Lohnraub nur mit Tarif?

Berlin: Betriebsräte betonen Flexibilität der Tarifverträge und sind gegen Gesetzesänderung

von Daniel Behruzi, Berlin
 
„Es läuft nur mit Tarifvertrag“. Unter diesem Motto trafen sich am Donnerstag mehr als 300 Betriebs- und Personalräte aus der gesamten Bundesrepublik in Berlin. Ins Berliner Congress Zentrum eingeladen hatte die kürzlich ins Leben gerufene „Initiative der Betriebs- und Personalräte für Tarifautonomie“. Die versammelten Belegschaftsvertreter wandten sich gegen eine von CDU, FDP und Unternehmerverbänden geforderte Änderungen im Betriebsverfassungs- und Tarifvertragsgesetz. Der Versuch, die Betriebsräte gegen die Gewerkschaften auszuspielen werde scheitern, sagte Viktor Kalla, Betriebsratsvorsitzender der Frankfurter Rundschau.

Vehement widersprachen die versammelten Funktionäre gegen den von Politikern, Medien und Unternehmern unisono geäußerten Vorwurf mangelnder Flexibilität in den bestehenden tarifvertraglichen Regelungen. „Wir haben eine gigantische Flexibilität in den Betrieben entwickelt“, erklärte Stefan Schwaab, Konzernbetriebsrat bei DaimlerChrysler. Etwa 35 Prozent der 70 000 geltenden Tarifverträge beinhalten Öffnungsklauseln, durch die in der Fläche geltende Regelungen unterlaufen werden können. Beispiele für solcherart „Flexibilität“ lieferten die anwesenden Betriebsräte zuhauf. So können die Chemiekonzerne, „wenn es ihnen wirtschaftlich schlecht geht“, die Entgelte um bis zu zehn Prozent absenken. Mit einem Arbeitszeitkorridor kann die im Tarifvertrag festgeschriebene 37,5-Stunden-Woche, je nach betriebswirtschaftlichem Bedarf, auf 40 Wochenstunden verlängert oder ohne Lohnausgleich um zweieinhalb Stunden abgesenkt werden. Auch im öffentlichen Dienst existieren derartige Regelungen. So ermöglicht ein Ergänzungstarifvertrag in den neuen Ländern die Verkürzung der Arbeitszeit um 25 Prozent – bei entsprechender Lohnkürzung. „Für die Gewerkschaften ist es nicht leicht, solche Regelungen abzuschließen und vor den Kollegen zu verteidigen“, gab Eva Gerth von der GEW zu. Dennoch dürfe man nicht unterschätzen, was die Gewerkschaften aus der Situation in Ostdeutschland lernen könnten, sagte sie.

Geradezu euphorisch zeigt sich die Gesamtbetriebsratsvorsitzende der Post AG, Margit Wendt, über die im Konzern erreichten Veränderungen. So habe man es „geschafft“, die Belegschaft von 350 000 auf 220 000 und die Zahl der Betriebe von 350 auf 116 zu reduzieren. „All das war nur auf Grundlage von Tarifverträgen möglich“, schwärmte sie. Die Post sei das beste Beispiel dafür, „dass wir Tarifautonomie und Flächentarife, wie sie heute bestehen, brauchen“. Auch der am Mittwoch geschlossene Tarifvertrag im Bauhauptgewerbe, der betriebliche Abweichungen vom 13. Monatseinkommen ohne Zustimmung der Tarifparteien zulässt, wurde in den höchsten Tönen gelobt. Dadurch könnten die Unternehmen mehr als 50 Stundenlöhne pro Beschäftigten einsparen, rechnete Egon Fortnagel von der Baugewerkschaft vor.

Den Chef des Unternehmerverbands Gesamtmetall, Martin Kannegießer, konnten diese Beispiele dennoch nicht davon überzeugen, eine Gesetzesänderung abzulehnen. Im Gegenteil: Die vielen Sondervereinbarungen seien doch „geradezu der lebendige Beweis“ dafür, dass der Flächentarif vielen Betrieben nicht gerecht werde. Er freute sich über die dargestellte „Flexibilität“ der Gewerkschafter und sagte: „Laßt uns auf diesem Weg weitergehen und die Tarifverträge modernisieren“.

Günter Triebe vom Berliner Aufzugbauer Otis stellte daraufhin fest, nun solle wohl nicht mehr punktuell, sondern systematisch vom Flächentarif abgewichen werden. Er kritisierte die gewerkschaftliche Argumentation als „zu defensiv“ und erklärte, in seiner Firma habe man den Beschäftigten das Weihnachtsgeld trotz extrem hoher Umsatzrenditen gekürzt. „Die Unternehmer können den Hals nicht voll kriegen, das ist das Problem“, rief er unter dem Beifall seiner Gewerkschaftskollegen.