ In weiteren Beiträgen wurde hinterfragt, ob der BRD-Staat tatsächlich neutral ist, oder ob er nicht dazu dient, dass die ökonomisch Mächtigen auch die politisch Mächtigen sind. So ist von der „Vermutung vieler Bürger“ die Rede, „dass die Verwaltungsgerichte in Baden-Württemberg eben nicht unabhängig sind“. Der nächste formulierte: „Wir leben in einer Scheindemokratie oder parlamentarischen Diktatur, was auf dasselbe hinauskommt.“ Und Dr. Markus Forst schrieb: „Da wurden also 200 Polizisten gegen gerade mal 100 Besetzer des Nordflügels des Bahnhofs eingesetzt. Also zwei Beamte pro Besetzer. Als ich das las, fragte ich mich kopfschüttelnd, wie eine derart überzogene Aktion wohl zustande gekommen sein mochte.“

Es sind viele Konflikte, die sich bei Stuttgart 21 bündeln: Demokratieabbau, Umweltzerstörung, Geld für die Tieferlegung des Bahnhofs statt für Schulen, Krankenhäuser, Arbeitsplätze… Als die „Jugendoffensive“ auf einer Demonstration skandierte: „Beim Zerstören sind sie fix, für die Bildung tun sie nix“, fragte eine jugendliche Demonstrantin ihre Freundin, was das denn mit Stuttgart 21 zu tun habe – und ließ es sich dann von dieser erklären.

Ignoranz der Gewerkschaftsspitzen

Stuttgart 21 rüttelt die arbeitende Bevölkerung in der Region auf. Tausende Beschäftigte sind derzeit mehr als einmal wöchentlich auf den Beinen – ohne dass die Gewerkschaftsführung sich engagiert. Jahrelang mussten KollegInnen die Erfahrung machen, dass die Gewerkschaftsoberen Hartz IV „begleiteten“ statt die Agenda 2010 zu bekämpfen; immer und immer wieder erlebten sie, dass ihre Führung den Angriffen von Regierung und Unternehmern nicht wirklich Paroli bot. Kein Wunder, dass viele KollegInnen jetzt auf die Montagsdemonstrationen gehen und ihre Gewerkschaftsfahnen zu Hause lassen. Das Versagen der Führung und die Rückschläge für die Arbeiterbewegung in den vergangenen 20 Jahren haben dazu beigetragen, dass sich ArbeiterInnen und Angestellte in einen Protest einreihen, der von kleinbürgerlichen Kräften initiiert wurde. Auf die Prozesse seit Anfang der neunziger Jahre ist es zurückzuführen, dass eine Bewegung entsteht, wie es sie in Stuttgart lange nicht gegeben hat, und die Gewerkschaften stehen nur am „Spielfeldrand“.

Der Kampf gegen Stuttgart 21 lässt bei einigen AktivistInnen Erinnerungen an frühere Großkonflikte wach werden – und gibt vielen neuen Mut und Zuversicht. So meinte ein langjähriger Betriebsrat von SKF: „Zum ersten Mal seit dem Kampf um die 35-Stunden-Woche in den Achtzigern sehe ich die Chance, dass wir wirklich was erreichen können.“ Immer wieder werden bei den Montagsdemos unter den TeilnehmerInnen Vergleiche zu den Kämpfen in Wackersdorf, Whyl und Boxberg gezogen.

Stuttgart 21 ist ein weiterer Beleg dafür, dass sich eine massenhafte Auseinandersetzung nicht nur an Brot-und-Butter-Fragen entzünden muss. Die Dreyfuß-Affäre in Frankreich in den neunziger Jahren des 19. Jahrhunderts, aber auch der Watergate-Skandal in den USA der 1970er erschütterten das herrschende System in seinen Grundfesten. Hätte es hier eine revolutionäre Massenkraft gegeben, wäre eine sozialistische Umwälzung möglich gewesen. Davon ist der Protest gegen Stuttgart 21 natürlich noch weit entfernt; trotzdem zeigt sich hier ebenfalls, dass nicht nur Entlassungswellen oder Betriebsschließungen, sondern auch ein besonders rücksichtsloses Vorgehen der Herrschenden breiten Unmut und Gegenwehr hervorrufen kann.

Aussichten und Aufgaben

Für die Drahtzieher von Stuttgart 21 geht es um viel. 100 Hektar Gleisfläche in bester Innenstadtlage eröffnen die Möglichkeit für Milliardenprofite. Zudem ist Stuttgart 21 kein ökologisches Projekt, sondern ein Vorhaben der Autolobby. Kein Wunder, dass die Bahn-Chefs Grube, Mehdorn und Dürr alle Vorstandsmitglieder von Daimler waren. Dass die lokalen Politiker einen gemeinsamen Pakt geschlossen haben und unerbittlich an Stuttgart 21 festhalten, hat auch viel damit zu tun, was die SAV in ihrer Broschüre von 1996 bereits aufzeigte: „Geld ist für Kommunalpolitiker natürlich leichter zu beschaffen, wenn Bund oder Land in ihrer Kommune größere Geldsummen ausgeben wollen. Motto: Besser bei uns Milliarden für sinnlose Prestigeprojekte ausgeben als nebenan das Geld für eine Verbesserung des öffentlichen Nahverkehrs oder Kindergartenplätze zu verwenden.“

Überall gibt es Vetternwirtschaft. Aber die Stuttgart-21-Mafia mit ihren Beziehungen in die Chefetagen von Daimler und großen Immobilienunternehmen, mit ihrem Draht zum Verband der deutschen Autoindustrie (dessen Vorsitzender der frühere Bundesverkehrsminister aus dem Ländle, Matthias Wissmann, ist), die „Maultaschen-Connection“ zu den „Größen“ der Politiker in Baden-Württemberg – diese Stuttgart-21-Mafia hat mehr Macht und Einfluss als der Kölner Klüngel oder die „Erbfreundschaften von Hannover“ (das Netzwerk von AWD-Gründer Carsten Maschmeyer und Anwalt Götz von Fromberg).

Natürlich ist es denkbar, dass die Bundesregierung oder andere Kräfte in der Bahn-Spitze aufgrund der exorbitanten Kosten dieses Projekt noch zu Fall bringen (sicherlich rumort es auch ordentlich hinter den Kulissen). Es ist wegen der Perspektiven für die Staatsverschuldung auch möglich, dass Stuttgart 21 nie zu Ende gebuddelt werden kann. Doch verlassen darf sich die Protestbewegung nicht darauf.

Jetzt gilt es, den Protest noch weiter zu stärken, vermehrt in die Betriebe und Stadtteile reinzuwirken, Gewerkschaften und LINKE unter Druck zu setzen, und – wie in den Materialien der SAV Stuttgart ausführlich dargestellt – auf Massenblockaden und Großdemonstrationen zu setzen. Nötig ist es, die Verbindung zum Kampf gegen das „Sparpaket“ von Merkel und Westerwelle zu ziehen. Außerdem kann sich die ökonomische Lage (letztes Jahr war die Rezession mit über sieben Prozent Wirtschaftseinbruch in Baden-Württemberg besonders verheerend) in einigen Monaten schon wieder erheblich verdüstern: wenn die Überkapazitäten und Spekulationsblasen in Asien zur Geltung kommen und die Binnennachfrage weitere schwach bleibt). Spätestens dann könnte die Idee eines regionalen Generalstreiks gegen Stuttgart 21 und gegen Arbeitsplatzabbau große Unterstützung finden. Die SAV argumentiert schon heute für die Notwendigkeit von Streiks gegen Stuttgart 21. Sollte es, wie in der „Jugendoffensive“ andiskutiert, nach den Ferien zu einem Schülerstreik gegen das Profit- und Prestigeprojekt kommen, ließe sich so die Frage von betrieblichen Arbeitsniederlegungen nochmal nachdrücklicher in die Diskussion bringen.