Lucy Redler: Sozialismus statt Marktwirtschaft

Eine Auseinandersetzung mit Sahra Wagenknechts Buch Freiheit statt Kapitalismus“

von Lucy Redler

Einleitung

Der Titel „Freiheit statt Kapitalismus“1 lässt auf einiges hoffen, erinnert man sich dabei doch an den Wahlkampfschlager der CDU aus dem Jahr 1976 „Freiheit statt Sozialismus“. Das neue Buch von Sahra Wagenknecht ist aber trotz vieler guter Ideen und richtiger Forderungen kein Plädoyer für eine grundlegende, sozialistische Umgestaltung des globalen krisengeschüttelten Kapitalismus. Das zweite Kapitel trägt zwar den Titel und damit den Anspruch „Kreativer Sozialismus“, hält aber nicht, was es verspricht. Auf über 350 Seiten präsentiert sie mit einer Konzeption des Dritten Weges und einigen  wirtschaftsdemokratischen Vorstellungen vor allem alten Wein in neuen Schläuchen – gemischt mit einigen radikalen Forderungen und garniert mit konservativen Ideologien. Ihr Beitrag ist vor dem Hintergrund der laufenden Programmdebatte in der Partei DIE LINKE zu betrachten, weil eine Auseinandersetzung mit ihren Ideen zu einem besseren Verständnis der Defizite des Programmentwurfs führt.
Um nicht falsch verstanden zu werden: Gegen guten alten Wein ist nichts einzuwenden. Aber leider verschwinden die Ideen und Theorien von Rosa Luxemburg, Karl Marx und Friedrich Engels komplett aus Wagenknechts neuem Buch. Und die Arbeiterklasse gleich mit ihnen. Statt marxistische Positionen vertritt Wagenknecht sozialdemokratische Illusionen aus den zwanziger Jahren und aus der deutschen Nachkriegsgeschichte. Auch methodisch verlässt Sahra Wagenknecht Marx und die dialektische Herangehensweise: Sie stellt dem Kapitalismus und den Kapitalisten wie sie sind, den Kapitalismus und die Kapitalisten wie sie sein sollten gegenüber (nach ihrer Meinung oder der Meinung der Ordoliberalen2) und nennt sie Marktwirtschaft und Unternehmer. Marxistisch wäre, zu zeigen, dass die heutigen Zustände – Neoliberalismus und „finanzmarktgetriebener Kapitalismus“ etc. das Ergebnis der Entfaltung der schon von Marx analysierten Widersprüche, Gesetzmäßigkeiten und Entwicklungstendenzen des Kapitalismus sind. „Kreativ“ an ihren Ausführungen ist höchstens ihre Anlehnung an den Ordoliberalismus und an CDU-Politiker wie Ex-Wirtschaftsminister Ludwig Erhard3 und sogar Friedrich Hayek4. Das trauen sich noch nicht mal Vertreter der parteirechten Strömung Forum demokratischer Sozialismus! Wer darauf gehofft hat, diese Anlehnung sei einfach nur ein Marketingtrick, um für linke Thesen mehr Aufmerksamkeit zu erzielen, wird enttäuscht.
Natürlich ist Wagenknecht durch das Buch keine Ordoliberale geworden. Aber genauso wenig, wie ihre Vorstellungen ordoliberal sind, sind sie marxistisch. Ihre ideologischen Anleihen bei den Vordenkern der Sozialen Marktwirtschaft dienen vor allem dazu, sich von dem Ziel einer Planwirtschaft abzugrenzen und sich selbst als ideologisch offen und als Verteidigerin der Marktwirtschaft zu präsentieren. Ein Satz am Ende ihres Buches fasst ihre Position treffend zusammen: „Es gibt Marktwirtschaft ohne Kapitalismus und Sozialismus ohne Planwirtschaft.“ (Ebd., S. 345)

Cross-Over mit Sahra Wagenknecht

Bereits im Vorwort erläutert Wagenknecht ihren Anspruch: Ihr gehe es um einen Cross-Over-Dialog zwischen Sozialisten und Marxisten einerseits und „echten, nämlich auch geistig liberalen Marktwirtschaftlern auf der anderen Seite“, weil sie „etliche positive Erfahrungen in der Diskussion mit solchen offenen und fairen Marktwirtschaftlern gemacht“ habe (Ebd., S.12). Was für ein Ziel dieser Dialog haben mag, darüber darf man nur spekulieren. Will Sahra Wagenknecht, mitten in der Endphase der Programmdebatte der LINKEN, damit signalisieren, dass sie – deren Mitgliedschaft in der KPF nun seit einem Jahr ruht – bereit ist, frühere Positionen über Bord zu werfen? Geht es darum, im kleinbürgerlichen Milieu neue Wählerschichten für DIE LINKE zu gewinnen?
Es ist bedauerlich, wenn sich eine der bekanntesten Figuren der Parteilinken auf dem Höhepunkt der weltweit tiefsten Krise des Kapitalismus von den Zielen einer grundlegend anderen Gesellschaft  verabschiedet. Noch tragischer ist aber, diesen wilden Mix aus ordoliberalen Bezugnahmen und sozialdemokratischen Inhalten als „Kreativen Sozialismus“ zu bezeichnen und damit nach der  Entfremdung vieler Menschen von der Idee des Sozialismus durch den Stalinismus weitere Verwirrung zu stiften. Sahra Wagenknecht verkleistert, statt zu klären.

Zerstörerischer Kapitalismus und „Kreativer Sozialismus“

Der Kern ihrer Argumentation besteht darin, dass der heutige „finanzmarktgetriebene Kapitalismus“ mit seinen kurzfristigen Renditeanreizen, dem Shareholder-Value und der starken Konzentration von Macht in wenigen Großkonzernen und Banken, Kreativität zerstöre und der Grundidee der sozialen Marktwirtschaft, „echtem Unternehmertum“5, Wettbewerb und Leistungsgesellschaft widerspreche. Der von Ludwig Erhard propagierte „Wohlstand für alle“ solle endlich eingelöst werden. Das Problem sei, dass heute aus Unternehmern Kapitalisten geworden seien. „Mit den Grundwerten einer modernen Gesellschaft, zu denen Individualität, Chancengleichheit und Leistungsprinzip wesentlich gehören, haben die Fundamente der heutigen wirtschaftlichen Eigentumsordnung jedenfalls wenig zu tun“ (Ebd., S. 312). „Aber damit eine solche Umverteilung (Anmerkung L.R.: von oben nach unten) tatsächlich die Wirtschaft beleben kann, muss ein Prinzip aufgehoben werden, das in den heutigen Gesellschaften für unantastbar gilt: Es dürfen nicht länger die erwarteten Profite sein, die über das Ja oder Nein zu einer Investition entscheiden“ (Ebd., S. 146). Deshalb – so Wagenknecht – sei eine neue Eigentumsordnung nötig, die sich der wirtschaftlichen Machtkonzentration widersetzt. Dazu sei der Kapitalismus heute nicht in der Lage; dies könne nur der „Kreative Sozialismus“ (in Wirklichkeit heißt das bei Wagenknecht: eine gemischte Wirtschaft mit großen staatlichen Konzernen, Genossenschaften und kleinen und mittleren privaten Unternehmen, die noch für echte Innovation stehen, unter Beibehaltung der Marktwirtschaft und dem bürgerlichen Staat – aber dazu später). Explizit geht es Wagenknecht nicht darum, „Marktbeziehungen zwischen den Unternehmen durch eine detaillierte Planung der gesamten Volkswirtschaft zu ersetzen“, sondern um die „Performance von Staatsunternehmen in einem Marktumfeld“ (Ebd., S. 278). Das erinnert an die Vorstellungen ehemaliger stalinistischer Machthaber beim Übergang zur Restauration des Kapitalismus. Was Wagenknecht vorschlägt, ist eine Verstaatlichung eines großen Teils der Konzerne unter Beibehaltung der Marktbeziehungen (und damit auch der Konkurrenz und dem Austausch von Waren über einen Markt auf volkswirtschaftlicher Ebene.)
Wagenknecht beschreibt den Nachkriegskapitalismus als Periode des Wirtschaftswunders, in dem nicht alles, aber noch vieles gut war. „Insofern schien die alte Bundesrepublik bis zu Beginn der achtziger Jahre auf dem besten Wege, Ludwigs Erhards Versprechen einer Wirtschaftsordnung, ‚die immer weitere und breitere Schichten unseres Volkes zu Wohlstand zu führen vermag‘, tatsächlich einzulösen.“ (Ebd., S. 27). Sie zeichnet ein Bild des idealen Kapitalismus zu Zeiten Joseph Schumpeters6, in dem ihr zufolge „echtes Unternehmertum“ noch etwas wert gewesen sei, die Unternehmer Anreize für Investitionen verspürten und die „kreative Zerstörung“ von Kapital noch funktioniert habe.7
Dass die „kreative Zerstörung“ von Kapital auch schon vor hundert Jahren für die Arbeiterklasse und verarmten Massen nicht besonders kreativ war, sondern Krieg, Armut und Elend bedeutet hat, streift Wagenknecht nur in einem Nebensatz. Einem Teil ihrer Betrachtungen in Bezug auf die zerstörende Wirkung des heutigen Kapitalismus ist natürlich zuzustimmen, wenn sie beispielsweise schreibt: „Der Kapitalismus ist unter diesen Bedingungen keine Wirtschaftsordnung mehr, die Produktivität, Kreativität, Innovation und technologischen Fortschritt befördert. Heute verlangsamt er Innovation, behindert Investitionen und blockiert den ökologisch dringend notwendigen Wandel.“ (Ebd., S. 9). Es ist richtig, dass der Kapitalismus in seiner Aufstiegsphase dazu beigetragen hat, die Produktivkräfte (im Verhältnis zum Feudalismus) weiterzuentwickeln und dass er heute dazu eben nicht mehr in der Lage ist. Das ist aber kein Grund, den Unternehmer der kapitalistischen Frühgeschichte zu romantisieren oder ihn gar als Vorbild für die Zukunft darzustellen.
Auch ihren Forderungen nach Verstaatlichung der Banken, der öffentlichen Daseinsvorsorge, der Streichung der Schulden der südeuropäischen Länder in der Staatsschuldenkrise, der höheren Besteuerung der großen Vermögen und anderen Punkten kann man nur zustimmen. Ihr Buch enthält interessante Statistiken, unterhaltsame Polemiken gegen die Neoliberalen und viele gute Beispiele für den Privatisierungswahnsinn und die Riesterei in der Rente. In einigen Punkten geht sie dabei über den Programmentwurf der LINKEN hinaus.
Aber hunderte von Seiten mit Zustandsbeschreibungen über den heutigen Kapitalismus reichen nicht aus, wenn die Analyse und vor allem die programmatischen Schlussfolgerungen am Kern vorbeigehen. Wagenknecht benennt zwar das Profitprinzip und die kapitalistischen Eigentumsverhältnisse als Ursache des Problems, um dann am Ende aber nicht die vollständige Überwindung dieses Profitprinzips, der kapitalistischen Eigentumsverhältnisse und des bürgerlichen Staats insgesamt zu verlangen, sondern eine gemischte Wirtschaftsordnung zu propagieren, die angeblich das „gebrochene Versprechen Ludwig Erhards“, also Wohlstand für alle, einlösen könne.
Kernaussagen

Zentral in ihrem Buches sind drei Annahmen: Erstens, dass es in einer Marktwirtschaft die „echten Unternehmer“ einerseits und die Kapitalisten andererseits gäbe und die Möglichkeit, die Marktwirtschaft von den Kapitalisten zu befreien und dadurch eine Marktwirtschaft ohne Kapitalismus zu schaffen. Zweitens, dass eine schrittweiser Übergang zu der von ihr propagierten sozialen Marktwirtschaft oder zum „Kreativen Sozialismus“ durch die Einführung von wirtschaftsdemokratischen Elementen möglich sei. Drittens, dass das Defizit der Planwirtschaften im Ostblock die zentrale Planung gewesen sei und es  Sozialismus ohne Planwirtschaft geben könne.

1. Marktwirtschaft ohne Kapitalismus

Wagenknechts Anspruch ist der folgende: „Es wird Zeit, den typischen FDPlern, die von Ökonomie nicht mehr verstehen als die auswendig gelernten Sprüche aus ihren eigenen Wahlwerbungsprospekten, entgegen zu halten, wie Marktwirtschaft tatsächlich funktioniert. Und es wird Zeit zu zeigen, wie man, wenn man die originären marktwirtschaftlichen Ideen zu Ende denkt, direkt in den Sozialismus gelangt, einen Sozialismus, der nicht Zentralismus, sondern Leistung und Wettbewerb hochhält.“ (Ebd., S. 12).
Man kann sich schon fragen, ob Sahra Wagenknecht diesen Unsinn selbst glaubt. Sie fordert folgendes: „Voraussetzung sind also andere Eigentumsverhältnisse überall dort, wo nicht mehr Unternehmer im Schumpeterschen Sinne, sondern Kapitalisten das Wirtschaftsgeschehen dominieren.“ (Ebd., S. 146). Wagenknecht macht also einen Unterschied zwischen dem „echten Unternehmer“, der noch echte Ideen hat und innovativ etwas entwickeln will und den Kapitalisten, die heute den Kapitalismus in Großkonzernen, Banken, Hedge Fonds und Private Equity Fonds dominieren. Erstere sollen weiter gefördert werden, letzteren soll ihr Eigentum entzogen werden.

Haifische und Karpfen

Wagenknecht schreibt: „Wer im Haifischbecken schwimmen will, muss selbst Hai sein. Oder er wird gefressen. Der Ausweg besteht nicht in der Zähmung der Haie durch Moral und gutes Zureden. Der Ausweg besteht darin, an ihrer Stelle Karpfen zu züchten.“ (Ebd., S. 145). Wagenknecht bezieht sich in ihren Ausführungen positiv auf den konservativen Management-Theoretiker Fredmund Malik, demzufolge Gewinn niemals das oberste Ziel der Unternehmensführung sein dürfe. „Echte Unternehmer“ maximieren Malik zufolge „die wohlstandsproduzierende Kapazität des Unternehmens durch die bestmögliche Erbringung ihrer Marktleistung für den Kunden. (…) Sie maximieren ihre Marktstellung und nicht ihr Wachstum. Sie maximieren den Kundennutzen und nicht die Eigenkapitalrendite. Sie maximieren ihre Innovationskraft und nicht den Gewinn.“ (zitiert nach Wagenknecht, a.a.O. S. 307).
Natürlich gibt es sie, die Wagenknecht‘schen Karpfen – also die kleinen und mittleren Unternehmer, die gern mehr investieren würden, sich mit ihrem Betrieb identifizieren und denen die Zufriedenheit von Mitarbeitern und Kunden wichtig ist. Nur: Sie haben keine dauerhafte Chance im Kapitalismus. Sie führen ihre Betriebe auch unter kapitalistischen Bedingungen und sind genauso den Prinzipien von Kapitalakkumulation, Profit und Wettbewerb ausgesetzt. Sie müssen Gewinne machen, wenn sie das nicht tun, gehen sie unter. Karl Marx betonte, dass jeder einzelne Kapitalist bei „Strafe des Untergangs“ gezwungen sei, sein Kapital immer so profitabel wie möglich anzulegen. „Die Entwicklung der kapitalistischen Produktion macht eine fortwährende Steigerung des in einem industriellen Unternehmen angelegten Kapitals zur Notwendigkeit, und die Konkurrenz (…) erlaubt ihm nicht, dass er sein Kapital hält, ohne es auszudehnen, und ausdehnen kann er es nur durch fortsetzte Akkumulation.“8 Marx zufolge gibt es im Kapitalismus eine zwangsläufige Entwicklung zu marktbeherrschenden Oligopolen und Monopolen, also zu einer Zentralisation des Kapitals. Bei fortschreitender Zentralisation des Kapitals werden die Karpfen von den Haien gefressen. Das Großkapital zerquetscht die kleineren und mittleren Unternehmen – was ihre Eigentümer aber nicht automatisch zu Vorkämpfern einer sozialistischen Gesellschaftsordnung, sondern in der Geschichte auch zu Anhängern reaktionärer, also rückwärtsgewandter Ideologien gemacht hat.
Es gibt keine Unternehmer, die – wenn sie von der Lohnarbeit Anderer profitieren – nicht gleichzeitig auch Kapitalisten sind. Alles andere wäre eine moralische Kategorie von Unternehmern, die nichts mit der ökonomischen Wirklichkeit zu tun hat. Oftmals gibt es gerade in Großkonzernen Tarifverträge und bessere Arbeitsbedingungen. Das liegt nicht etwa darin begründet, dass der Unternehmer in einem Großbetrieb arbeiterfreundlicher ist, sondern hängt mit der Durchsetzungskraft gewerkschaftlich besser organisierter Belegschaften in Großbetrieben zusammen. In kleinen Betrieben sind die Arbeiter dagegen viel eher der Willkür der Arbeitgeber ausgesetzt. So unterscheiden sich auch die Ausbildungsbedingungen zwischen einem Auszubildenden in der Autoindustrie oder eines Bäckerlehrlings erheblich. Das Bild der kleinen Betriebe, in denen der Unternehmer nett zu seinen Angestellten und Auszubildenden ist, hat mehr mit einer romantisch-verklärten Vorstellung der Vergangenheit als mit den realen Verhältnissen zu tun.
Der heutige finanzmarktgetriebene Kapitalismus ist keine falsche Strategie von zockenden Anlegern der Hedge Fonds und der Private Equity Fonds, die man beliebig rückgängig machen könnte, sondern ein systemimmanent unvermeidlicher Ausdruck davon, dass sich seit den siebziger Jahren die profitablen Anlagemöglichkeiten für das Kapital in der Realwirtschaft verschlechtert und auf den Finanzmärkten verbessert haben. War der Nachkriegsaufschwung aufgrund verschiedener Faktoren eine Ausnahmeerscheinung, so erleben wir seit Mitte der siebziger Jahre eine Rückkehr zum normalen Kapitalismus, der sich seit nun fast vierzig Jahren im Niedergang befindet. Die Krisen werden tiefer, während die Aufschwünge flacher werden. Die neoliberale Offensive war die Antwort der Kapitalisten auf das Ende des Nachkriegsaufschwungs. Aufgrund des Mangels profitabler Anlagemöglichkeiten für das Kapital wurden die Schranken für die Profitmaximierung beseitigt (Deregulierung von Kapitalverkehrskontrollen, Liberalisierung des Arbeitsmarktes, Privatisierung öffentlicher Unternehmen etc.). Diese Maßnahmen haben die Widersprüche aber nicht aufgehoben, sondern sie weiter verschärft. Es kam zu überbewerteten Aktienmärkten, einer auf Schulden basierten Wirtschaft, Spekulationsblasen. Diese Widersprüche entladen sich derzeit in der tiefsten Krise des Kapitalismus seit Jahrzehnten. Im Jahr 2008 platzte die Immobilienblase in den USA und die gesamte Weltwirtschaft geriet bis heute ins Wanken.
An manchen Stellen sagt das Wagenknecht auch so ähnlich: Deshalb ist ihr Rückgriff auf den (angeblich) „echten“ Unternehmertypus der Vergangenheit widersprüchlich, ahistorisch, illusionär und voluntaristisch.
Soziale Marktwirtschaft

Sahra Wagenknechts Leitmotiv ist nicht eine demokratisch geplante Wirtschaft, sondern die „Soziale Marktwirtschaft“, auf die sich nicht umsonst auch alle anderen Parteien im Bundestag berufen. Im vorigen Abschnitt wurde erklärt, dass es keine Unternehmer gibt, die nicht zugleich Kapitalisten sind. Wenden wir uns nun der nächsten Idee Sahra Wagenknechts zu, nach der es Marktwirtschaft ohne Kapitalismus geben könne. Wagenknecht greift dabei in ihrer Argumentation zu einer künstlichen Trennung zwischen Kapitalismus und Marktwirtschaft. Soziale Marktwirtschaft basiere ihr zufolge auf vier Säulen: erstens auf ordentlichen Sozialgesetzen, zweitens auf Verhinderung wirtschaftlicher Macht, drittens auf persönlicher Haftung und viertens auf einer gemischten Wirtschaft.
Diese Definition übernimmt sie von den Ordoliberalen, von denen weiter unten noch die Rede sein soll. Es überrascht, welche Merkmale einer Wirtschaft sich Wagenknecht zu eigen macht, zum Beispiel die individuelle Haftung: „Haftung ist nicht nur eine Voraussetzung für die Wirtschaftsordnung des Wettbewerbs, sondern überhaupt für eine Gesellschaftsordnung, in der Freiheit und Selbstverantwortung herrschen.“9 Und ausgerechnet die Hauptsäule der heutigen Marktwirtschaft – das Privateigentum an Produktionsmitteln –  klammert Wagenknecht in ihrer Aufzählung aus. Sie behauptet damit, dass die Marktwirtschaft der ökonomischen Basis übergeordnet oder zumindest äußerlich sei und dass sie daher sowohl im Kapitalismus als auch im Sozialismus vorherrschend sein könne.
Sahra Wagenknecht verwechselt hier etwas Grundlegendes: Natürlich kann es im Kapitalismus staatliche Elemente geben, die sogar weitreichend sein können (zum Beispiel in Ägypten unter Staatspräsident Gamal Abdel Nasser), genauso wie es in einer Planwirtschaft Marktelemente geben kann. Die Frage ist jedoch immer, ob und wann quantitative Veränderungen in qualitative umschlagen: Was ist die vorherrschende Produktionsweise? Was ist die Triebfeder der Produktion: Konkurrenz und Profit und der Verkauf von Waren und damit die Realisierung des Mehrwerts über den Markt  – oder die Befriedigung gesamtgesellschaftlicher Bedürfnisse durch demokratische Planung? Im Kapitalismus wird mit dem Ziel der Profitmaximierung produziert. Der Markt ist das Mittel im Kapitalismus, um die produzierten Waren in Konkurrenz zueinander auszutauschen. Mehrwert bezeichnet den Wert einer Ware, der durch menschliche Arbeit an Rohstoffen und Vorprodukten diesen hinzugefügt wird und über die Materialkosten sowie den Lohn hinausgeht, den der Arbeiter für seine Arbeit erhält. Um diesen Mehrwert in Profit zu verwandeln, muss der Kapitalist den Tauschwert der produzierten Waren auf dem Markt realisieren.

Markt damals und Marktwirtschaft heute

Natürlich gab es auch schon in der einfachen Warenproduktion Produkte, die nicht zum eigenen Verbrauch, sondern für ihren Austausch hergestellt wurden. Diese einfache Warenproduktion (und damit „Marktwirtschaft“ in weitesten Sinne) tauchte bereits vor ca. zwölftausend Jahren im mittleren Osten auf und erfuhr ihre bedeutendste Entwicklung zwischen dem 14. und 16. Jahrhundert in Nord- und Mittelitalien und in Teilen der Niederlande. In diesen Gebieten ging die Leibeigenschaft zurück und es entwickelten sich erste Marktelemente. Auch damals wurden also bestimmte (Überschuss)Produkte auf einem Markt getauscht, aber die Grundlage der Gesellschaft blieb die Selbstversorgung.10 Es gab auch schon vor der Entwicklung der kapitalistischen Produktionsweise Kapital, in den Händen von Wucherern und Händlern (der Geldbesitzer kauft, um zu verkaufen). Diese besaßen aber nicht die Produktionsmittel. Das änderte sich mit der kapitalistischen Produktionsweise, in der die überwältigende Mehrheit der  Produzenten von ihren Produktionsmitteln getrennt wurden, die Produktionsmittel in das Eigentum einer neuen sozialen Klasse (der Bourgeoisie) übergingen und die Arbeiterklasse entstand, die nur ihre Arbeitskraft als Ware verkaufen konnte, um zu überleben.
Das alles bedeutet: Genauso wenig wie man das damalige Kapital mit dem heutigen Kapitalismus gleichsetzen kann, ist es möglich, den früher entstandenen Markt mit der kapitalistischen Marktwirtschaft in einen Topf zu werfen. Es ist etwas qualitativ anderes und kann nicht seiner ökonomischen Basis beraubt werden. Die heutige kapitalistische Produktion bedeutet verallgemeinerte Warenproduktion und damit Produktion für den Markt auf der Basis von Privateigentum an den Produktionsmitteln und der Ausbeutung der Arbeiter. Heute ist die Marktwirtschaft die alles dominierende Wirtschaftsform im Kapitalismus. Ein Zurück zur einfachen Warenproduktion ohne Fremdbestimmung und Ausbeutung ist nicht möglich unter Beibehaltung des Marktes und der Konkurrenz.

Anarchie des Marktes

Marx beschreibt die Anarchie des Marktes und die daraus resultierenden immer wieder kehrenden Krisen. Damit Menschen leben können, müssen sie ihre Arbeitskräfte entsprechend gesamtgesellschaftlichen Bedürfnissen auf die verschiedenen Tätigkeiten aufteilen. Das musste selbst Robinson auf seiner Insel.11 In einer geplanten Wirtschaft geschieht das gleiche, nur nicht wie bei Robinson für eine Person, sondern für eine ganze Gesellschaft. Eine Planwirtschaft ermöglicht, die Arbeitskräfte insgesamt nach einem sinnvollen Plan und gemäß der Bedürfnisse auf die verschiedenen Wirtschaftszweige zu  verteilen. Das kann in vielen Bereichen dezentral entschieden und in manchen Bereichen, die einer gesamtgesellschaftlichen Planung bedürfen, zentral geschehen.
Im Kapitalismus planen die Unternehmer auch – aber ausschließlich für ihren eigenen Betrieb. Ob sie die Produktion einer bestimmten Ware steigern oder herunter fahren, ob sie Arbeitskräfte einstellen oder entlassen, hängt nur von den Profiten ab, die sie mit der entsprechenden Ware zu erzielen hoffen. Das bedeutet: Entweder eine gesamtgesellschaftliche Planung oder die Profiterwartungen des einzelnen Unternehmers regeln die Verteilung der Arbeitskräfte auf die Tätigkeiten. Und in letzterem Fall zwingt die Konkurrenz die Unternehmen, bei Strafe des Untergangs, maximale Profite anzustreben, unabhängig davon, ob sie Familienbetriebe, Aktiengesellschaften oder Genossenschaften sind.
Sie müssen die Produktion ausweiten, weil, wie Sahra Wagenknecht richtig betont (auf S. 24), große Unternehmen gegenüber kleinen Konkurrenzvorteile haben. Sie müssen Arbeitskräfte durch Maschinen ersetzen, bevor es die Konkurrenz macht. Sahra Wagenknecht feiert das als Beleg für die Innovativität des Unternehmertums. Und tatsächlich war der Kapitalismus deshalb in seiner Anfangszeit eine fortschrittliche Produktionsweise. Aber da nur menschliche Arbeit Werte schafft, führt die Verdrängung von menschlicher Arbeit durch Maschinen tendenziell zu einem Fall der durchschnittlichen Profitrate. Die produzierten Waren mit Profit auf dem Markt zu verkaufen wird zum Problem, weil die kaufkräftige Nachfrage dafür fehlt. Es kommt zur Überproduktion und nicht ausgelasteten Kapazitäten, die sich schließlich in Krisen entladen und eine Entwertung von Kapital mit den bekannten Folgen von Betriebsschließungen und Massenentlassungen zur Folge haben. Es mangelt an profitablen Anlagesphären für das Kapital, so dass durch Maschinen verdrängte Arbeitskräfte schwerer neue Arbeit finden. Unternehmen versuchen, durch Lohnkürzung, Verlängerung der Arbeitszeit, Steigerung der Arbeitshetze bessere Profibedingungen zu schaffen. Oder sie kaufen mit dem Kapital, für das sie keine profitable neue Anlage finden, bereits bestehende Unternehmen (samt der Privatisierung von Staatsbetrieben) oder spekulieren auf den Finanzmärkten.
In der Marktwirtschaft geschieht also das genaue Gegenteil zur Planwirtschaft. Hier wird nicht gesamtgesellschaftlich gemäß Bedürfnissen von Mensch und Natur geplant, sondern es herrscht Chaos und Anarchie. Die „Steuerung“ der Produktion erfolgt in der Marktwirtschaft blind durch den Markt. Eine Korrektur findet erst im Nachhinein statt, wenn klar wird, dass angesichts fehlender kaufkräftiger Nachfrage zu viel produziert wurde und die entstandene Überproduktion vernichtet werden muss. Anstatt nachhaltig zu produzieren und zu verteilen, setzt sich die Anarchie nach den Gesetzen des Stärkeren durch. Marx wollte die Anarchie der privaten Aneignung (und Verteilung) überwinden und die objektiv bereits gesellschaftliche (also arbeitsteilige) Produktion auch gesellschaftlich, also demokratisch gestalten.

Falsche Gegenüberstellung

Das Wagenknecht`sche Konstrukt einer Gegenüberstellung von Marktwirtschaft und Kapitalismus ist falsch: historisch, ökonomisch und politisch. Dem US-amerikanischen Keynesianer John Kenneth Galbraith zufolge wurde der Begriff Marktwirtschaft gezielt nach dem Zweiten Weltkrieg eingeführt, nachdem der Kapitalismus durch den Faschismus in Misskredit geraten war. Der Begriff Marktwirtschaft soll das Wesen des Kapitalismus verschleiern. Denn: Um ihr Eigentum und ihre Profitaussichten zu sichern, sind die Kapitalisten immer wieder bereit, wie im Faschismus oder in Chile in den siebziger Jahren autoritäre Regime zu errichten, demokratische Rechte abzuschaffen oder Wahlen zu fälschen. Interessant ist diesbezüglich, was Rosa Luxemburg zum Thema Kapitalismus und Demokratie in „Sozialreform oder Revolution“ im Kapitel „Zollpolitik und Militarismus“ ausführt12. An dieser Stelle kommen die Ordoliberalen ins Spiel.

Ordoliberalismus

Wagenknecht bezieht sich in ihren Ausführungen positiv auf die Wirtschaftspolitik Ludwig Erhards und die dazu passenden ordoliberalen Vorstellungen Walter Euckens13 und Alfred Müller-Armacks14, die diese nach dem Zweiten Weltkrieg entwickelten. Sie gingen davon aus, dass es eine gesetzliche Rahmenordnung geben müsse, um Wettbewerb zu ermöglichen, aus dem sich der Staat dann aber größtenteils raushalten solle. Walter Eucken skizzierte seine Vorstellungen wie folgt: „Staatliche Planung der Formen – ja; staatliche Planung und Lenkung des Wirtschaftsprozesses – nein.“15 Die vier Kriterien der Ordoliberalen wurden oben bereits genannt. Sahra Wagenknecht zufolge sei die Wirtschaft erst seit Mitte der achtziger Jahre mit dem Durchmarsch des Neoliberalismus aus dem Ruder geraten.
Wagenknecht gibt selbst zu, dass es mit der Verhinderung wirtschaftlicher Macht in der Nachkriegs- und Nach-Nazi-Zeit nicht so weit her war. Dass die „ordentlichen Sozialgesetze“ auf die Kämpfe der Arbeiterklasse zurückzuführen sind und nicht auf die Wohltaten von Ludwig Erhard, sollte in einer linken Partei eigentlich nicht mehr erläutert werden müssen. Ludwig Erhard war alles mögliche, nur kein Freund der Arbeiterklasse. Gegen seine Wirtschaftspolitik traten in der britisch-amerikanischen Besatzungszone im Jahr 1948 neun Million Arbeiter in den Generalstreik. In den sechziger Jahren war der Bergarbeiterstreik einer der Nägel auf Erhards politischem Sarg. Und seine Theorie der „Formierten Gesellschaft“ bedeutet nicht Klassenkampf, sondern Klassenkollaboration. Dieser „Theorie“ zufolge besteht die Gesellschaft nicht mehr aus Klassen mit unterschiedlichen Interessen, sondern sozialen Gruppen und Schichten wirken vertrauensvoll zusammen. Das kannte man doch schon irgendwoher… Dass Erhard im zweiten Weltkrieg im Auftrag der „Reichsgruppe Industrie“ Pläne für die Wirtschaft der Nachkriegszeit unter dem Titel „Kriegsfinanzierung und Schuldenkonsolidierung“ verfasste und neben anderen der SS übersandte, soll hier nicht weiter vertieft werden.
Müller-Armack war Mitglied der NSDAP. Aber die Namen Eucken und Müller-Armack sagen heute sowieso den wenigsten Lesern von Sahra Wagenknecht etwas. Und der Rückgriff auf Ordoliberale der Vergangenheit ist auch einfacher als auf bekanntere Ordoliberale wie den Chef des ifo-Instituts Hans Werner-Sinn, der bekannterweise alles andere als ein Freund von ordentlicher Sozialgesetzgebung, Mindestlöhnen und so weiter ist. Natürlich unterscheiden sich viele Forderungen von Wagenknecht in Wirklichkeit von ordoliberalen Vorstellungen. Eucken und Müller-Armack würden sich im Grabe umdrehen, wenn sie für die Verstaatlichung der Banken und der Energiekonzerne à la Sahra Wagenknecht herhalten sollten oder für eine Umverteilung von oben nach unten. Die Vorstellungen der Ordoliberalen in der Nachkriegszeit wiesen einen Weg für die Bourgeoisie aus dem Dilemma zwischen den radikalen Positionen in der Arbeiterklasse für weitgehende Verstaatlichungen und ihrem Wunsch an einem Kapitalismus festzuhalten, der aus Sicht der Arbeiterklasse für den Faschismus verantwortlich war.
Wagenknechts Strategie besteht darin, den Kapitalismus schrittweise zurückzudrängen und durch immer mehr staatliches und genossenschaftliches Eigentum zu ersetzen, während der Markt weiter besteht (und damit der heutige Kapitalismus mit seinen Gesetzmäßigkeiten). Die Parallele zu den Vertretern des Ordoliberalismus besteht im Festhalten an der Marktwirtschaft und dem Leugnen von unvereinbaren Klasseninteressen. Die Geschichte ist jedoch reich an Beispielen dafür, dass die Herrschenden ihr Eigentum und ihre Privilegien eben nicht freiwillig und kampflos abgeben. Das ist jedoch genau die Grundlage für die Illusion der Wirtschaftsdemokratie, um die es nun in Punkt 2 gehen soll.

2. Neue Eigentumsordnung und Wirtschaftsdemokratie

Sahra Wagenknecht sucht ab Seite 300 Ideen für eine neue Eigentumsordnung. Zu Recht hält sie Vorschläge für eine Entflechtung und ein Ende von Großkonzernen für eine Illusion. Genauso skeptisch steht sie einer Regulierung und den bisherigen Formen der Mitbestimmung im Aufsichtsrat gegenüber. Sie ist nicht dagegen, aber sie lösen ihr zufolge nicht das Problem.
Richtig stellt sie fest (auch in Bezug auf die Erfahrungen in Frankreich unter Francois Mitterrand in den achtziger Jahren): „Selbst wenn man den Eigentümern alle direkten Einflussrechte auf die Führung großer Unternehmen nehmen würde, bliebe ihnen immer noch ein elementares Recht: das Recht auf Veräußerung ihres Eigentums. (…) Kriterien des Wirtschaftens jenseits der Gewinnmaximierung führen so schnell zu einem Investitionsstopp und Beschäftigungsabbau (…) Beispiele für Regierungen, die den Interessen der Kapitaleigner nicht genügend Rechnung trugen und schließlich über einen Kapitalstreik zur Umkehr gezwungen wurden, gibt es viele. Frankreichs sozialistische Regierung unter Mitterrand ist eines davon.“16
Sahra Wagenknechts Schlussfolgerung ist, dass eine „grundlegende Veränderung der Eigentumsverhältnisse“ nötig ist. Dafür schlägt sie weitreichende Verstaatlichungen vor (siehe unten). Das hört sich gut an. Leider bezieht Wagenknecht in ihre Überlegungen an dieser Stelle nicht ein, dass die Mitterrand-Regierung in Frankreich trotz groß angelegter Verstaatlichungen scheiterte. Damals wurden die fünf größten Industriekonzerne, zwei Finanzkonzerne und fast vierzig Banken verstaatlicht. Der Großteil der Stahlindustrie, der Banken und der Textilindustrie war unter staatlicher Kontrolle – bezogen auf die gesamte Industrie kontrollierte die Regierung ein Drittel der Wirtschaft.
Doch trotz dieser weitgehenden Verstaatlichungen fanden die Kapitalisten Mittel und Wege, um die Politik der Regierung zu bekämpfen. Das Profitsystem als solches und der kapitalistische Staatsapparat blieben unangetastet. Die politische Macht ging nicht in die Hände der Arbeiterklasse über. Die einzige Möglichkeit wäre damals die Überführung der verstaatlichten Betriebe unter Arbeiterkontrolle und -verwaltung und die Mobilisierung der Arbeiterklasse gegen das Kapital  gewesen. Nur so hätte die wirtschaftliche und politische Macht aus den Händen der Kapitalbesitzer genommen und daraus hervorgehend der Bruch mit dem kapitalistischen Staatsapparat und dem kapitalistischen Wirtschaftssystem auf revolutionärem Weg eingeleitet werden können. Das Beispiel der Mitterrandregierung kann jedenfalls nicht als Beleg für das Konzept Sahra Wagenknechts einer schrittweisen Transformation des Kapitalismus herhalten.Aber schauen wir uns die „neue Eigentumsordnung“ von Sahra Wagenknecht erst einmal an.

Verstaatlichungen von Großkonzernen

Laut Wagenknecht müssen bestimmte Bereiche der Wirtschaft für „eigentumsunfähig“ erklärt werden. Erstens seien Verstaatlichungen in den Bereichen der öffentlichen Daseinsvorsorge (Wohnungen, Bildung, Wasser, Gesundheit, Finanzinstitutionen etc) und von natürlichen Monopolen (Energiekonzerne, Pharmakonzerne, Verkehr, Telekommunikation) notwendig. Ebenfalls verstaatlicht werden sollen Großkonzerne ab einem Umsatz von zehn Milliarden Euro oder mehr als 50.000 Beschäftigten. Legt man das Ranking der hundert umsatzstärksten Konzerne (ohne Banken und Versicherungen) laut Süddeutsche Zeitung zugrunde, würde allein dies in Deutschland die Verstaatlichung von fünfzig Großkonzernen bedeuten.17 Insgesamt schlägt Sahra Wagenknecht vor, nach diesen Kriterien zusammen genommen 100 bis 200 Firmen in Deutschland für „eigentumsunfähig“ zu erklären. Die Verstaatlichungen sollen entschädigungslos sein. Der Umfang der Verstaatlichungen bei Sahra Wagenknecht hebt sich positiv vom Programmentwurf der LINKEN ab. Auch der Vorschlag der entschädigungslosen Enteignung ist zu begrüßen, wobei es an dieser Stelle notwendig wäre, einzuschränken, dass Kleinaktionäre entschädigt werden müssen.
Das Problem ist aber, dass Sahra Wagenknecht eine Erklärung schuldig bleibt, wie diese Verstaatlichungen umgesetzt werden sollen. An manchen Stellen bemüht sie dafür Verfassungsbestimmungen. Dazu gehört eine Reihe von diesbezüglichen Formulierungen in Landesverfassungen nach 1945 (Hessen, Sachsen). Diese Festschreibungen in den Verfassungen einiger Länder hatten jedoch wenig mit einsichtigen Verfassungsrechtlern zu tun, sondern mit einer massenhaften Stimmung und Streikwellen der Arbeiterklasse für die Nationalisierung der Schwerindustrie nach dem Faschismus.
Natürlich spricht nichts gegen solche Artikel in Landesverfassungen, genauso wie man sich positiv auf den Artikel 14 im Grundgesetz beziehen kann, demzufolge Enteignungen zum Wohle der Allgemeinheit zulässig sind. Entscheidend ist jedoch, dass alle Verstaatlichungen und Enteignungen im Interesse der Mehrheit der Bevölkerung von den Lohnabhängigen erkämpft werden müssen. Wagenknechts Vorstellung der Leitung dieser verstaatlichten Unternehmen orientiert sich an den Vorstellungen in der hessischen Landesverfassung, derzufolge im Verwaltungsrat drittel-paritätisch Vertreter des Landtags, der Gewerkschaften und der kommunalen Spitzenverbände vertreten sein sollten. Vertreter der Beschäftigten des jeweiligen Betriebs sind in Wagenknechts Konzept zur Leitung der Betriebe nicht vorgesehen. In dieser Logik würden die verstaatlichten Betriebe mehrheitlich nicht von demokratisch gewählten Vertretern der Lohnabhängigen, sondern mehrheitlich von bürgerlichen Politikern geleitet. Sahra Wagenknecht geht es daher nicht um die eigentlich notwendige Einführung von Arbeiterkontrolle und -verwaltung in verstaatlichten Betrieben. Interessant ist auch, dass Sahra Wagenknecht nicht ausschließt, dass manche dieser verstaatlichten Unternehmen gewinnorientiert arbeiten sollten: „Die Frage ist, in welchen Bereichen der Wirtschaft und in welchem Rahmen Gewinnorientierung auch in öffentlichen Unternehmen sinnvoll ist und wo eine am Gemeinwohl und Gemeinnutz orientierte Preis- und Investitionspolitik am Platz wäre.“18

Mitarbeitergesellschaft

Der zweite Vorschlag Wagenknechts lautet so: „Allerdings ist die Übernahme in die öffentliche Hand nicht die einzige Alternative (…) Eine andere Alternative ist, das Unternehmen denen zu übergeben, die in ihm arbeiten und deren Ideen, Engagement und Einsatz es seine Entwicklung und seinen Erfolg verdankt. Das schließt die bisherigen Eigentümer, sofern sie im Unternehmen arbeiten, ein, aber es beschränkt sich eben nicht auf sie.“ (Ebd., S. 328). Die schrittweise Übertragung des Kapitals in Belegschaftseigentum soll laut Wagenknecht ab einem Eigenkapital von einer Million Euro greifen und damit zusätzlich zu den im vorigen Abschnitt genannten 100 bis 200 Unternehmen weitere Großunternehmen betreffen.Sahra Wagenknecht argumentiert dabei nicht aus einem Klassenstandpunkt heraus und den Interessen der Arbeiter, sondern mit dem Prinzip der Haftung und zitiert Eucken „Wer den Nutzen hat, soll auch den Schaden tragen“ (Ebd., S. 329). Und weiter: „Wenn Haftung wieder gelten soll, dann sollten Unternehmen denen gehören, die in ihnen arbeiten und deren Existenzgrundlage sie sind.“ (…) „Das ist nicht primär ein Gebot der sozialen Gerechtigkeit, sondern eines der wirtschaftlichen Vernunft.“ (Ebd., S. 330).
Ihr Modell der Mitarbeitergesellschaft orientiert sich an den Vorstellungen des tschechischen Wirtschaftswissenschaftlers Ota Šik19, der für eine „humane Wirtschaftsdemokratie“ eintrat, und sieht wie folgt aus: Über eine schrittweise „Neutralisierung von Kapital“ und Abführung von Teilen desselben an eine Stiftung oder in das direkte Eigentum der Belegschaft kann das dadurch gewonnene Kapital wieder investiert werden im Interesse der Arbeiter, die über die Verwendung die Entscheidungskompetenz erlangen und dadurch über die Unternehmenspolitik immer mehr bestimmen. Wichtig in den Überlegungen von Šik und Wagenknecht ist dabei, dass die Unternehmensüberschüsse in diesen Belegschaftsunternehmen nicht an die Gesellschaft abgeführt und für die Befriedigung gesellschaftlicher Bedürfnisse genutzt werden, sondern im Betrieb verbleiben.
In der Logik Sahra Wagenknechts wird das Kapital durch eine einfache Änderung der Steuergesetze „entmachtet“ – oder besser „neutralisiert“. Nämlich über eine Vermögenssteuer, „die bei Finanz- und Immobilienvermögen an den Staat zu zahlen, bei Betriebsvermögen dagegen in unveräußerliche Belegschaftsanteile umzuwandeln ist. Deren Anteile könnten wie eine Art Stiftung verwaltet werden, deren Treuhänder von der Belegschaft bestimmt werden“ (Ebd., S. 336). Konkret schlägt Wagenknecht eine jährliche Vermögenssteuer von 5 oder 10 Prozent auf alle Vermögen bzw. Eigenkapital vor, welche(s) eine Million Euro übersteigen. Dem zu folge würden jährlich 5 oder 10 Prozent eines Betriebs vom ursprünglichen Eigentümer auf die Belegschaft übergehen. Der Eigentümer kann sich dann „nur noch maximal den Teil des Gewinns ausschütten, der auf seinen Kapitalanteil entfällt, während der auf das Mitarbeitereigentum entfallende in jedem Fall im Unternehmen verbleibt.“ (Ebd., S. 336). Sie vergleicht ihre Mitarbeitergesellschaften oder Belegschaftsbetriebe mit Genossenschaften, wobei sie betont, dass das heutige Genossenschaftsrecht unbrauchbar sei.Wagenknecht zufolge unterscheide sich dieses Konzept „grundlegend von dem heute üblichen Verständnis von Belegschaftsbeteiligung, die in der Regel keinen höheren Zweck verfolgt als den, die Mitarbeiter über eine Handvoll Aktion in die Renditelogik des Eigentümers einzubinden.“ (Ebd., S. 331).
Die Vorstellungen von Ota Šik und Sahra Wagenknecht gehen zwar deutlich über die heutigen Ansätze von Mitbestimmung hinaus. Das bedeutet aber nicht, dass sie über einen längeren Zeitraum zu realisieren und aufrecht zu erhalten wären. Und ohne Klassenkampf schon gar nicht. Die Idee der „Neutralisierung des Kapitals“ ohne Abschaffung des Kapitalismus und des bürgerlichen Staatsapparats ist ein Trugschluss. Welch lustige Vorstellung, dass die Chefs von BASF oder Daimler fröhlich zuschauen, wie ihnen jedes Jahr 5 Prozent ihres Eigentums über Steuern weggenommen werden und an die Belegschaft übergehen.
Ota Šik gab im Jahr 1990 in einem Interview mit einer tschechischen Tageszeitung selbst zu, dass er  nicht an einen Dritten Weg geglaubt habe: „Sehen Sie, wir konnten damals nicht alle unsere Ziele voll präsentieren. Gerade in meinen Erinnerungen beschreibe ich unsere Kämpfe mit Antonín Novotný über die Reformen, die hinter der Bühne vonstatten gingen. Aber auch für viele Reformkommunisten war nur der Gedanke an eine Erweiterung des Privateigentums oder an gemeinsame Unternehmen mit kapitalistischen Firmen eine Todsünde. Also war auch der dritte Weg ein verschleierndes Manöver. Schon damals war ich davon überzeugt, dass die einzige Lösung für uns ein vollblutiger Markt kapitalistischer Art ist. Und heute, nachdem ich zwanzig Jahre im Westen gelebt habe, zweifle ich nicht im Geringsten daran.“20

Exkurs: Wirtschaftsdemokratie und Belegschaftseigentum im LINKE-Programmentwurf

Ähnliche Positionen wie sie Wagenknecht in ihrem Buch beschreibt, finden sich auch im Entwurf für ein Parteiprogramm der LINKEN21. Verschiedene Eigentumsformen sollen dem Entwurf zufolge nebeneinander stehen: „staatliche und kommunale, gesellschaftliche und private, genossenschaftliche und andere Formen des Eigentums.“ (…) „Allumfassendes Staatseigentum ist aufgrund bitterer historischer Erfahrungen nicht unser Ziel.“ (…) „Grundsätzlich gehört zur pluralen Eigentumsordnung des demokratischen Sozialismus das Privateigentum kleiner und mittlerer Unternehmen.“
Auch das Belegschaftseigentum unterstützt der Programmentwurf, wenngleich das dort beschriebene Modell nicht so weitgehend ist wie das Wagenknecht‘sche Modell. Die Steuerung der Wirtschaft erfolgt dem LINKE-Programmentwurf zufolge über den Markt und über eine recht allgemein gefasste „demokratische Steuerung“: „Wirtschaftliche Entwicklung darf nicht nur dem Markt und den Unternehmen überlassen, sondern muss in ihren Grundrichtungen demokratisch gesteuert werden. Erforderlich ist neben leistungsfähigen öffentlichen Unternehmen eine zielgerichtete öffentliche Investitionstätigkeit.“ Interessant ist außerdem die positive Bezugnahme auf das Konzept der Wirtschaftsdemokratie im Programmentwurf: „Deshalb sehen wir in der Wirtschaftsdemokratie eine tragende Säule des demokratischen Sozialismus.“ Und weiter: „DIE LINKE tritt neben dem Ausbau direkter Demokratie für ihre Erweiterung durch Runde Tische und Wirtschafts- und Sozialräte auf allen Ebenen ein. In solchen Gremien sollten Gewerkschaften, Kommunen, Verbraucherinnen und Verbraucher, soziale, ökologische und andere Interessenverbände vertreten sein. Sie können im Dialog erarbeiten, was für die verschiedenen Aufgabenbereiche jeweils als orientierendes allgemeines Interesse angesehen werden soll und gesellschaftlich zur Geltung zu bringen ist. Sie sollen an der Entwicklung regionaler Leitbilder für die demokratische, soziale und ökologische Rahmensetzung beteiligt werden und die Möglichkeit zu gesetzgeberischen Initiativen erhalten.“
Der Kern dieser Konzeption ist jedoch, dass die hier vorgesehenen „Räte“ nicht die Verfügungsgewalt des Privateigentums über die Banken und Konzerne ersetzen, sondern diese lediglich beratend ergänzen. Dies wird auch im folgenden Satz des Entwurfs deutlich: „Die Belegschaften, die Verbraucherinnen und Verbraucher, die Repräsentanten der Gemeinwohlinteressen sollen eine starke demokratische Mitsprache haben und an den wirtschaftlichen Entscheidungen direkt partizipieren.“ Vertreter von Belegschaften und Verbraucher sollen an der Seite der Unternehmer mitbestimmen anstatt diese zu entmachten und die Betriebe unter der Kontrolle und Verwaltung der arbeitenden Bevölkerung zu stellen. Diese „Lösung“ bedeutet Klassenzusammenarbeit statt Kapitalentmachtung.

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