Man müsse sich zum „Existenzrecht Israels” bekennen, heißt es, sonst sei man „Israelhasser” und antisemitisch. Laut Definition der Vereinten Nationen (UN) haben staatliche Gebilde jedoch gar kein „Existenzrecht”. Dieses Recht gilt für Gruppen von Menschen, für Nationen, Völker. Als Marxist*innen vertreten wir oft andere Positionen als die UN, die eine Versammlung kapitalistischer Staaten ist, doch an diesem Punkt geht die UN-Definition in die richtige Richtung. Sozialist*innen treten für das Selbstbestimmungsrecht der Völker ein, dafür, dass alle Menschen frei von nationaler und ethnischer Unterdrückung und selbstbestimmt leben können.
Von Claus Ludwig, Köln
Daraus ergibt sich, dass wir für das Recht der Palästinenser*innen auf Selbstbestimmung kämpfen und gleichzeitig anerkennen, dass auch die jüdisch-israelische Bevölkerung ein Recht auf Selbstbestimmung hat und nicht unterdrückt werden darf. Daraus ergibt sich jedoch keineswegs der Anspruch auf die Fortexistenz eines militarisierten, religiös-sektiererischen Staats, dessen Kerngeschäft Landraub ist. Insofern verteidigen wir nicht das „Existenzrecht” des real existierenden Staates Israels.
Welche Form eine friedliche Koexistenz der Bevölkerungsgruppen auf dem Gebiet von Palästina annehmen kann, ist eine komplexe Frage. Die Situation ist nicht statisch, sie hat sich mehrfach geändert. Die internationale Organisation, der die SAV angehört (bis 2019 CWI – Committee for a Workers’ International; ab 2020 ISA – Internationalist Socialist Alternative) hat lange eine spezifische Position vertreten, die sich von der anderer Marxist*innen unterschieden hat, die über die gesamte Zeit seit der Gründung Israels die Losung „für ein demokratisches, säkulares (sozialistisches) Palästina” genutzt haben.
Israelische Arbeiter*innenklasse
Der koloniale Charakter Israels und die fortgesetzte Landnahme durch Siedlungen sind zentrale Elemente des israelischen Staates. Wir haben allerdings auch analysiert, dass sich eine eigene jüdisch-israelische nationale Identität herausgebildet hat, sowie eine Klassengesellschaft. Israel ist keine reine Siedler-Kolonie. Zudem ist Israel der Wachtposten der USA und des westlichen Imperialismus, hochgerüstet und atomar bewaffnet. Der Zionismus dient als ideologischer Kitt, um die Loyalität der Massen zum Staat zu sichern und die Klassengegensätze zu verschleiern.
Daraus ergibt sich einerseits das Selbstbestimmungsrecht der jüdisch-israelischen Bevölkerung. Gleichzeitig folgt daraus eine zentrale strategische Erkenntnis: Auf kapitalistischer Grundlage ist es nicht möglich, die koloniale Besiedlung Palästinas durch jüdische Einwanderer*innen zurückzudrehen, weder politisch noch militärisch. Und selbst wenn sich die militärischen Kräfteverhältnisse drehen sollten, z.B. durch eine gemeinsame Anstrengung der arabischen Staaten, wäre eine Vertreibung der jüdisch-israelischen Bevölkerung nur mit den gleichen genozidalen, reaktionären und rassistischen Methoden möglich, welche das Netanyahu-Regime anwendet. Das würde weder zu Frieden, noch zu demokratischen Verhältnissen führen, sondern nur zu einer Eskalation von Unterdrückung und Krieg.
Im Würgegriff der imperialistischen Länder und unter kapitalistischen Bedingungen ist keine Lösung der nationalen Frage in Palästina möglich. Aus dieser Analyse resultiert die Aufgabe, Verbündete für den palästinensischen Befreiungskampf in Israel zu finden und nach Möglichkeiten zu suchen, einen Keil zwischen den zionistischen Staat und die arbeitenden Massen zu treiben sowie die Methoden des palästinensischen Befreiungskampfes an diese politische Aufgabe anzupassen. Solange dieser angeführt wird von einer reaktionären Kraft wie Hamas, wird er immer wieder in einer Sackgasse landen, weil die islamistischen Kräfte mit ihrer begrenzten religiösen, pro-kapitalistischen Perspektive weder willens noch in der Lage sind, Brücken zur jüdisch-israelischen Bevölkerung zu bauen, was ein wichtiger Faktor wäre, um die Besatzungsarmee von innen heraus zu lähmen und zu zersetzen.
Zwei-Staaten-Lösung zerbombt
In diesem Kontext haben wir zusammen mit den Genoss*innen in Israel/Palästina die Forderung entwickelt, für ein sozialistisches Palästina neben einem sozialistischen Israel einzutreten, zusammengeschlossen in einer freiwilligen Föderation. Nicht, weil wir für Kleinstaaterei eintreten, sondern weil wir den Umweg einer eigenen Staatlichkeit für die beiden nationalen Gruppen in Palästina als „vertrauensbildende” Maßnahme gesehen haben, als Garantie an die Palästinenser*innen, dass sie endlich zu ihrem Recht kommen, und als Versicherung an die jüdischen Israeli, dass die Palästinenser*innen ihnen nicht das Gleiche zufügen wollen, was sie selbst erleiden mussten – Vertreibung, Besatzung, Unterdrückung.
Diese Idee fußte allerdings auf der realen Möglichkeit einer territorialen Existenz und erforderte zudem eine starke Bewegung gegen die Besatzung in Israel selbst. Die territoriale Zusammenhang der Westbank ist durch das israelische Regime zerschlagen worden, nicht erst unter Netanyahu. Das fruchtbare Land wurde von den rechten Siedler*innen und der Armee geraubt. Die „Autonomiebehörde” kontrolliert nur noch schrumpfende Enklaven, zerstückelt von Checkpoints und Siedlungen. Gaza ist zerstört. Die Möglichkeit eines Staates Palästina neben Israel ist systematisch zerstört worden.
Es kann keine Lösung nur für Gaza und die Reste der Westbank geben. Es führt kein Weg an einer revolutionären Lösung vorbei. Die jüdisch-israelische Arbeiter*innenklasse kann nicht frei sein, solange die Palästinenser*innen unterdrückt werden. Für diese Idee kämpfen Marxist*innen in Israel. Eine ernsthafte oppositionelle Bewegung muss sich mit dem Befreiungskampf der Palästinenser*innen solidarisieren dies mit dem Kampf für die Interessen der arbeitenden Menschen in Israel verbinden. Nötig wäre eine Zusammenarbeit der jüdisch-israelischen und palästinensischen Linken und Arbeiter*innenklasse gegen den zionistischen Staat.
Daraus kann die Perspektive entstehen, nicht den Umweg über zwei Staaten zu gehen – diese Losung ist ohnehin durch den Popanz der von den imperialistischen Staaten hochgehaltenen, aber nie beabsichtigen kapitalistischen „Zwei-Staaten-Lösung” diskreditiert – sondern direkt für ein demokratisches, sozialistisches Palästina zu kämpfen, in dem die Rechte aller nationalen und religiösen Gruppen gewahrt werden; in dem kein Kampf um die Zerstückelung von Land stattfindet, sondern die natürlichen Ressourcen solidarisch und demokratisch verwaltet werden – „From the river to the sea – socialist democracy”.
Wir treten ein für ein unabhängiges, sozialistisches, demokratisches Palästina und für den Kampf für Sozialismus in Israel und der ganzen Region, für Sicherheitsgarantien und gleiche Rechte für alle Nationalitäten und Minderheiten, für ein Ende der imperialistischen Einmischung in der Region.
Geschichte des Zionismus: Kein „Land ohne Volk“
Der Zionismus ist die jüdische Variante des bürgerlichen Nationalismus. Beim ersten Zionistischen Weltkongress 1897 wurde beschlossen, auf dem Gebiet Palästinas, in der historischen Heimat des Judentums, einen jüdischen Staat zu schaffen. Von 1882 bis 1914 kamen 65.000 europäische Jüd*innen nach Palästina, damals noch Teil des Osmanischen Reiches, und stellten damit 13% der Bevölkerung.
Die Zionist*innen hatten den Slogan „Ein Land ohne Volk für ein Volk ohne Land.” Doch dieses leere Land gab es nicht, dort lebten rund 600.000 Araber*innen. Nach der Niederlage des Osmanischen Reiches im Ersten Weltkrieg und dessen anschließendem Zerfall regierten die Kolonialmächte Großbritannien und Frankreich die Region. Sie versprachen Araber*innen und Jüd*innen das gleiche Land.
Das Versprechen an die Araber*innen wurde gebrochen, sie erlebten Kolonialherrschaft statt Selbstbestimmung. Mit der Balfour-Deklaration von 1917 bekannte sich Großbritannien dazu, eine jüdische Heimstatt auf dem Gebiet Palästinas zu schaffen. Der britische Imperialismus sah die zionistische Einwanderung als ein wichtiges Hilfsmittel gegen die arabisch-nationalistischen Bestrebungen und schickte somit die Jüd*innen an die Front der eigenen Herrschaftssicherung.
Die Marxist*innen – darunter viele Intellektuelle jüdischer Herkunft – lehnten den Zionismus ab. Lenin und Trotzki argumentierten dagegen, dass „linke” zionistische Organisationen sich der Kommunistischen Internationale anschließen. Sie sahen den Zionismus als Instrument des britischen Imperialismus. Die Komintern sagte voraus, dass es zu blutigen Konflikten zwischen Jüd*innen und Araber*innen kommen würde.
Bis zum Völkermord der Nazis an Europas Jüd*innen war der Zionismus nicht die Hauptströmung unter den Jüd*innen. Es gab starke linke Strömungen. Auch die Auswanderung aus Nazi-Deutschland verlief nicht in erster Linie Richtung Palästina. Dorthin gingen von 1933 bis Kriegsbeginn 1939 60.000. 140.000 migrierten in die USA und 100.000 nach Südamerika und Kanada. Sozialist*innen forderten, dass die USA die Grenzen für alle öffnen, um Europas Jüd*innen vor der Nazi-Bedrohung zu schützen.
Nach dem Holocaust drängten viele Überlebende auf der Suche nach Schutz nach Palästina. Die europäische Katastrophe führte – gelenkt durch die USA und die europäischen kapitalistischen Staaten – zur nächsten Katastrophe, zur Nakba, der Vertreibung von 750.000 Palästinenser*innen. Ihre Dörfer wurden übernommen und umbenannt, ihre Häuser gestohlen.
Während die stalinistische Sowjetunion die Gründung Israels zunächst unterstützte, in der Hoffnung, einen Verbündeten in Nahost zu finden, lehnten die Marxist*innen der 4. Internationale die Gründung Israels als „blutige Falle” ab. „Militant”, Zeitung der US-amerikanischen Socialist Workers’ Party (SWP) schrieb 1948:
„Hat das jüdische Volk nicht das Recht auf Selbstbestimmung und Staatlichkeit wie andere Völker auch? Ja – aber (…) (es) bleibt die Tatsache bestehen, dass sie keinen Staat auf Kosten der nationalen Rechte der arabischen Völker gründen können. Das ist keine Selbstbestimmung, sondern die Eroberung des Territoriums eines anderen Volkes. Aus diesen Gründen ist die zionistische Ausrufung eines jüdischen Staates und ihr Krieg zur Aufrechterhaltung dieses Staates gegen den arabischen Widerstand reaktionär und kann von der sozialistischen Bewegung nicht unterstützt werden (…) Der Zionismus und der winzige jüdische Staat müssen unweigerlich zu einem Werkzeug des US-amerikanischen Imperialismus und zu einem Instrument werden, das den Räubern der Wall Street den Zugang zum Nahen Osten erleichtert. Darüber hinaus ist es gerade der Zionismus, der die Position der reaktionären arabischen Herrscher ständig festigt und es ihnen ermöglicht, den sozialen Kampf in ihren eigenen Ländern in einen kommunalen Kampf zwischen den arabischen und jüdischen Völkern umzuwandeln.”

