Sozialismus zur Tagesaufgabe machen

Die Aussichten für Hugo Chávez und eine erfolgreiche Revolution in Venezuela
 
Venezuela ist entlang der gesellschaftlichen Klassenlinien gespalten. Polarisierung und Politisierung prägen dieses lateinamerikanische Land mit seinen 25 Millionen EinwohnerInnen.
Die sozialen Veränderungen erreichen unter dem Präsidenten Hugo Chávez nicht das Ausmaß der Regierung Allendes in Chile (1970-1973) oder der sandinistischen Regierung in Nicaragua (1979-1990). Aber sie reichen aus, dass die Herrschenden in Venezuela mit allen Mitteln versuchen, seine Regierung zu stürzen und den US-Imperialismus auf den Plan zu rufen.
Zum Jahreswechsel spitzten sich die Ereignisse in Venezuela zu. Bestochene Sicherheitskräfte entführten im Dezember 2004 aus einem Café in Caracas, der Hauptstadt Venezuelas, Rodrigo Granda, einen Funktionär der größten kolumbianischen Guerillagruppe, der FARC. Hinter den Entführern standen die Regierung Kolumbiens, die das Bestechungsgeld zahlte, und die eingeweihten US-Behörden. Es war das zweite Mal in einem Jahr, dass sich Kolumbien – Partner und Brückenkopf der USA in Lateinamerika (wie Israel im Nahen Osten) und Empfänger riesiger US-Militärunterstützung – solch einen Affront gegen die Regierung Chávez leistete.
Schon im Mai 2004 flogen in Venezuela 130 kolumbianische Paramilitärs auf, die die Regierung destabilisieren sollten. Dann, im Januar 2005, nahm die US-Regierung Chávez öffentlich ins Visier. Condoleezza Rice warnte vor dem US-Senat, dass die Regierung „eine große Gefahr für die ganze Region darstellt“ und dass die USA „nicht teilnahmslos zu dem stehen können, was Venezuela hinter der eigenen Grenze macht“.
Diese Auseinandersetzungen sind der vorläufige Höhepunkt einer Kette von erbitterten Zusammenstößen zwischen den Klassen. Auf der einen Seite stehen die Land- und Stadtarmut und große Teile der Arbeiterklasse. Auf der anderen Seite die venezolanische Oligarchie, unterstützt durch den US-Imperialismus. Die Mittelklasse schwankt zwischen beiden Polen. Unter dem Druck der Massen hat Chávez Maßnahmen ergriffen, welche die Herrschenden als Gefährdung ihrer Machtpositionen betrachten.

Rückschläge für die Kapitalisten

Die venezolanische Oligarchie musste mehrere Niederlagen einstecken. Im April 2002 putschte sie gegen Chávez und feierte schon, als die Massen auf die Straßen strömten und Chávez zurück an die Macht brachten. Danach folgte der „Generalstreik“ der Unternehmer, eine massenhafte Aussperrung; die Wirtschaft kam zum Erliegen. Auch hier fanden Zusammenstöße auf den Straßen statt, ohne dass sich die Kapitalisten am Ende hätten durchsetzen können. Im August 2004 schließlich scheiterte auch das mit gefälschten Unterschriften eingereichte Abwahlreferendum gegen Chávez. Eine Mehrheit stimmte für ihn. Vor Wut bebend schrie die Opposition „Betrug“ und „Wahlfälschung“.
Die Unfähigkeit der besitzenden Klassen innerhalb Venezuelas (die trotz allem immer noch über die Industrie, den Handel und die Medien herrschen) hat dazu geführt, dass die Kräfte der Reaktion derzeit in erster Linie versuchen, über die Regierungen und die staatlichen Organe in Kolumbien und in den USA Chávez’ Position zu demontieren, anstatt direkt gegen ihn vorzugehen.
Hugo Chávez hat seit seiner Wahl 1998 in vielerlei Hinsicht der angeblich „unaufhaltbaren“ neoliberalen Politik Einhalt geboten. Sein Amtsantritt markierte das Ende der Regentschaft der traditionellen korrupten, kapitalistischen Parteien, die heute die sogenannte Opposition bilden. Seine sozialen Reformen bedeuten wirkliche Verbesserungen für die breite Masse. Alphabetisierung von einer Million Menschen, Bau von 3.200 neuen Schulen, Universitätszugang für Kinder aus der Arbeiterklasse, eine Ausweitung der kostenlosen Gesundheitsversorgung, Entsendung von Ärzten in Regionen, die bis dahin nie einen Arzt gesehen hatten. Das sind Eckpunkte seiner Reformen innerhalb des Kapitalismus.

Der Schatten von Chile 1973

Es gibt viele Ähnlichkeiten mit der Entwicklung in Chile aus der Zeit der Regierung der Unidad Popular (UP) Anfang der siebziger Jahre. Der „Streik“ der Unternehmer in Venezuela erinnert an den „Streik“ der Transportunternehmer in Chile, der zu Versorgungsengpässen und Chaos führte. Der missglückte Putsch vom April 2002 erinnert an den Militärputsch von Pinochet am 11. September 1973. Beide fanden mit Unterstützung der USA statt.
Zum anderen gibt es aber auch zwischen der Chávez-Regierung und der UP einige Parallelen. Allerdings war Allende überzeugter Sozialist, während sich Chávez erst langsam mit sozialistischen Ideen auseinan-der zu setzen beginnt; durch die Erwartungshaltung der Massen dazu gedrängt. Chávez ließ das Privateigentum bislang unangetastet und enteignete erst in diesem Jahr zum ersten Mal einen Betrieb. Unter dem chilenischen Regierungschef Allendedagegen waren am Ende seiner Amtszeit 40 Prozent der Wirtschaft verstaatlicht. Allende hoffte damals darauf, mit Chile ohne revolutionären Umsturz – ganz allmählich über den Parlamentarismus – in den Sozialismus überzugehen. Er wollte die Kapitalisten nicht übermäßig provozieren, ließ Polizei und Militär unangetastet und Chancen verstreichen, in denen die Arbeiterklasse bereit war, nach der Macht zu greifen. Das ermöglichte den Putsch, der zum Tod von 50.000 Arbeiter-Innen führte und die Errichtung einer Militärdiktatur zur Folge hatte.
Hugo Chávez schwamm, nachdem die Massen den Putsch 2002 vereitelt hatten, auf einer riesigen Euphoriewelle. Dennoch rief er zur „nationalen Einheit“ auf, um die „Risse in der Gesellschaft zu glätten“. Und selbst nach der kürzlich erfolgten ersten Verstaatlichung (einer Papierfabrik) unter seiner Regierung stellte er klar: „Die Enteignung von Venepal ist eine Ausnahme, keine politische Maßnahme der Regierung. Wir werden euch kein Land wegnehmen, wenn es euch gehört. Nur die Firmen, die geschlossen und aufgegeben werden. An diese werden wir rangehen.“
Anders als in Venezuela heute herrschte in Chile damals ein klares sozialistisches Bewusstsein unter den Massen, die Arbeiterschaft war der Motor in den Kämpfen.
Radikalisierung Chávez’
Chávez ist keiner, der als Sozialist und Aktivist aus der Arbeiterbewegung kommt. Er stammt aus den unteren Rängen des Militärs und ist den verarmten Massen verbunden. 1998 wurde er mit radikalen populistischen Positionen gewählt, nicht als Kandidat einer Arbeiterpartei.
Auf dem diesjährigen Weltsozialforum (WSF) im brasilianischen Porto Allegre hat Chávez eine sehr radikale Rede gehalten: „Ich bin nicht hier als Präsident von Venezuela. Ich fühle mich nicht als Präsident. Nur aufgrund besonderer Umstände bin ich Präsident geworden. Ich bin Hugo Chávez, und ich bin sowohl Aktivist als auch Revolutionär. Und mit jedem Tag werde ich revolutionärer, weil ich sehe, dass eine Revolution notwendig ist, um die Vormacht des Kapitalismus und des Imperialismus zu brechen.“
Gleichzeitig war seine Rede aber auch eine typisch „populistische“ Rede, die für jeden etwas enthielt und mitunter einem politischen Gemischtwarenladen glich. So lobte er den russischen Präsidenten Putin für seine Politik, ebenso China und am Ende stellte er sich gar auf die Seite von Brasiliens Präsident Lula und verteidigte ihn gegen die Proteste, die er wegen seiner neoliberalen Politik einstecken musste.
Zur ersten Enteignung eines Betriebs unter Chávez kam es, als die ArbeiterInnen der in Konkurs gegangenen Papierfabrik Venepal ihn drängten, diesen Schritt zu tun und ihm eine Petition übergaben. Neben Venepal wurde ein Großgrundbesitz enteignet, eine 13.000 Hektar große Ranch, die dem britischen Fleischindustriellen Lord Vestey gehörte.
Es gibt verschiedene Initiativen der benachteiligten Massen, sich ins politische Geschehen einzumischen. Darunter Stadtteilgruppen zur Verteidigung der „Bolivarianischen Revolution“. Außerdem gewinnt der neu entstandene Gewerkschaftsbund UNT gegenüber dem alten, den Unternehmern hörigen, zunehmend an Einfluss.
Der Druck von außen, vor allem durch die wiedergewählte Bush-Regierung, nimmt zu. Ein größerer Waffenauftrag ging sehr zum Unmut der USA an Russland. Von entscheidender Bedeutung ist das Öl, das Venezuela in die USA liefert (15 Prozent der US-Ölimporte stammen aus Venezuela). Venezuela ist weltweit der fünftgrößte Ölproduzent. Der momentan hohe Ölpreis vergrößert den wirtschaftlichen und politischen Spielraum für Chávez und ist eine enorme Hilfe für die Regierung, um Geld für soziale Projekte bereitstellen zu können.

Man kann einem Tiger die Krallen nicht einzeln ausreißen

Solange der Kapitalismus nicht abgeschafft ist, werden die Herrschenden, wenn sie ihre Herrschaft bedroht sehen, sich nach jedem Rückschlag immer wieder neu sammeln. In einer Klassengesellschaft können Formen der Doppelherrschaft oder von oben in Gefahr gesehene Herrschaftsverhältnisse nicht von Dauer sein. Chávez zitierte auf dem WSF den russischen Revolutionär Leo Trotzki, um die Auswirkungen vom Putsch gegen ihn zu beschreiben: „Wir haben in Venezuela gemerkt (…), dass die Revolution die Peitsche der Konterrevolution braucht.“ Chile 1973 zeigte, dass es nicht möglich ist, die Konterrevolution zu „beschwichtigen“ und den Kapitalismus Stück für Stück abzuschaffen. Es ist genauso wie bei einem Tiger, den man versuchen würde die Krallen einzeln auszureißen, anstatt ihn auf einen Schlag zu erledigen. Jeder einzelne Angriff macht ihn nur noch wütender.
Es ist von Bedeutung, dass Chávez auf dem WSF offen von Sozialismus gesprochen hat: „Der Kapitalismus kann nicht durch sich selbst abgeschafft werden, er muss durch den Sozialismus, durch den wahren Sozialismus ersetzt werden. Ich bin auch überzeugt davon, dass das auf demokratischen Wege erreicht werden kann, aber ich meine damit nicht die Demokratie, die die USA meinen.“ Jedoch muss die Idee des Sozialismus verbunden werden mit einem sozialistischen Programm, um den Kapitalismus abzuschaffen und durch eine geplante, sozialistische Wirtschaft zu ersetzen. Das ist der Unterschied zwischen dem Sozialismus als eine Art Utopie oder moralischer Kategorie, und dem Sozialismus als Tagesaufgabe.
Was für eine Revolution wird in Venezuela diskutiert? Eine „bolivarianische“ Revolution? Simon Bolivar (1783-1830) kämpfte für die Unabhängigkeit von Spanien. Aber Bolivar arbeitete nicht an einem alternativen Gesellschaftsmodell zum Feudalismus und Kapitalismus, es ging ihm nur um die Unabhängigkeit von den Kolonialmächten.
Heute gilt es, nicht bei einzelnen Verstaatlichungen stehen zu bleiben. Das wird nicht reichen, eine demokratisch geplante Wirtschaft schaffen zu können und Armut und Ausbeutung zu beseitigen. Um der venezolanischen Revolution zum Erfolg zu verhelfen, muss die Arbeiterklasse eigene unabhängige Organisationen aufbauen und ein klares revolutionäres sozialistisches Programm annehmen. Das bedeutet, dass der Kampf für Arbeiterkontrolle und -verwaltung und dem Aufbau von Arbeiterkomitees in den Betrieben, aber auch dem Aufbau von Komitees in den Stadtteilen und der Bildung von Selbstverteidigungsorganen aufgenommen werden muss.
Die Entwicklung in Venezuela und anderen Ländern Lateinamerikas geben Hoffnung und Mut. Die Idee des Sozialismus wird wieder diskutiert und wird allmählich Teil des politischen Bewusstseins breiterer Schichten werden.

von Pablo Alderete, Stuttgart