Ver.di im freien Fall

Ver.di steuert weiter ungebremst auf den Abgrund zu. Die Chance zum Umsteuern wurde beim zweiten Bundeskongress der Dienstleistungsgewerkschaft in Leipzig, der am Samstag, 6. Oktober 07, zu Ende ging, vertan. Statt sich mit den drängenden Problemen zu beschäftigen, wurde im Plenum und auf den Gängen des noblen Leipziger Congress Centers in erster Linie über Struktur- und Personalfragen gestritten.

von Daniel Behruzi, Leipzig


 

Der Niedergang der vor sechseinhalb Jahren aus der Fusion der Gewerkschaften ÖTV, hbv, DPG, DAG und IG Medien hervorgegangenen Mega-Organisation ver.di ist dramatisch. Seit ihrer Gründung hat die Vereinte Dienstleistungsgewerkschaft netto ein Fünftel ihrer Mitglieder verloren. Und die Gründe hierfür liegen keineswegs allein in „objektiven Veränderungen“ der Wirtschaftsweise, wie ver.di-Chef Frank Bsirske in seinem Geschäftsbericht Glauben machen wollte. Die Politik der Gewerkschaftsspitze hat entscheidend zu den Verlusten an Stärke und Einfluss beigetragen. Vor allem der Tarifvertrag für den öffentlichen Dienst (TVÖD), der deutliche Einkommensverluste für die Beschäftigten bei Bund, Ländern und Kommunen bedeutet, sorgt in den Betrieben und Verwaltungen für Unmut. Der Abschluss bei der Telekom, wo sich der Konzern mit seinen Ausgliederungs- und Lohnsenkungsplänen nach einem wochenlangem Streik fast vollständig durchsetzen konnte, ist ein weiteres Beispiel für die katastrophale Strategie der ver.di-Spitze, die das Ergebnis zu allem Überfluss auch noch als Erfolg preist.

Aufstand ausgeblieben

Doch wer auf einen Aufstand der rund 900 in Leipzig versammelten Delegierten gegen diese Politik gehofft hatte, wurde bitter enttäuscht. Die brennenden Themen wurden nicht einmal ernsthaft diskutiert. Stattdessen dominierten Personalquerelen und Machtgerangel den Kongress. Strittigster Kontroverse, an der die Tagung zeitweise ins Chaos abzurutschen drohte, war die Zahl und Besetzung des Bundesvorstands. Auf dem letzten (und ersten) ver.di-Kongress war eine Verkleinerung des Gremiums auf elf Mandate beschlossen worden. Inzwischen wurden die Strukturen auf unterer und mittlerer Ebene bereits aus Kostengründen verschlankt. Ausgerechnet der Bundesvorstand sollte aber kaum schrumpfen. Das brachte etliche Delegierte auf die Palme. Dennoch beschloss der Kongress letztlich, 14 Vorstandsmitglieder zu wählen, damit alle 13 Fachbereiche in dem Gremium repräsentiert sein können.

Dies weist auf einen Geburtsfehler der Dienstleistungsgewerkschaft hin. In Zusammenhang mit der Fusion wurde gegen Kritiker – u.a. die SAV und das Netzwerk für eine kämpferische und demokratische ver.di – immer wieder das Argument vorgebracht, der Zusammenschluß werde zu größerer Einheitlichkeit, Solidarität und Schlagkraft führen. Das Gegenteil ist eingetreten. Statt fünf Einzelgewerkschaften sind jetzt 13 kleine Gewerkschaften unter dem Dach von ver.di versammelt. Die Fachbereichs- und Landesbezirksleitungen verfolgen jeweils ihre eigene Politik und wachen eifersüchtig über ihre Kompetenzen. Passt ihnen eine Entscheidung nicht – wie beispielsweise der Aufruf zu Arbeitsniederlegungen gegen die Rente mit 67 – werden diese schlicht ignoriert. Dass sich an diesen Verhältnissen etwas ändern könnte, ist nicht absehbar. Die komplizierte „Matrix“-Struktur mit sich überschneidenden Kompetenzen von Fachbereichen und Bezirken wurde nicht angetastet. Die Niederlagen auf der tarif- und gesellschaftspolitischen Ebene wurden schöngeredet. Über allem thront Frank Bsirske, der Linke und Rechte gleichermaßen integriert und den Status Quo dadurch erhält. Mit 94,3 Prozent erhielt der ver.di-Chef einen noch größeren Stimmenanteil als bei der letzten Wahl.

Die gewerkschaftliche Linke hat sich zur koordinierten Intervention in den Kongress als weitgehend unfähig erwiesen. Es ist nur ansatzweise gelungen, die zentralen politischen Fragen zu thematisieren und die Debatten zu prägen. Auch bei den Wahlen trat die Linke schlecht koordiniert und unvorbereitet auf.

Kurswechsel nötig

Ein Kurswechsel in der Politik von ver.di ist dringender denn je. Wenn es so weitergeht, steht in nicht allzu ferner Zukunft die Existenz von ver.di auf dem Spiel. Statt „Matrix“-Struktur und Ränkespielchen der oberen Funktionäre braucht die Organisation eine grundlegende Demokratisierung und politische Erneuerung. Die jederzeitige Wähl- und Abwählbarkeit der Funktionäre und das Ende aller Privilegien für den Apparat wären Schritte in diese Richtung. Tarif- und gesellschaftspolitisch ist ein Bruch mit der „Sozialpartnerschaft“ geboten. Statt die Tarifverträge im Sinne der Unternehmer zu „modernisieren“, muß die Gewerkschaft wieder konsequente Kampforganisation im Interesse der abhängig Beschäftigten werden. Der Aufbau einer handlungsfähigen linken Gewerkschaftsopposition ist auf diesem Weg unabdingbar.