Papier der EU-Kommission zur Aufrüstung Europas. EU: Kriegsbereit bis 2030

Mit dem „Weißbuch Europäische Verteidigungsbereitschaft 2030“ skizziert die Europäische Kommission ihre Pläne für eine umfassende Kriegsertüchtigung der EU-Staaten. Sie stellt diese als defensive Maßnahmen gegen äußere Bedrohungen – vor allem durch Russland – dar. Im Text wird jedoch deutlich, dass es darum geht, selbst zu einer militärischen Großmacht zu werden, um im globalen Konkurrenzkampf nicht in den Hintergrund gedrängt zu werden.

Von Claus Ludwig, Köln

In der Einleitung heißt es: “… in der zweiten Hälfte dieses Jahrhunderts … wird eine neue internationale Ordnung geformt. Wenn wir diese Ordnung nicht gestalten – sowohl in unserer Region als auch darüber hinaus – werden wir zu passiven Empfängern der Ergebnisse dieser Periode von zwischenstaatlicher Konkurrenz, mit all den sich daraus ergebenden negativen Konsequenzen, einschließlich der realen Perspektive eines umfassenden Krieges. Die Geschichte wird uns keine Passivität verzeihen […] Transnationale Herausforderungen wie die schnelle technologische Entwicklung, Migration und der Klimawandel können unsere politischen und wirtschaftlichen Systeme enormen Stress aussetzen. Autoritäre Staaten wie China versuchen in zunehmenden Maße, sich in unsere Wirtschaft und unsere Politik einzumischen.”

Die Schlussfolgerung: “Es ist an der Zeit, dass sich die EU wiederbewaffnet.” Wiederbewaffnung – als wären die EU-Armeen bisher mit Wasserpistolen ausgestattet. Dabei haben die Rüstungsausgaben in den EU-Staaten 2024 mit 326 Milliarden Euro tatsächlich einen Rekord erreicht. Allein seit 2022 sind sie um 31% gestiegen.

Offensive Ausrichtung

Die EU-Kommission bleibt in ihrem Text vage bezüglich des Ausmaßes der Bedrohung durch das russische Militär. Sie schreibt lediglich, der Kontinent wäre bedroht und von feindlichen Akten betroffen. Es werden weder die Fähigkeiten Russlands zu umfassenden Offensivaktionen noch die Interessenlage des russischen Imperialismus erörtert.

Es hilft der Argumentation der EU, nebulös zu bleiben, denn die Erzählung von der akuten Bedrohung soll dazu dienen, die offensive Ausrichtung des Papiers zu verschleiern. Die Tarnung funktioniert allerdings nicht gut, an mehreren Stellen wird das Papier deutlich: “Andererseits (wenn man nicht stark aufrüstet, d.A.) wird Europa weniger in der Lage sein, die eigene Zukunft zu gestalten und wird von großen ökonomischen, technologischen und militärischen Blocks herumgeschubst werden, die uns übervorteilen wollen.”

Der Kommission geht es um die Durchsetzung wirtschaftlicher Interessen: “Investitionen in die europäische Verteidigungsbereitschaft sind nicht nur Garantien für den Frieden von morgen, sondern erhöhen auch die Wettbewerbsfähigkeit der europäischen Industrie.”

Die EU-Staaten befürchten den Abstieg aus der 1. Liga der kapitalistischen Mächte angesichts des Aufstiegs von China, Indien sowie der ökonomischen Aggressivität der USA. Das “wir” in diesem Text sind auch nicht die Bürger*innen der EU, die ohnehin nur das machtlose Parlament wählen können. “Wir”, damit sind die Konzerne, Banken und die Reichen der EU und die führenden Politiker*innen gemeint. Diese wollen “die eigene Zukunft (…) gestalten” und sich gegenüber den konkurrierenden Blöcken Vorteile verschaffen.

Das ist nicht neu, es ist die grundlegende Funktionsweise des Kapitalismus. Neu ist im Unterschied zu den von Neoliberalismus und Freihandel geprägten letzten Jahrzehnten, dass der Konkurrenzkampf nicht überwiegend ökonomisch – über Handelsabkommen und Lohnstückkosten – ausgetragen wird, sondern dass Staaten und das Militär eine entscheidende Rolle spielen. Die jeweilige Armee der kapitalistischen Staaten ist keine allgemeine Versicherung im Hintergrund wie in der Ära der Globalisierung, sondern muss aus Sicht der Regierungen und nationalen kapitalistischen Klassen in der Lage sein, die Interessen mit militärischer Gewalt durchzusetzen.

Epoche des Imperialismus

Nun ließe sich einwenden, das sei unvermeidlich, die EU hätte den militärischen Konkurrenzkampf nicht erfunden. Die USA, China und Russland hätten angefangen und jetzt müsse man nachziehen, so zumindest sieht es die EU-Kommission: “Der Rest der Welt beteiligt sich an einem Wettlauf um die militärische Modernisierung sowie technologische und ökonomische Vorteile.”

Das entspricht nicht ganz den Tatsachen, denn EU-Länder haben durchaus Militär eingesetzt, gegen Jugoslawien 1999, in Afghanistan ab 2001 und im Irak 2004. Richtig ist daran allerdings: die EU-Länder sind zunächst die Verlierer der neuen imperialistischen Epoche. Zum Beispiel leidet das deutsche Kapital mit seinem Exportmodell in alle Richtungen massiv unter der Blockbildung und der Entkoppelung der wirtschaftlichen Verbindungen zwischen Staaten und Blöcken (“Decoupling”).

Der Druck zu einem Strategiewechsel ist daher groß für das europäische Kapital. Insofern ist die EU-Aufrüstung eine Reaktion, allerdings keine, welche die Risiken für die Menschen minimiert und “mehr Sicherheit” schafft. Die Pläne der EU machen Europa unsicherer und einen Krieg wahrscheinlicher. Die arbeitende Klasse hat nichts zu gewinnen bei der Brutalisierung des Konkurrenzkampfes der herrschenden Klassen. Sie bezahlt doppelt: aus ihren Steuergeldern werden die Kredite der Kapitalgeber für die auf Pump  finanzierte Aufrüstung bedient, begleitet von der Kürzung sozialer Leistungen. Und im schlimmsten Fall bezahlen Arbeiter*innen und Jugendliche mit ihrem Leben im Krieg der Reichen und Mächtigen.

Zweite Runde in der Ukraine?

Die Formulierungen zur Ukraine zeigen, wie gefährlich die Pläne der EU-Kommission sind. Es heißt, “das Ergebnis des Krieges” wäre der “entscheidende Faktor in unserer gemeinsamen Zukunft in den kommenden Jahrzehnten […] Wenn zugelassen wird, dass Russland seine Ziele in der Ukraine erreicht, werden seine territorialen Ziele darüber hinaus ausgeweitet werden.”

Es wird so dargestellt, als wäre der Ausgang des Krieges ind er Ukraine offen, doch es gibt bereits ein Ergebnis: Im Abnutzungskrieg hat sich das größere Land durchgesetzt, die Ukraine wird die verlorenen Gebiete nicht zurückerobern. Was politisch passiert, sowohl in Russland als auch in der Ukraine, steht auf einem anderen Blatt, doch militärisch ist die Lage klar. Für die Revision der bisherigen Ergebnisse reichen mehr oder bessere Waffen für die Ukraine nicht aus. Damit “die Ukraine siegt”, wäre ein direktes militärisches Engagement von NATO- bzw. EU-Ländern nötig, das Weißbuch bereitet die entsprechende Argumentation vor: “Die militärischen Mobilitätskorridore der EU sollten bis in die Ukraine ausgeweitet werden (…).”

In der Entschließung des Parlaments zum “Weißbuch” wid diese These ergänzt: “das Schwarze Meer (ist) von einem sekundären zu einem primären militärischen Schauplatz für die EU und die NATO geworden, und (hat) sich neben der Ostsee zu einer für die europäische Sicherheit zentralen strategischen Region im Hinblick auf die Reaktion auf die Bedrohung durch Russland entwickelt.”

Die Ukraine sei die Frontlinie der europäischen Verteidigung, sie solle befähigt sein als “Stachelschwein” – so die Formulierung im Weißbuch – Russland aufzuhalten. Dass viele Ukrainer*innen keine “Stacheln” mehr sein wollen und sich schon 470.000 Menschen der Einberufung entzogen haben, ist für die EU-Kommission kein Thema. Manche “Militärexpert*innen” formulieren es noch brutaler und machen deutlich, dass sie die Ukrainer*innen als Kanonenfutter ansehen, um die russischen Truppen beschäftigt zu halten: “Die Top-Priorität ist, dass die Ukraine überlebt. Russland kann Europa nicht angreifen, solange es in der Ukraine im Krieg steckt. Darüber hinaus müssen die Europäer ihre Streitkräfte reformieren, dass sie durchhaltefähiger sind (…) Das braucht natürlich Zeit – und diese Zeit kann uns nur die Ukraine erkaufen.” (Gustav Gressel).

Nicht mehr Sicherheit

Wenn die EU-Kommission von Russland als Bedrohung redet, dann ist damit nicht gemeint, dass “der Russe” nächstes Jahr auf Berlin marschiert. Bereits Russlands zäher und verlustreicher Teilerfolg in der Ukraine stellt aus Sicht der EU-Kommission die Vorherrschaft der führenden EU-Staaten in Frage und wird als Angriff auf Europa definiert.

Somit ist das EU-Weißbuch eine Drohung: Die EU will bis spätestens 2030 so aufrüsten, dass die eigenen ökonomischen und geopolitischen Interessen militärisch durchgesetzt werden können – auf EU-Territorium und darüber hinaus, mit hoher Priorität direkt in der Ukraine, die laut Weißbuch “das zentrale Kampffeld für die Definition der neuen internationalen Ordnung ist.”

Europas Aufrüstung ist nicht defensiv. Massive Aufrüstung führt nicht zur Sicherung des Friedens durch Abschreckung. Im Kalten Krieg zwischen NATO und dem sowjetischen Block von Ende der 1940er bis 1989 bestand eine Ausnahmesituation durch die Existenz zweier gegensätzlicher sozialer Systeme. In Zeiten heißer werdender imperialistischer Konkurrenz standen in der Geschichte am Ende der Rüstungsprogramme immer Kriege. Das Weißbuch der EU-Kommission enthält die ernst gemeinte Drohung, dass die EU-Staaten sich auf den Krieg vorbereiten. Dieser muss nicht defensiv sein. Die Logik des Weißbuchs lässt sich auch dahingehend interpretieren, dass Vorbeugen besser sein kann als Reagieren – “präventive” Angriffe, um den Gegnern “zuvorzukommen”. Es wäre nicht das erste Mal in der Geschichte.

Bild: CC-BY-4.0: © European Union 2019 – Source: EP