Parlamentswahl in Polen: Massenbewegung an den Wahlurnen

Millionen Pol*innen jubeln: endlich scheint die Regierung der rechtspopulistischen Partei Recht und Gerechtigkeit (PiS) zu fallen. Das Bündnis Demokratische Opposition aus der Bürgerplattform (PO) des ehemaligen Ministerpräsident Donald Tusk, der Mitte-Rechts-Partei Dritter Weg und der Neuen Linken wird wahrscheinlich die neue Regierung bilden.

von Paul Smith, Alternatywa Socjalistyczna – ISA in Polen, und Conny Dahmen, Köln

Für die Rekordwahlbeteiligung von 74% sorgten vor allem weibliche und junge Wähler*innen, die sich am 15. Oktober in den Wahllokalen drängten, um nach jahrelangen Kämpfen auf eine Liberalisierung des Abtreibungsrechts und eine Rückkehr zu „Normalität“ und „Freiheit“ zu erreichen. Zwei Wochen vor der Wahl waren über eine Million Menschen in Warschau gegen die PiS auf die Straße gegangen.

Mit 35,4% der Stimmen bleibt die PiS stärkste Kraft, aber die PO (30,7%), der Dritte Weg (14,5%) und die Neue Linke (8,6%) verfügen über eine Mehrheit von 18 Sitzen im Parlament. Außerdem ist der vorgesehene Steigbügelhalter der PiS, die Konfederacja (eine Koalition aus rechtsextremen, nationalistischen und ultraliberalen Kräften), mit 7,2% der Stimmen ebenfalls Verliererin dieser Wahlen, so dass für die PiS eine Regierungsbildung schwer wird.

Widerstreitende Lager im polnischen Kapital

Der Wahlsieg der PiS vor acht Jahren war Ergebnis des Scheiterns der neoliberalen Regierung von Tusk. Angriffe auf die Arbeitnehmer*innenrechte, eine massive Zunahme prekärer Arbeitsverhältnisse und eine Anhebung des Rentenalters hatten große Proteste ausgelöst, aber aufgrund des Zusammenbruchs der Partei Demokratische Linke (jetzt Neue Linke) nach ihrem eigenen neoliberalen Abenteuer in der Regierung, und der Schwäche der Linken in Polen insgesamt, konnte sich die PiS als vermeintliche politische Alternative aufspielen.

Die PiS vertritt jedoch die polnische Bourgeoisie, und zwar jenen Teil, der starke polnische Kapitalisten als Garantie für ein (von der EU) unabhängiges Polen will. Um das zu erreichen, brauchte sie jedoch Zugeständnisse an die Arbeiter*innenklasse, wie die Einführung neuer Sozialleistungen und die Senkung des Rentenalters; begleitet von rassistischer und nationalistischer Demagogie. Zum Teil war sie damit erfolgreich: Während sich 2003 noch 77% der polnischen Banken in ausländischer Hand befanden, sind es jetzt weniger als 50%, und die staatlich kontrollierten Banken machen 40% des Sektors aus. Die Verschmelzung von Partei und Staat war ein weiteres Ziel der PiS. Der massenhafte Widerstand gegen die verfassungswidrige „Reform“ des Justizsystems, die Richter*innen, Staatsanwält*innen und Gerichte zu politischen Werkzeugen der PiS machte, ist noch im Gedächtnis.

Die Demokratische Opposition wiederum repräsentiert den Teil der polnischen Bourgeoisie, der für ein enges Bündnis mit dem europäischen und besonders dem deutschen Kapitalismus steht. Um sich als Alternative zur PiS zu präsentieren war Tusk nicht nur gezwungen, sich für ein Abtreibungsrecht bis zur 12. Schwangerschaftswoche auszusprechen, sondern auch für eine Lohnerhöhung für Lehrer*innen und den Verzicht auf Angriffe auf Renten und Sozialleistungen.

Stürzt mit der PiS auch ihre Politik?

Auch wenn die PiS allerlei Verzögerungen, Verhandlungen und Intrigen versuchen wird, werden PO, Dritter Weg und Neue Linke wohl eine neue Regierung bilden. Diese wird jedoch instabil sein und die enorm hohen Erwartungen ihrer Wähler*innen nicht erfüllen können. Schon jetzt deuten sich Konflikte und Verrat an: Władysław Kosiniak-Kamyk aus der Führungsriege des Dritten Weges deutete bereits an, Sozialversicherungsbeiträge für Unternehmen freiwillig zu machen, das 13. und 14. Monatsgehalt im Öffentlichen Dienst abschaffen und einer Liberalisierung von Abtreibungen im Koalitionsvertrag nicht zustimmen zu wollen.

Massenhafter Widerstand der Arbeiter*innenklasse, von Millionen von Frauen und jungen Menschen wäre die Folge, und die Neue Linke müsste sich endgültig entscheiden, auf welcher Seite sie steht. Einmal mehr sehen wir, dass eine echte Arbeiter*innenpartei fehlt und dringend gebraucht wird – eine Kraft, die für soziale Rechte, aber auch die Rechte von Frauen, LGBTQ+ Menschen, ethnischen Minderheiten und Migrant*innen kämpft und dabei nicht innerhalb der Grenzen des kapitalistischen Systems bleibt, sondern für einen sozialistischen Wandel eintritt.

Foto: Zorro2212, CC BY-SA 4.0 https://creativecommons.org/licenses/by-sa/4.0, via Wikimedia Commons