Nepal: Kapitalismus oder sozialistische Revolution!?

Am 10. April wurde in Nepal eine verfassungsgebende Versammlung gewählt, deren Mitglieder bis zur Vorlegung des Verfassungsentwurfs als Übergangsparlament fungieren. Dies markiert den vorläufigen Höhepunkt des Prozesses zur Abschaffung der Monarchie, der seit einem Massenaufstand 2006 unaufhaltsam war.


 

Welche Rolle werden die nepalesischen Maoisten [KPN (M)], die aufgrund ihrer Protagonistenrolle beim Widerstand gegen die Monarchie mit großem Abstand die meisten Abgeordneten in der Versammlung stellen, in der Umgestaltung des Landes spielen?

von Johannes Ullrich, Berlin

Das amtliche Endergebnis spricht eine deutliche Sprache: Die KPN (M) mit ihrem Führer Prachanda gewann 220 der 518 Sitze, die nachfolgende „Nepalesiche Kongreß“-Partei 110, die Marxistisch-Leninistische Partei KPN (ML) 103 und weitere Parteien 85 Mandate. Ein Schock war dies nicht nur für die lokalen kapitalistischen und feudalistischen Eliten, sondern auch für internationale Kreise wie die US-Botschafterin, welche den Maoisten Ergebnisse zwischen 8 und 10% vorhergesagt hatten. Was sind die Gründe für den deutlichen Wahlsieg der ehemaligen Guerillakämpfer?

Bürgerkrieg als letzte Option im Kampf gegen die Monarchie

Die erste Massenbewegung gegen die Monarchie hatte es 1990 gegeben. Ein landesweiter Aufstand zwang den damals regierenden Monarchen zu Zugeständnissen, und es wurde eine konstitutionelle Monarchie errichtet. Die beiden dominierenden Parteien in diesem System waren der „Nepalesische Kongress“ (NK) und die Kommunistische Partei (Vereinte Marxisten-Leninisten) (KPN-ML). Aber schon nach wenigen Jahren wurde deutlich, dass die nepalesischen Massen keine substantielle Verbesserung ihrer Lebensumständen erwarten konnten. Noch heute lebt über ein Drittel der Nepalesen von weniger als einem US-Dollar täglich! Aus dieser Einsicht heraus nahm die KPN (M) 1996 den bewaffneten Kampf auf. In den von ihnen eroberten Gebieten führte sie soziale Verbesserungen ein, darunter Landreformen, Maßnahmen gegen Frauenunterdrückung und Kampf gegen das religiöse Kastenwesen. Bis Anfang 2006 brachten die Maoisten über die Hälfte des Landes in ihre Kontrolle, und auch im Rest Nepals sprachen sich diese Maßnahmen herum.

Rechtsschwenk nach revolutionären Ereignissen 2006

Die Reaktion des Königs Gyanendra auf den Guerillakrieg war eine Verschärfung der Repression, die 2005 in der Ausrufung des Notstandes gipfelte. Seit diesem Zeitpunkt schaukelte sich der Widerstand der nepalesichen Massen immer weiter hoch, und im April 2006 gingen ein Generalstreik in der Hauptstadt Kathmandu und landesweite Aufstände Hand in Hand. Die etablierten Parteien wurden von der Eskalation überrascht. Auch die Maoisten waren auf diese revolutionären Ereignisse nicht vorbereitet und nutzten sie nicht, um sie zu einer erfolgreichen Revolution zu führen; sie konnten aber in der Folge, unter anderem durch die Organisierung von Massenkundgebungen im Mai, auch in den Städten eine gewisse Basis aufbauen und kontrollierten Anfang Juni 77 Prozent des Landes. Dann aber traten sie in ein Bündnis mit den herrschenden Klassen ein, welches den unmittelbaren Sturz der Monarchie verhinderte und die Verfassungsreformen auf den Weg brachte, die letztendlich zum Referendum vom 10. April diesen Jahres führten. Der Grund für diese Bremsung der revolutionären Bewegung war das Festhalten der Maoisten an der „Etappentheorie“ stalinistischer Prägung bzw. das fehlende Vertrauen in die Arbeiterklasse als Hauptakteur der sozialistischen Revolution.

Was ist Maosimus?

Kurz gesagt ist der Maoismus eine Variante des Stalinismus. Er verfolgt die Perspektive einer Revolution in zwei Etappen: erstens einer „demokratischen Etappe“ und zu einem späteren Zeitpunkt einer „sozialistischen Etappe“. Im Kampf für die „erste demokratische Etappe“ bemühen sich Maoisten um Bündnisse mit „fortschrittlichen“ und national-orientierten Flügeln der Bourgeoisie, der herrschenden kapitalistischen Klasse. Das gilt auch in den Fällen, in denen Maoisten einen auf die Bauernschaft gestützten bewaffneten Guerillakampf führen. Jedoch zeigt alle geschichtliche Erfahrung, dass die demokratischen und sozialistischen Aufgaben nicht zu trennen sind. Demokratische Errungenschaften können im Zeitalter des Imperialismus in Ländern wie Nepal nur als Teil des Kampfes für eine grundlegende Veränderung der Gesellschaft erreicht. Denn die Kapitalisten in solchen Ländern sind durch tausend Bande mit den Großgrundbesitzern verbunden und nicht bereit, einer wirklichen Landreform zuzustimmen. Sie sind darüber hinaus vom Imperialismus und vom ausländischen Kapital dominiert, die keine tatsächliche unabhängige und demokratische Selbstbestimmung zulassen.

Massenkämpfe für Landverteilung, tatsächliche nationale Unabhängigkeit und demokratische Rechte stoßen also früher oder später zwangsläufig auf den Widerstand der Kapitalisten und Großgrundbesitzer, die auch erkämpfte Errungenschaften wieder rückgängig machen können, wenn ihnen gestattet wird, an der Macht zu bleiben. In der Russischen Revolution von 1917 wurden die zentralen demokratischen Aufgaben, die nationale Befreiung und die Landreform, erst erreicht, als die Arbeiterklasse im Oktober die Macht eroberte.

Als Mao Zedong in den späten 40er Jahren die Macht ergriff, war er dazu gezwungen, seine ursprüngliche Perspektive von „50 Jahren Kapitalismus“ in China zu verwerfen. Die auf die Bauern gestützte Rote Armee marschierte in Chinas Städten ein und balancierte zwischen verschiedenen Teilen der Gesellschaft – Bauern, Arbeitern und Teilen der Kapitalisten – und machte schrittweise ein Ende mit Kapitalismus und Großgrundbesitz. Grund und Boden und der Großteil der Industrie wurden verstaatlicht, aber es wurde keine Arbeiterdemokratie eingeführt. Um an der Macht zu bleiben, erschuf Mao ein Regime nach dem Modell des stalinistischen Russlands.

Prachandas Bewegung hat Maos Kampf einer auf Bauern gestützten Guerilla-Armee zum Modell. Die KPN (M) war in der Lage, durch den Kampf gegen ein despotisches Regime und für demokratische Rechte und Landverteilung an die Bauern breite Unterstützung zu entwickeln. Prachandas Maoismus betont Nationalismus und das Bündnis mit den angeblich „fortschrittlichen“ Teilen der Bourgeoisie. Die Nepalesischen Maoisten betonen vor allem die demokratischen Ziele der Revolution. Das führende Mitglied des Zentralkomitees Dev Gurung wurde 2006 von der „Asia Times“ interviewt. Er „sagte, das Ziel seiner Partei sei es, aus Nepal eine demokratische und zivilisierte Gesellschaft zu machen. Diese solle Raum geben für alle ethnischen Minderheiten und regionalen Gruppen Nepals und, wenn nötig, eine föderale Struktur entwickeln. An der Regierung würde seine Partei eine Wirtschaftspolitik betreiben, die die derzeitige Subsistenzwirtschaft zu einer industrialisierten Ökonomie transformieren würde. Nepal dürfe nicht ein Gefangenenmarkt für indische Produkte bleiben. Gurung sagte, es sei absolut nicht wahr, dass seine Partei das Privateigentum an Grund und Boden und anderem Eigentum abschaffen wolle.“

Durch Wirtschaftsreformen zum Sozialismus?

Was also würde sich im Falle einer Regierungsübernahme der Maoisten ändern? Die Maoisten stellen sich eine Art nationale kapitalistische Entwicklung vor – und das in einer Situation, in der der indische und westliche Kapitalismus die Wirtschaft schon dominieren und ohne die Massen auf einen Kampf gegen den Kapitalismus vorzubereiten. In einer Regierung mit Parteien, die für ihre Zusammenarbeit mit dem Imperialismus bekannt sind, werden die Maoisten keine substanziellen Veränderungen durchsetzen können.

Führende Mitglieder der KPN (M) geben abstrakt-zurückhaltende Stellungnahmen zu Protokoll wie der zweite Mann der Partei, Baburam Battarai, in einem nach dem Wahlsieg geführten Interview mit einem indischen Journalisten: „Wir haben nicht genügend Ressourcen und Kenntnisse, um das Land in der Art und Weise zu reorganisieren, die wir uns wünschen würden. Wir werden wohl 10 bis 15 Jahre brauchen.“ Aber auch wenn Nepal natürlich ein Land mit einer kleinen Arbeiterklasse ist und die Massen keine Wunder erwarten – „10 bis 15 Jahre“ warten zu müssen, stellt in keinem Land einen erfolgreichen revolutionären Prozess in Aussicht. Die russische Revolution 1917 zeigte den Weg nach vorne für und durch die entscheidende Rolle des Proletariats. Als der Zar im Februar 1917 gestürzt wurde, war keine der demokratischen Aufgaben gelöst: Es hatte noch keine Landreform gegeben, Russlands Beteiligung am Weltkrieg mit all seinen Leiden ging weiter, und die Unterdrückung nationaler Minderheiten wurde sogar noch verschärft. Lenin und Trotzki, die führenden Bolschewiki, erklärten, dass die einzige Lösung die Machtübernahme durch die Arbeiterklasse sei. Großgrundbesitzer, Kapitalisten und die imperialistischen Mächte waren alle miteinander verwoben und waren sich im Kampf gegen das Proletariat einig – daher waren die demokratischen Aufgaben der Revolution praktisch an die sozialistischen geknüpft. Die Arbeiterklasse in den Städten, insbesondere in Petrograd, wurde für dieses revolutionäre Programm gewonnen, und es gelang ihr – unterstützt durch die mächtigen Aufstände auf dem Land – eine Arbeiterregierung zu etablieren. Während all dieser Zeit betonten die Bolschewiki auch, dass die sozialistische Revolution eine internationale ist und dass dieser Aspekt ganz besonders für das unterentwickelte Russland gelte. Diese Lehren aus der russischen Revolution fasste Trotzki schon vorab in seiner Theorie der permanenten Revolution zusammen.

Während sich also die KPN (M) anscheinend schon mit ihrer Rolle in der Umgestaltung Nepals von einem feudalistischen zu einem „modernen“ kapitalistischen Staat mit einer parlamentarischen Demokratie abgefunden hat, waren es auch in Nepal die Massenerhebungen wie in 1990 und in 2006, welche innerhalb kürzester Zeit große Verbesserungen der Lebensumstände erkämpften. Darin liegt der Schlüssel, und nicht in jahrzehntelangem „Gradualismus“!

Internationale Auswirkungen

Wenn das selbst für wohlwollende Beobachter überraschend gute Wahlergebnis der Maoisten ein Zeichen für das hohe politische Bewusstsein der nepalesischen Arbeiterklasse und der Armen ist, könnte eine Massenbewegung mit der folgenden Linksverschiebung der nepalesischen Verhältnisse eine große Wirkung im asiatischen Raum haben: Es ist möglich, durch Massenkämpfe einen brutalen Diktator zu stürzen – und den Weg zu ebnen zu einer sozialistischen Umgestaltung der Gesellschaft als Ausweg für die Massen aus dem Elend des neokolonialen Kapitalismus.