Hartz IV und Sozialraub international

Hartz ist keineswegs typisch deutsch. Niedriglöhne und Massenarmut sind heute ein weltweites Phänomen
 
Der Spiegel titelte Mitte September „Jammertal Ost“. Darin heißt es: „Markierte der 9. November 1989 das Ende des Kalten Krieges, so markiert Hartz IV das Ende der DDR. Auch deshalb ist das Gesetz ein Schock für viele Ostdeutsche.“ Angeblich können sich die Ostdeutschen vom „Paternalismus“ nur schwer trennen, angeblich „wurde der Sozialstaat so üppig ausgebaut“ wie nirgendwo sonst in der Welt.
Unsinn. Der Kapitalismus steckt nicht nur in Deutschland im Schlamassel. Egal in welches kapitalistische Industrieland man schaut, überall wird die Krise des Systems auf dem Rücken der Erwerbstätigen und Erwerbslosen abgewälzt.
Das deutsche Kapital sieht sich im internationalen Vergleich im Hintertreffen. Mit der „Agenda 2010“ soll Deutschland durch eine weitgehende Zerschlagung der sozialen Sicherungssysteme gegenüber der Konkurrenz auf dem Weltmarkt fit gemacht werden und als stärkste imperialistische Macht Europas Nordamerika und den führenden asiatischen Wirtschaftsmächten Paroli bieten können.
In vielen Staaten wurden bereits in den letzten Jahren Maßnahmen wie in Deutschland mit Hartz IV ergriffen: Verarmungsprogramme, Zwangsarbeit und der massive Ausbau der Niedriglohnsektoren.

USA

Vom Tellerwäscher zum Millionär… – der „amerikanische Traum“ war nie mehr als ein Wunschtraum. Heute geht es für einen Tellerwäscher im „Land der unbegrenzten Möglichkeiten“ aber noch seltener um Aufstiegsmöglichkeiten, es heißt eher: Vom Tellerwäscher… zum Tellerwäscher mit ein oder zwei Nebenjobs, um überhaupt über die Runden zu kommen.
In Deutschland drohen amerikanische Verhältnisse. Was soll man sich darunter vorstellen? Zum Beispiel, dass im reichsten Land der Welt 45 Millionen nicht krankenversichert sind.
5,6 Prozent beträgt die Arbeitslosenquote in den USA. Was dabei gerne von bürgerlicher Seite verschwiegen wird: Der Niedriglohnsektor in den USA hat bereits solche Ausmaße angenommen, dass oft-mals der Lohn von einem Job nicht zum Überleben reicht. Daher werden immer mehr Leute dazu getrieben, mehrere schlecht bezahlte Billigjobs anzunehmen.
In Unternehmen mit weniger als 100 Beschäftigten existiert kein gesetzlicher Kündigungsschutz und auch in größeren Unternehmen ist dieser mangelhaft. Um den Druck auf Erwerbslose hoch zu halten, wird nur noch 26 Wochen lang Arbeitslosengeld gezahlt; eine anschließende Arbeitslosenhilfe gibt es nicht. Es ist möglich, nach fünf Jahren überhaupt keine „Stütze“ mehr zu erhalten. Rund zwei Drittel der Erwerbslosen bekommt durch verschärfte Bewilligungskriterien auch gar keine Leistung mehr.
Zur ersten großen Angriffswelle gegen Erwerbslose und Lohnabhängige kam es unter US-Präsident Ronald Reagan in den 80er Jahren. Reagan, der zu Beginn seiner Amtszeit einen Fluglotsenstreik brutal abwürgte, gehörte zusammen mit der Premierministerin Maggie Thatcher in Britannien, die mit Polizeigewalt gegen den Bergarbeiterkampf 1984 / 85 vorging, weltweit zu den Vorreitern des Neoliberalismus. Neben Thatcher und Reagan versuchten andere bürgerliche Regierungen in den 80er Jahren nachzuziehen. Im Zuge des Zusammenbruchs des Stalinismus, dem dramatischen Rechtsruck an der Spitze der traditionellen Arbeiterorganisationen und einer politischen Schwächung der Arbeiterbewegung und der Linken wurde diese neoliberale Offensive in den 90er Jahren international weiter forciert.
In den USA begann die Regierung der Demokraten unter dem Präsidenten Bill Clinton 1996 das Sozialsystem der USA grundlegend umzukrempeln. Das Programm bekam den harmlos klingenden Namen „Welfare to Work“. Dass dieses System mit Wohlfahrt nicht mehr viel zu tun hatte, lässt sich leicht am Beispiel des Bundesstaats Wisconsin belegen. Dort haben arbeitsfähige Erwachsene gar kein Anrecht mehr auf staatliche Leistungen, stattdessen müssen sie jede Arbeit annehmen, die angeboten wird oder an sogenannten „Qualifizierungsmaßnahmen“ teilnehmen, was das Gleiche in grün ist. Arbeitslose werden vom Staat als moderne Lohnsklaven an Unternehmer vermittelt, ohne jede Möglichkeit, sich dagegen zu wehren.

Dänemark

In Dänemark liegt die Arbeitslosenquote momentan bei rund fünf Prozent, in Deutschland liegt die Quote offiziell bei elf Prozent. Die dänische Wirtschaft weist neben Schweden zwar die höchste Staatsquote auf, die staatlichen Ausgaben erreichen weit mehr als 50 Prozent des Bruttoinlandsproduktes. Aber Dänemark zeigt, dass die skandinavischen Länder aus kapitalistischer Sicht schon stark aufgeholt haben.
So muss nach spätestens einem Jahr ein dänischer Arbeitsloser an sogenannten „Wiedereingliederungsmaßnahmen“ teilnehmen; egal, ob diese Maßnahmen einen Sinn haben oder nicht. Wer diese Maßnahmen ablehnt, dem werden erst einmal für fünf Wochen sämtliche sozialen Leistungen komplett gestrichen.
Auch die Zumutbarkeitsregelungen versprechen nichts Gutes: Wesentlich niedrigere Löhne und schlechtere Arbeitsbedingungen müssen genauso hingenommen werden wie die zugemuteten vier Stunden Arbeitsweg täglich. Für das kleine Dänemark bedeutet das, dass man in fast allen Ecken des Landes einen Job annehmen muss.
Forciert hat der dänische Staat seinen Kampf gegen die Arbeitslosen bereits Anfang der 80er Jahre. Ende 1982 griff die Regierung das Recht von Teilzeitbeschäftigten auf Arbeitslosenunterstützung an – mit Erfolg. 1988 wurde angefangen, für bestimmte Gruppen einen Arbeitszwang einzuführen; wer nicht „will“, bekommt kein Geld. Heute greift diese Verfahrensweise bei allen, die ohne Erwerb sind. Was für Blüten das treiben kann, zeigt die dänische Gemeinde Frederikssund: Dort wurden Arbeitslose über ein kommunales Programm an eine Firma „verliehen“, natürlich für einen Billiglohn und ohne gewerkschaftliche Rechte.

Niederlande

Die Arbeitslosenquote der Niederlande unterbot die Quote Dänemarks in den letzten Jahren. Maßgeblicher Grund ist der starke Ausbau des Niedriglohnsektors in den Niederlanden und die weit vorangetriebene „Flexibilisierung“. Auch der Leiharbeiterbereich, bei der den Beschäftigten oftmals Jobs mit wesentlich schlechteren Arbeitsbedingungen und Löhnen zugemutet werden, ist enorm ausgebaut worden.
Im ersten halben Jahr der Arbeitslosigkeit kann man auf einen Job zu den früheren Konditionen bestehen, schlechtere Angebote kann man ablehnen; es sei denn, in dem schlechter bezahlten Job ist ein Aufstieg auf das alte Niveau absehbar, (das Gegenteil zu beweisen dürfte dem Arbeitssuchenden nicht gerade leicht fallen). Die tägliche Fahrzeit zum Arbeitsplatz kann bis zu drei Stunden betragen. Ein möglicher Umzug ist auch kein Grund, einen Job ablehnen zu dürfen. Danach gibt es drei Stufen der Zumutbarkeit. Die letzte Stufe, die nach 18 Monaten Erwerbslosigkeit gilt, sieht alle Jobs als zumutbar an. Als Sanktion bei Verweigerung eines Jobs oder anderer „Vergehen“ kann eine Sperrung bis zu 16 Wochen erfolgen. Wer einen Arbeitsplatz „selbstverschuldet“ verliert, hat keinen Anspruch auf Arbeitslosenunterstützung mehr; sogar die zustehende Sozialhilfe wird gekürzt.
In den letzten Jahren hat die niederländische Regierung bereits eine Vielzahl von Mehrbelastungen im sozialen Bereich durchgedrückt. Aber damit gibt sich die Regierung in Den Haag noch lange nicht zufrieden. In ihrer jährlich üblichen Thronrede stellte Königin Beatrix klar, welcher Kurs gefahren werden soll: zuallererst weitere Steuererleichterungen für die Unternehmer (die Körperschaftssteuer soll von 34 auf 30 Prozent sinken), etwas, was in Deutschland auch zunehmend in bürgerlichen Kreisen diskutiert wird. Außerdem sind drastische Kürzungen von Sozialleistungen und Arbeitslosengeld, höhere Steuern und Abgaben für Otto-Normalverbraucher sowie massive Einschnitte bei Arbeitslosengeld und Erwerbsunfähigkeitsrente angedacht. Das Renteneintrittsalter soll möglicherweise von 65 auf 67 Jahre angehoben werden. Anfang Juli wurden schon die Rentenbeiträge angehoben. Genau wie in Deutschland sind die Leistungen der Krankenversicherung im Visier. So müssen PatientInnen künftig Zahnarztkosten zusätzlich selbst versichern; die Versicherung soll schließlich aber auf eine „zweite Säule“ von Eigenbeteiligung und privater Vorsorge gestellt werden. Darüberhinaus ist in der Diskussion, die Arbeitswoche zu verlängern – von in etwa 36 auf 40 Stunden.
Diese Rotstiftpolitik droht vor dem Hintergrund von ökonomischer Rezession und Stagnation. Die Zahl der Arbeitslosen verdoppelte sich in den letzten Jahren beinahe von 252.000 auf 495.000. Wie anderswo werden die Maastricht-Kritierien der Europäischen Union, konkret die Drei-Prozent-Neuverschuldungsgrenze, bemüht, um die Regierungspläne als unvermeidlich darzustellen. Im Handelsblatt vom 22. September heißt es dazu: „Deshalb stellt man sich auf Reformen ein, die dem Hartz-Paket ähneln.“ Und weiter: „Die Gewerkschaften haben einen ‘heißen Herbst’ angekündigt.“
Jahrelang ließen sich die Gewerkschaftsspitzen einbinden. Mit Wim Kok stand ein ehemaliger Gewerkschaftsvorsitzender an der Regierungsspitze. Das angeblich sozialpartnerschaftliche Polder-Modell diente vor einigen Jahren noch dazu, den Sozialabbau durch die Einbindung der Gewerkschaften zu deckeln. Doch der Kahlschlag unter dem Christdemokraten Balkenende und der Beteiligung von liberalen Parteien zwingt auch die niederländische Gewerkschaftsbürokratie zu Protesten.
Widerstandslos wird die Regierung in Den Haag ihre Projekte jedenfalls nicht durchziehen können. Am 20. September wurde der größte Hafen der Welt, der Hafen von Rotterdam bestreikt, 60.000 GewerkschafterInnen demonstrierten in der Innenstadt. Bei Heineken in Zoeterwounde wurde kein Bier gebraut. Wie in der Bundesrepublik wurde für den 2. Oktober eine nationale Großdemonstration in Amsterdam angesetzt. Am 20. September 2003 wurde in den Niederlanden eine der größten Demos seit Jahren mit 20.000 gegen Sozialklau von unten auf die Beine gestellt.

Internationaler Kampf

Nicht nur in Deutschland wird die Krise des kapitalistischen Systems auf die arbeitenden und erwerbslosen Menschen abgewälzt.
Diese international ähnliche Politik der Herrschenden sollte in der ganzen Arbeiterbewegung bekannt gemacht werden. Vor allem aber müssen die Beispiele für Gegenwehr Verbreitung finden. Zu Protestkundgebungen in der BRD sollten streikende Fiat-ArbeiterInnen aus Italien oder kämpferische WerftarbeiterInnen aus den Niederlanden als RednerInnen eingeladen werden. Solidaritätskampagnen zur Unterstützung von Arbeitskämpfen müssen gestartet werden.
Wichtiger noch ist darüber hinaus aber, sich nicht gegenseitig ausspielen zu lassen und die Lohn- und Sozialspirale nach unten zu stoppen. Nötig ist ein gemeinsamer, zunächst europaweiter Kampf gegen Arbeitslosigkeit und für eine drastische Verkürzung der Arbeitszeit bei vollem Lohn- und Personalausgleich. Nötig ist ein gemeinsamer Kampf aller vom Sozialabbau Betroffenen, unabhängig von Nationalität, Hautfarbe oder Religion.

von Christian Reichow, Berlin