Die Lehren von 1992: Der Streik im Öffentlichen Dienst

Die Tarifrunde 1992 war ein Wendepunkt für die deutsche Gesellschaft und doch erst der Vorbote einer neuen Qualität von Kämpfen zwischen ArbeitnehmerInnen und Kapital in den kommenden Jahren. Um sich auf diese schwierigen Herausforderungen vorzubereiten, müssen die Gewerkschaftsmitglieder die Lehren dieses Arbeitskampfes ziehen.

von Brent Kennedy (Nachdruck aus der VORAN Nr. 142, Juni 1992)


 

Ein Kölner ötv-Funktionär erklärte nach dem Streik: "Vor vier Wochen erwarteten wir eine Lohnrunde wie jedes Jahr, mit dem üblichen Ergebnis durch Verhandlungen, das wir dannn mit Bauchschmerzen an die Mitglieder verkaufen müssten. Drei Tage später wurde klar, dass es nicht nur um ein Prozentpunkte ging, sondern um den Versuch der Regierung und Arbeitsgeberverbänden, die ötv als Brechstange zu nutzen."
Die großartige Bewegung der ötv-Mitglieder brachte der Kohlregierung eine herbe Niederlage bei und kämpfte den Weg für die IG Metall, IG Medien und IG Bau Steine Erden frei. Um so enttäuschender war das materielle Ergebnis der Verhandlungen. Ein VORAN-Flugblatt am Tag danach fasste den Kompromiss zusammen: "Lohndiktat gebrochen – aber Früchte des Siegs verschenkt." Die Eisenbahner, Postzusteller, Krankenschwestern und -pfleger und viele andere zwangen die Regierung in die Knie, die Tarif"experten" verspielten den Sieg am Verhandlungstisch. Kein Wunder, dass viele KollegInnen auf ihre Gewerkschaftsführung sauer sind. In intellektuellen Kreisen ist es heutzutage Mode, die Arbeiterbewegung abzuschreiben. Es gäbe keine Arbeiterklasse mehr, selbst die Mitglieder der Gewerkschaften hätten kein Klassenbewusstsein, einige haben sogar behauptet, dass dieser Streik nicht hätte stattfinden dürfen, weil solche "altmodischen Kampfmethoden" angeblich unpopulär seien und die Gewerkschaften isolieren würden. Was für ein Quatsch!

Kampfbereitschaft und Kampfkraft

Schon bei der Urabstimmung bewiesen Arbeiter und Angestellte ihre Kampfbereitschaft. Sie stimmten mit 89 bis 96 Prozent für Streik. Sobald das Ergebnis bekannt wurde, schlossen sich die Hamburger Postler dem Streik an. Arbeiter, die die Schleusen betätigen, haben einen großen Teil der Schifffahrt lahmgelegt. In Duisburg allein kostete das eine Million DM pro Tag. Am Ende des Streiks sind lediglich 25 Prozent aller Züge gefahren, obwohl die Lokführer nicht streiken dürfen – einige Tage später wäre die ganze Bundesbahn zum Stillstand gekommen. Allein der 24-stündige Streik einer Handvoll Feuerwehrleute und Sicherheitskontrolleure – Mitglieder der Gewerkschaft der Polizei – schloss den Frankfurter Flughafen, Drehscheibe des europäischen Flugverkehrs, und verursachte einen Verlust von 40 Millioen DM. Die Behörden standen kurz davor, die Düsseldorfer Altstadt wegen der Müllberge zu schließen.

Stärkung der Gewerkschaften

Die Gewerkschaften verzeichneten Neueintritte. Allein am ersten Streiktag traten 30.000 in die ötv ein. Während der Mobilmachung kamen täglich neue Unorganisierte dazu – und auch noch nach dem Streik, trotz Unzufriedenheit mit der Führung. Das gleiche galt für die Gewerkschaft Handel, Banken und Versicherungen (HBV) und die Deutsche Angestelltengewerkschaft (DAG) nach dem Bankenstreik. Der Organisationsgrad ist gestiegen. Die Gewerkschaften gehen nicht geschwächt, sondern deutlich gestärkt aus dieser Konfrontation hervor.

Solidarität der Bevölkerung

Bemerkenswert war die breite Unterstützung in der Bevölkerung. Die Regierung hatte gehoft, dass sich der Ärger über wachsende Müllberge und die Verkehrsstaus gegen die Streikenden richten würde, aber der Schuss ging nach hinten los. Diesmal konnte die bürgerliche Presse die "öffentliche Meinung" nicht im ausreichenden Maße manipulieren. Stattdessen gab es eine Politisierung in der Bevölkerung. Die Leute haben zum ersten Mal gemerkt, was für einen wichtigen Dienst die StraßenbahnfahrerInnen und Müllwerker leisten. Es wurde darüber diskutiert, wieso wir soviel Müll produzieren, wie wichtig öffentliche Verkehrsmittel sind, wie schlecht die Krankenschwestern und wie unverschämt gut die Politiker bezahlt werden.

Gewachsenes Selbstbewusstsein

Am wichtigsten aber war die Erfahrung der kollektiven Aktionen und der Solidarität von den in den verschiedenen Bereichen insgesamt zirka eine Million ArbeitnehmerInnen. Ich habe erlebt, wie 40-50jährige ausländische Frauen aus Reinigungsdienst, Küche und Wäscherei anfangs vorsichtig fragten, ob sie als Krankenhausbeschäftigte überhaupt streiken dürfen. Nach einigen Tagen Streikerfahrung marschierten dieselben Frauen erhobenen Hauptes und die ötv-Fahnen schwenkend zur Landesklinik nebenan, um die neu in den Streik getretenen zu ermutigen. Mit jedem Tag wuchs das Selbstbewusstsein. Ein paar Tage später marschierten dieselben Frauen mit Transparenten und Sprechchören durch die Stadt. Ihre Vertrauensfrau, sichtlich bewegt, jubelte: "Ich bin so stolz auf meine Kolleginnen. Jahrelang wurden diese und Millionen andere Kolleginnen und Kollegen herumkommandiert. Jetzt sind sie wer. Seit dem Streik gibt es Konflikte am Arbeitsplatz, weil die Vorgesetzten versuchen, die alten Machtverhältnisse wiederherzustellen und die Kolleginnen es nicht zulassen. Sie haben die Macht der Einheit gespürt und geben sie nicht zurück."

AusländerInnen und Deutsche vereint

Besonder für die AusländerInnen war dies eine wichtige Erfahrung, denn für uns gibt es keine Demokratie in diesem Staat. Es konnte sich nicht nur jeder an den Abstimmungen beteiligen, sondern auch an den alltäglichen Entscheidungen über Taktik und Aktivitäten. Die, die aus der Gesellschaft ausgegrenzt werden, konnten als gleichberechtigte Mitglieder einer mächtigen Bewegung mitwirken: für viele die erste Erfahrung von Demokratie in diesem Land. Deutsche, türkische und osteuropäische ArbeiterInnen kämpften Schulter an Schulter gegen "die da oben". Sie ließen sich nicht spalten. Elf Tage gemeinsamer Kampferfahrung haben mehr gegen die Ausländerfeindlichkeit bewirkt, als alle moralischen Predigten der Politiker zusammengenommen.

ArbeitnehmerInnen hatten die Kontrolle

Die Macht der Arbeitenden wurde zum Beispiel durch die Notdienste in den Krankenhäusern deutlich demonstriert. Arrogante Oberärzte und Betriebsleiter mussten zur Streikleitung kommen und höflich um Personal bitten. Sie haben versucht, die Gutmütigkeit der KollegInnen auszunutzen. Nächstes Mal werden die Streikposten bestimmt härter vorgehen, aber immerhin haben die Vertrauensleute/Streikleiter darüber entschieden, wie viele und welche KollegInnen Notdienst leisten sollten. Das war ein kleines Beispiel von Arbeiterkontrolle und der konkrete Beweis, dass Arbeiter und Angestellte ihre Arbeit effektiv selbst organisieren können: kollektiv und demokratisch.
Wo Arbeitgeber versucht haben, Streikbrecher einzusetzen, wurden sie sofort mit einer Machtdemonstration konfrontiert. In Hamburg setzte man beamtete Postler meist gegen ihren Willen für die Arbeit der streikenden KollegInnen ein. Einen Tag später antwortete die Deutsche Postgewerkschaft (DPG) mit einer Demonstration von 7000 und kündigte jede Zusammenarbeit auf. Der Einsatz der BeamtInen lief ins Leere. Die Bürokraten der Lufthansa verlangten sogar den Einsatz der amerikanischen Luftwaffe, um den Streik auf dem Frankfurter Flughafen zu brechen. Die Bosse betrachteten die Arbeiter als den "inneren Feind". Dieses Beispiel sollte uns eine Warnung für die Zukunft sein: so möchten manche Arbeitgeber und Minister Bundeswehr und Polizei gegen die Gewerkschaften benutzen. Zur Zeit wäre das allerdings wegen der Solidarität der Polizisten mit den anderen Gewerkschaftsmitgliedern schwierig gewesen.

Entwicklung von Klassenbewusstsein

Die Solidarität zwischen ArbeitnehmerInnen in verschiedenen Bereichen hat zur Entwicklung von Klassenbewusstsein geführt. Bei den Demonstrationen und Kundgebungen wurde das "Wir-Gefühl" der KollegInnen aus verschiedenen Arbeitsbereichen und Gewerkschaften gestärkt. Sie erkannten, dass alle abhängig Beschäftigten grundsätzlich im selben Interessengegensatz zu den Unternehmern stehen. Besonders wichtig waren die gemeinsamen Kundgebungen von Metallern und Druckbeschäftigten mit den KollegInnen aus dem Öffentlichen Dienst, die zum Abbauvon Vorbehalten gegen den Öffentlichen Dienst beigetragen haben. Zwar waren die Ansätze begrenzt, weil es in den Bereichen von IG Metall, IG Medien und IG Bau, Steine, Erden nur zu Warnstreiks gekommen ist, doch der Angriff auf die ötv ist als Test für die Privatwirtschaft verstanden worden.
Indem die ötv der Regierung diese Niederlage beigebracht hat, diente sie als Vorreiter für alle folgenden Tarifrunden. Den Kollegen ist klar, dass der Streik im Öffentlichen Dienst zusammen mit den eigenen Warnstreiks ihre Lohnerhöhungen erkämpft hat. Einmal Blut geleckt, hatten sich die KollegInnen des Öffentlichen Dienstes jedenfalls darauf gefreut, den Metallerstreik aktiv zu unterstützen – vor allem nach der Enttäuschung durch das bescheidene Ergebnis. Vielleicht, so hatten sie gehofft, würde die IG Metall noch ein Prozent Lohnerhöhung drauflegen.

Arbeitgeber gaben nach

Wäre es in der Industrie zu Streiks gekommen, hätte sich das Klassenbewusstsein ohne Zweifel noch viel stärker entwickelt. Das war ein Grund dafür, dass die öffentlichen Arbeitgeber ihre Niederlage akzeptierten, ihr Lohndiktat von unter fünf Prozent aufgaben und die privaten Arbeitgeber Streiks vermeiden wollten. Einen Tag nach dem Metaller-Abschluss spiegelt sich die Haltung der Arbeitgeber im Anstieg des DAX an der Frankfurter Börse wieder. Vor allem der politische Charakter dieser Tarifrunde mit einer gemeinsamen Front von Staat und Arbeitgebern hat zur Schärfung des Bewusstseins vieler ArbeitnehmerInnen beigetragen. Ein harter Streik von Metallern und Druckarbeitern, unterstützt von ein paar Millionen ArbeitnehmerInnen im Öffentlichen Dienst, hätte das Ende des Mythos´ der Sozialpartnerschaft bedeutet, wahrscheinlich zu einer schweren Niederlage des Kapitals und vielleicht zum Sturz der Regierung geführt. Dieser Kampf ist vorläufig verschoben worden.

Die Lehren des Streiks – Gewerkschaften demokratisieren und erneuern

Monika Wulf-Mathies selbst gab zu, dass der ötv-Hauptvorstand Fehler gemacht hat. Die Führung der Gewerkschaften, vor allem der ötv, hatte die Kampfbereitschaft und Entschlossenheit der Basis maßlos unterschätzt und den Kampf nicht konsequent geführt. Was wurde falsch gemacht? Und wie setzen wir eine Erneuerung der Gewerkschaften durch?

Annahme des Schlichterspruchs – ein Fehler

Es war schon ein Fehler, den Schlichterspruch von 5,4 Prozent zu akzeptieren, denn dieser bedeutete Reallohnverlust. Die Inflation liegt bei offiziell 4,6 Prozent, aber die Teuerungsrate für Waren und Dienstleistungen, wofür die ArbeitnehmerInnen einen höheren Anteil ihres Lohns ausgeben, liegt höher. Das heißt, zusammen mit den Steuererhöhungen brauchte man mindestens sieben Prozent mehr, allein um den niedrigen Lebensstandard zu halten, geschweige denn, den Rückstand gegenüber der Privatwirtschaft aufzuholen. Nicht umsonst lautete die Forderung 9,5 Prozent. Durch das sofortige Heruntergehen auf 5,4 Prozent haben die Gewerkschaftsvertreter in der Schlichtung alle zukünftigen Forderungen unglaubwürdig gemacht. Natürlich gibt es Situationen, wo nach einer Kraftprobe die Kräfteverhältnisse so stehen, dass die ursprüngliche Forderungen nicht mehr durchsetzbar sind und ein Kompromiss unvermeidbar ist. Aber vor einem Test? Bei dieser Stimmung an der Basis? Die Aufgabe der eigentlichen Forderung von Beginn an hat die Arbeitgeber nur ermutigt. Deshalb haben sie selbst diesen Kompromiss abgelehnt und den Streik provoziert. Die Preisgabe der 9,5-Prozent-Forderung hatte die Gewerkschaftsseite geschwächt, aber die KollegInnen haben diese Schwäche vor den Betrieben und auf der Straße wettgemacht.

Halbherzige Streiktaktik

Dann stellte sich heraus, dass die Streik­taktik nur eine begrenzte Wirkung hatte. Es war richtig für eine Gewerkschaft wie die ÖTV, die seit 18 Jahren kaum Streik­erfahrung hatte, den Streik in bestimm­ten Bereichen anzufangen und ihn dann auszuweiten. Dadurch konnten die bestorganisiertesten Teile wie Bus- und Straßenbahnfahrer die Effektivität des Streiks demonstrieren und andere Be­reiche ermutigen. Doch schon bald woll­ten sehr viel mehr Kollegen mitstreiken. Ihre Einstellung war konsequent: Wenn schon, denn schon. Dass manche Berei­che erst später oder gar nicht in den Streik gerufen wurden, hat zu Frust ge­führt.
Einige haben nicht gewartet, sondern sind eigenmächtig in den Streik getreten und haben ihre Streikleitung anschließend informiert, wie zum Beispiel die Müll­männer. Diese Vorgänge müssen doch endlich das Märchen der bürgerlichen Presse zerstören, dass die friedlichen und passiven Arbeitnehmer immer von den Radikalinskis in der Gewerkschafts­führung aufgewiegelt werden. Das Ge­genteil ist wahr: Sie wurden eher ge­bremst,
Völlig verwirrend wirkte die "clevere Tak­tik", bestimmte Gruppen von Be­schäftigten für einen oder drei Tage raus­zurufen und dann zurück zur Arbeit zu schicken. Sie fühlten sich schikaniert. Aktivisten in den Ämtern waren total frustriert. Nachdem ihre mühsame Auf­bauarbeit letztendlich zu erfolgreicher Mobilisierung führte, erhielten sie den Befehl, die "Truppen" wieder zu demobili­sieren, bevor der Kampf gewonnen war. Natürlich muss die Führung wahrend eines Kampfes führen und über die Taktik entscheiden. Aber Generäle, die ihr Fuß­volk missachten, verlieren ihre Armee. Die Vertrauensleute und die Basis selbst müssen ein Mitspracherecht bei solchen Entscheidungen haben. Einige Beleg­schaften haben selbst demokratisch entschieden, solche Mitteilungen abzuleh­nen. So haben Bus- und Straßenbahnfah­rer und die Müllmänner in Köln einfach entschieden, bis zum Ende zu streiken. Und sie haben richtig gehandelt.

Vollstreik wäre nötig gewesen

Die ÖTV-Führung erklärte, dass sie aus finanziellen Gründen nicht so viele in den Streik rufen konnte. Aber ein Vollstreik hätte die Arbeitgeber viel früher in die Knie gezwungen. Die effektivsten Berei­che – wie Strom- und Wasserversorgung – wurden nicht oder nur sehr kurz be­streikt. Warum wurde der Frankfurter Flughafen nur einen Tag bestreikt, aber die anderen (weniger wichtigen) länger? Die Vorstände der Gewerkschaften haben offenbar Angst vor der eigenen Macht. Sie hatten Angst, die Kontrolle über den Streik und die Gewerkschaften selbst an die eigene Basis zu verlieren.

Der Abschluss – über die Köpfe der Basis hinweg

Der Widerspruch zwischen der Entschlos­senheit der Basis und der Schwäche der Führung konnte kaum deutlicher als bei dem Abschluss und seiner Ablehnung durch die zweite Urabstimmung zu Tage treten. Dieser Abschluss hat aus mehre­ren Gründen zu Empörung geführt. Die Basismitglieder der Gewerkschaften hat­ten Monika Wulf-Mathies geglaubt, als sie während des Streiks wiederholt er­klärte, die 5,4 Prozent seien jetzt vom Tisch, sie würden jetzt für mehr kämp­fen. Deshalb wurde die Annahme des Kompromisses als Vertrauensbruch emp­funden. Viele regten sich auf, als Wulf-Mathies der Presse erklärte, die Kollegen würden das Ergebnis nicht richtig verste­hen und man müsste es ihnen einfach erklären – als ob sie Kinder wären. Die Basis war sauer, weil sie wusste, dass der Sieg der ihre war und dass die Verhandlungsführer und"die Tarifkommis­sion sich auf einen unnötigen Kompromiss eingelassen hatten. Die Mitglie­der hatten Selbstvertrauen und waren entschlossen: "Wir sollten noch drei Tage oder eine Woche durchziehen, der Streik hat längst noch nicht den Höhepunkt erreicht."

Abruptes Streikende

Doch besonders für die Vertrauensleute war die gleichzeitige Mitteilung, dass der Streik ab sofort ausgesetzt sei, noch schlimmer als der Abschluss. Ein Mit­glied einer Kreisstreikleitung erklärte VORAN: "Das Ende war abrupt und nicht nachvollziehbar. Alle sahen es im Fernse­hen, aber wir selbst bekamen keine Aus­kunft. Und dann kamen die Anrufe der Kollegen. Fakten wurden geschaffen. Die ÖTV-Führung in Hamburg schickte die Mitglieder schon am gleiche Abend zu­rück an die Arbeit. Es war der helle Wahnsinn – wir mussten die Leute wäh­rend der Nacht anrufen und sie für die Arbeit morgen früh mobilisieren. Wir waren alle stinksauer, weil wir vor vollen­dete Tatsachen gestellt wurden."
Es war einfach undemokratisch. Man wusste, dass die Basis für mehr weiter­streiken wollte, weil so viele Anträge und Erklärungen an die Tarifkommission gefaxt wurden. Aber die Führung wollte nicht mehr. Es war mehr als falsch, den Streik ohne eine Abstimmung der Mitglie­der auszusetzen. Die Führung rechnete damit, dass selbst wenn die meisten mit dem Ergebnis unzufrieden wären, sie sich bei der zweiten Abstimmung diesen "voll­endeten Tatsachen" resigniert beugen würden. Es war ein zynischer Missbrauch des Vertrauens.

Votum der Basis missachtet

Aber noch schlimmer war die bürokrati­sche Missachtung des Ergebnisses der zweiten Urabstimmung. Obwohl 55,9 Prozent das Angebot ablehnten, erklärte Wulf-Mathies, dass nicht mehr drin sei. Der Vorstand traf sich erst am 25. Mai (elf Tage später) und erklärte einfach alles für gelaufen. Eine Führung mit nur der Hälfte der Entschlossenheit der Basismitglieder und Vertrauen in die Basis hätte das Kompromissangebot abgelehnt. Eine demokratische Führung hätte den Streik nicht über die Köpfe der Mitglieder hinweg ausgesetzt. Aber selbst nach diesen Fehlern hätte die Führung nach der Urabstimmung die demokratische Meinung der Mitglied­schaft akzeptieren und zum Verhand­lungstisch zurückkehren müssen. Seiters" schnelle Behauptung, ein Nach­schlag sei nicht drin, war reines Poker­spiel, wie alles, was er von Anfang an gesagt hat. Natürlich hätten die Gewerk­schaften Druck ausüben müssen, aber den lieferte die Stimmung der Basis. Wahrscheinlich hätte die Drohung einer Fortsetzung des Streiks gereicht, um eine Verbesserung des Angebots zu er­zwingen – besonders bei der Möglichkeit, gemeinsam mit den Metallern und ande­ren Gewerkschaften zu streiken. Vor der Gefahr einer generalstreikähnlichen Be­wegung hätten die Regierung und ganz bestimmt die SPD-geführten Länder und Gemeinden einen Rückzieher gemacht.

Warum bremst die Führung?

Es bleibt die Frage, warum die Führung der Gewerkschaften die eigene Bewegung gebremst und einen unnötigen Kompromiss akzeptiert hat. Viele Kolle­gen schimpfen: "Sie ließen sich über den Tisch ziehen." Aber es liegt bestimmt nicht daran, dass Seiters oder Simonis klügere Verhandler sind. Im Gegenteil -sie haben sich als unfähig erwiesen. Es liegt daran, dass die Gewerk­schaftsspitze die Argumente der Regie­rung und der Arbeitgeber teilt. Dafür gibt es eine materielle und ein politische Basis. Heide Simonis, eine "Sozial­demokratin", kann die "Sachzwänge" eines Busfahrers oder einer Kranken­schwester an der Kasse im Supermarkt unmöglich verstehen, weil sie pro Monat 16.000 DM "verdient". Sie ist so weit von denen entfernt, die sie vertreten soll, wie Helmut Kohl. Bei den Spit­zenfunktionären der Gewerkschaften und des DGB ist es leider nicht anders. Sie können beim besten Willen nicht die Alttagssorgen ihrer Mitglieder verstehen.

Facharbeiterlohn für Funktionäre!

Deshalb ist es eine praktische Notwen­digkeit. dass alle Funktionäre nicht mehr als einen Facharbeiterlohn erhalten, da­mit es keine gefährliche Trennung zwi­schen den Mitgliedern und ihren Bediensteten mehr gibt. Wenn Monika Wulf-Mathies mit dem Durchschnittseinkommen Ihrer Basis auskommen müsste, würde sie bestimmt härter für eine angemessene Lohnerhö­hung kämpfen. Aber das ist nicht das einzige Problem. Die heutigen Führer der SPD und der Gewerkschaften betrachten sich selbst nicht als Verfechter der Interessen der Arbeiterklasse, sondern als Staatsmänner, die milden Vertretern der Regierung und des Kapitals – ihren "Sozialpartnern" – die Wirtschaft ver­nünftig im Lot halten. Sie spielen ihre Rolle als Schlichterzwischen Arbeit und Kapital und sehen keinen unversöhnlichen Interessenswiderspruch. Wenn also die Arbeitgeber behaupten, sie können es sich nicht leisten, den Lebens­standard der Arbeitnehmer zu verbessern oder nur zu halten, oder wenn die Regie­rung verlangt, dass die Arbeitnehmer für die Versäumnisse der Marktwirtschaft im Osten bezahlen müssen, stimmen die Gewerkschaftsfunktionäre im Prinzip zu. Was sonst sollen sie tun? Wer das Sy­stem der privaten Marktwirtschaft akzep­tiert, muss auch ihrer Logik folgen. Des­halb ist der Lebensstandard der Arbeit­nehmer in den letzten zehn Jahren kaum gestiegen. Aber gerade deshalb ist die Unzufriedenheit an der Basis gewachsen.

Lehren für die Basis­aktivisten

Vor allem die Aktivisten an der Basis, die Vertrauensleute, müssen die Lehren die­ses Arbeitskampfes erkennen und umset­zen. Teilweise aus Frust wegen einer Reihe enttäuschender Abschlüsse in den letzten Jahren ist die Zahl der Aktivisten in den Gewerkschaften zurück gegangen, besonders unter den Jugendlichen. Daher waren die Vertrauensleute mit vielen Aufgaben vor und während dieses Streiks belastet. Auch sie haben die Stimmung der bisher passiven Mitglieder unter­schätzt und die Sprünge im Bewusstsein nicht genau eingeschätzt. Auch die be­trieblichen und örtlichen Streikleitungen waren überrascht und standen ratlos vor den "vollendeten Tatsachen" aus Stutt­gart. Es gab keine Alternative für so einen Fall. Es schien keine Alternative zu geben. In dieser Situation versuchten die besten Aktivisten, das Positive an der Streikerfartrung zu betonen und Austritte oder Rückfall in die Passivität zu verhin­dern.
Sie hatten Angst, dass Kritik an der Füh­rung Kritik an der Gewerkschaft selbst sei und fürchteten eine destruktive Aus­wirkung. Aber wenn sie die Führung nicht kritisieren und keine Alternative aufzei­gen, dann verlieren sie die Glaubwürdig­keit ihrer Kollegen. Eine ÖTV-Vertrauens-frau erklärte VORAN: "Ich arbeite jetzt zwölf Jahre als Vertrauensfrau und, ehr­lich gesagt, die ganze Arbeit der Vertrau­ensleute war zu lasch. Die Basis wurde von oben eingelullt. Aber es gab auch Fehler an der Basis – wir haben auch geträumt. Vorher wurde an einen Streik nie ernsthaft gedacht. Wir waren nicht darauf vorbereitet. Die Frage jetzt ist, wie können wir das neue Bewusstsein behalten? Wir brauchen mehr Arbeit an der Basis, mehr Ausbildung".
Ein Mitglied des Kölner ÖTV-Bezirksvorstandes: "Es hat kein Vertrauen in die Basis gegeben, aber wiederum auch nicht in die Führung. Ich habe meine Kollegen zum Streik aufgerufen, aber mich dabei gefragt, ob sie von diesen Leuten in Stuttgart richtig geführt worden. Man spürt die Verantwortung. Jetzt haben manche Bezirksvorsitzende den Streik benutzt, um Wulf-Mathies zu schwächen. Sie manipulieren die Basis, um ihre Po­sten zu kriegen. Nicht nur Wulf-Mathies, sondern der ganze Haupt vorstand sollte jetzt zurücktreten. Seit 1973 gibt es eine falsche Tarifpolitik. Auch wir haben nicht genug mit der Basis diskutiert, was eine Tarifrunde bedeutet."

Für den Aufbau einer Gewerkschaftslinken!

Solche kämpferischen Aktivisten fühlten sich ohnmächtig gegenüber der Gewerkschaftsbürokratie, weil sie kein Netzwerk von Gleichgesinnten quer durch die Gewerkschaften haben. Wenn der Vorstand zum Rücktritt gezwungen wer­den sollte, wer sollte gewählt werden? Wo ist die Garantie, dass sie besser sind? Dafür braucht man eine offene, demokratische linke Bewegung innerhalb der Gewerkschaften, die nicht nur demo­kratische Kontrolle über die Funktionäre ausübt, sondern auch politische Ausbil­dung unter den Mitgliedern organisiert. Zweifelsohne müssen die Gewerkschaf­ten demokratisiert werden, braucht die Basis mehr Kontrolle und Entscheidungs­möglichkeiten. Facharbeiterlohn für Funktionäre und deren Abwählbarkeit sind dafür unumgängliche Forderungen. Die Satzung muss demokratisiert worden. Neue, kämpferische Leute, die sich in diesem Arbeitskampf bewiesen haben, sollen in die Tarifkommission gewählt werden.

Sozialistische Perspektive

Aber all das reicht nicht. Wir brauchen eine Führung, die kompromisslos für die Intereressen der Arbeitnehmer kämpft. Und das ist auf Dauer nur mit der Per­spektive einer neuen Gesellschaft mög­lich, in der die Wirtschaft unter der de­mokratischen Kontrolle und Planung der Arbeitnehmer steht: Eine demokratische und sozialistische Gesellschaft. Nur mit dieser Perspektive gelang es allen Schwierigkeiten und Zweifeln zum Trotz, die Gewerkschaften überhaupt aufzubauen und den heutigen Lebensstan­dard und demokratische Rechte zu er­kämpfen. Nur mit einer solchen Perspek­tive werden die Gewerkschaften den kom­menden Herausforderungen gewachsen sein.