„INSORGIAMO“ – Die Geschichte des militanten Werkskollektivs bei GKN in Florenz

Das GKN-Fabrikkollektiv in Campi Bisenzio (Florenz) ist eine der kämpferischsten Realitäten der Arbeitermilitanz in Italien. Am 9. Juli 2021 versuchte das multinationale Unternehmen GKN, das sich im Besitz des Finanzfonds Melrose befindet, die mehr als 400 Beschäftigten des Werks zu entlassen – per E-Mail an einem kollektiven Urlaubstag und mit fadenscheinigen und heuchlerischen Rechtfertigungen. Den Bossen zufolge war das Werk zwar rentabel, aber nicht rentabel genug. Nach einer kollektiven Versammlung reagierten die Arbeitnehmer mit der Besetzung des Werks.

Es folgte ein Generalstreik für die Provinz Florenz, zu dem die nationalen Gewerkschaften mit Unterstützung der Basisgewerkschaften am 19. Juli aufriefen, und eine Demonstration vor den Toren des Werks am 24. Juli mit 8000 Teilnehmenden. Die anhaltende Besetzung der Fabrik und die vom Kollektiv durchgeführten Mobilisierungen führten zu zwei Demonstrationen in Florenz, die erste am 18. September 2021 mit 40.000 Teilnehmern und die zweite am 25. März 2023 mit 20.000 Teilnehmern. Am 20. September 2021 erkannte das Gericht von Florenz die Unrechtmäßigkeit der Entlassungen und den Verstoß gegen Artikel 28 des Arbeiters*innenstatuts an.

Die Übertragung des Eigentums an der Fabrik auf die QF von Francesco Borgomeo Ende 2021 brachte keine Änderungen für die Beschäftigten mit sich. Bis heute weigert sich Borgomeo, den Arbeiter*innen die ihnen zustehenden Löhne für alle ab dem 9. Oktober 2022 fälligen Monatszahlungen zu zahlen, obwohl ein Urteil des Arbeitsgerichts Florenz vom 23. März 2023 den Beschäftigten Recht gibt. Seit August 2022 haben die Arbeiter*innen die ehemalige GKN zu einer unabhängigen und sozial integrierten Fabrik erklärt und mit Unterstützung von Expert*innen, die mit dem Kollektiv solidarisch sind, einen industriellen Umstellungsplan für das Werk entwickelt. Die Arbeiter*innen haben sich der nachhaltigen Produktion von Elektrobatterien und Solarzellen zugewandt: eine Produktion, die vom Kollektiv im Dialog mit den lokalen Gemeinschaften und dem Gebiet geleitet wird. Die im März 2023 gestartete Crowdfunding-Kampagne zur Finanzierung des Projekts erreichte ihr Ziel von 75.000 Euro in etwa zwanzig Tagen und verdoppelte es innerhalb weniger Wochen. Die Pressemitteilungen des Kollektivs mit Einzelheiten zu ihrer Militanz und ihren Crowdfunding-Kampagnen sind über ihren Newsletter erhältlich: https://actionnetwork.org/forms/newsletter-collettivo-di-fabbrica-gkn

Exklusives Interview mit Francesco Iorio, Mitglied des Kollektivs, geführt von unseren italienischen Genoss*innen im April 2023 und erstmals veröffentlicht in der zweiten Ausgabe ihrer Zeitung Lotta per il socialismo.

Euer Fabrikkollektiv gibt es seit 2017. Könnt ihr uns mehr über die Geschichte des Kollektivs erzählen?

F: Wir sind aus dem FIAT-Werk in Florenz hervorgegangen. Im Jahr 1994 beschloss FIAT, seine Niederlassung zu schließen und einen Teil der Produktion in Campi Bisenzio an GKN zu verkaufen. Wir begannen mit der Herstellung von Fahrzeugkomponenten, einem Teil der Produktion, die FIAT in Florenz durchführte. Mit dem Generationswechsel wechselte auch die RSU (d.h. der Betriebsrat) mit einer neuen, jüngeren Führung. Von diesem Zeitpunkt an waren wir der Meinung, dass ein großes Werk mit damals 800 Beschäftigten eine andere Art der Organisation braucht. Wir stellten fest, dass in den Versammlungen viel zugehört, aber viel weniger gehandelt wurde. Aufgrund unserer Erfahrungen mit sozialer und politischer Militanz wurde uns klar, dass wir ein Instrument brauchten, das uns mit der Welt um uns herum verbindet und uns gleichzeitig ermöglicht, uns innerhalb unseres Werks zu organisieren. So wurde das GKN-Werkskollektiv geboren. Sobald sich ein Kampf vor Ort entwickelte, sei es ein Arbeitskampf oder die Schließung eines anderen Unternehmens, ging das Kollektiv aus dem Werk heraus, um unsere Solidarität zu zeigen und zu sehen, was vor sich ging, und beteiligte sich so auch an den Kämpfen anderer Belegschaften, die in Schwierigkeiten waren, mit Streiks, Spendensammlungen und einer ständigen Präsenz bei den Protesten. Dies ist eine andere Art und Weise, zumindest in Italien, zu verstehen, was es bedeutet, heute eine Gewerkschaft zu sein. Denn am Fabrikkollektiv kann sich jeder beteiligen, auch Nicht-Mitglieder und erst recht diejenigen, die nicht zu den RSUs gehören. All diese Solidarität kam zu uns zurück in Form der Unterstützung, die wir von all jenen bekamen, die uns bereits in Aktion gesehen hatten und uns als Fabrikkollektiv kannten.

Wie ist die Struktur des Kollektivs? Wie trefft ihr Entscheidungen? Gibt es feste Rollen?

F: Es gibt keine festen Rollen. Die Entscheidungen des Kollektivs werden in einfachen Versammlungen getroffen, die oft an verschiedenen Orten stattfinden, sei es in der Firma nach Ende der Arbeitsschicht oder in anderen Kreisen und sozialen Räumen am Abend. Hier werden die Initiativen, die ergriffen werden sollen oder an denen man sich beteiligen möchte, diskutiert, wobei jede*r zu Wort kommt. In einer einfachen Abstimmung wird dann entschieden, was man am besten tut und was man nicht tun sollte. Jeder kann seine Ideen einbringen. Wenn sie nicht übereinstimmen, wird diskutiert, bis eine Entscheidung getroffen werden kann. Es gibt keine*n Vorsitzende*n oder Schriftführer*in, keine Stimme, die mehr oder weniger gezählt wird. Alles ist demokratisch partizipativ.

Die Entwicklung eures Geschäftsplans fand im Dialog mit Expert*innen und Institutionen statt. Wie kommt dieser Dialog mit Externen im Fabrikkollektiv an?

F: Viele solidarische Personen haben ihr Fachwissen zur Verfügung gestellt, einfach weil sie eine andere Sichtweise auf die Industrie im allgemeinen Sinne einbringen wollten. Nicht eine Industrie, die auf einem Industriellen basiert, der so lange produziert, bis alles gut läuft, und dann, wie in unserem Fall, aufsteht und geht. Sondern sie sahen die Chance, eine andere Industrie zu entwickeln, eine Industrie, die auf den Prinzipien der Solidarität, der Ethik, der Berücksichtigung des Klimawandels und der Nachhaltigkeit beruht, mit den solidarisch eingebrachten Kompetenz eines ganzen Bereichs, mit der Kompetenz von Ingenieuren und Juristen. Das bedeutete, dass viele Vorschläge an uns herangetragen wurden. Über 20 Monate beratschlagten wir uns bei Treffen mit den solidarischen Unterstützer*innen und entschieden uns schließlich für die Produktion von Solarzellen und elektrischen Batterien. Wir sind der Meinung, dass dies mit öffentlichen Geldern für öffentliche Unternehmen geschehen muss und nicht mit öffentlichen Geldern für private Unternehmen, wie es bisher der Fall war. Vor allem müssen diese Unternehmen in den Händen der Arbeiter*innen liegen, die unserer Meinung nach schon immer in der Lage waren, diese Aufgabe zu bewältigen. Denn wir haben zwar Anweisungen bekommen, aber letztlich haben wir alles selbst gemacht. Unsere Idee ist es, ein öffentliches Zentrum zu schaffen, in dem Produktion, Forschung und Expertise zusammenkommen, um Schritte in Richtung nachhaltiger Mobilität zu gehen. Sehr oft kommt das Fachwissen aus dem Kreis solidarischer Sympathisant*innen, aber es könnte eine Partnerschaft mit der öffentlichen Universität werden.

Das GKN-Kollektiv verbindet den gewerkschaftlichen Kampf mit dem Kampf gegen Rassismus und Geschlechterdiskriminierung und für die Emanzipation von Migrant*innen und der LGBTQI+-Gemeinschaft. Warum ist es wichtig, all diese sozialen Kämpfe zu vereinen?

F: Wir sind oder waren – was auch immer – Metallarbeiter. Metallarbeiter haben sehr oft eine Vorstellung vom sozialen Leben, die sich auf das Innere des Tores stützt: Du arbeitest acht Stunden, dann kommst du raus und kümmerst dich nicht um alles, was um dich herum passiert. Viele der Metallarbeiter sind so. Es sind diejenigen, die delegieren, diejenigen, die sexistisch sind, die ihre Zigaretten auf den Boden werfen, weil irgendwer sie schon aufheben wird. Diese zwanzig Monate haben uns auch kulturell wachsen lassen. Es gibt so viele Fragen, die wir uns vorher nicht gestellt haben und die uns in dieser Situation bewusst gemacht haben, dass es eine andere Welt da draußen gibt. Wir haben uns also auf das eingelassen, was wir Konvergenz nennen, was eine sehr schwierige Sache war. Denn in jedem Fall kamen wir aus zwanzig Jahren der Rückständigkeit der Arbeiter*innenbewegung in so vielen mehr und mehr versteckten und unsichtbaren Bereichen: von den prekär Beschäftigten bis zu den Frauen, von der LGBTQI+-Bewegung bis zum Diskurs des radikalen oder gemäßigten Umweltschutzes. So viele Faktoren, die Teil des Versuchs des Kapitals sind, zu spalten, um weiter zu gedeihen. Wir haben erkannt, dass niemand allein gerettet wird. Wir sagen zum Beispiel: „Es gibt keinen sicheren Arbeitsplatz mehr, man kann jeden Moment entlassen werden. Warum also nicht alle zusammenstehen, um die Rechte aller durchzusetzen?“ Und gemeinsam haben wir auch gezeigt, dass es eine andere Zukunft geben kann, als die, die sie uns glauben machen wollen.

Die Forderungen von GKN richten sich auf die Erhaltung eines lokalen Produktionsstandortes. Seht ihr euch als Kollektiv als Teil eines größeren politischen Prozesses? Gibt es unterschiedliche Meinungen innerhalb des Kollektivs?

F: Es ist logisch, dass es unterschiedliche Vorstellungen gibt. Es gibt die eher konservative Idee, die besagt: „Lasst uns das behalten, was wir haben und wenn ein anderer Chef kommt, heißen wir ihn mit offenen Armen willkommen.“ Es gibt die eher revolutionäre Idee, unser eigener Herr zu sein und damit einen nie dagewesenen Präzedenzfall zu schaffen. Andere stehen in der Mitte. Aber das ist Teil eines Prozesses, der sich aus der Entlassung vor Ort und dem täglichen Leben ergeben hat. Wenn man mir gesagt hätte, dass wir am 9. Juli 2021 ankommen würden, während die Fabrik noch geschlossen ist, und dass wir einen Industrieplan entwickeln würden, hätte ich gesagt: Das ist Utopie. Aber in Wirklichkeit hat mir alles, was passiert ist, gezeigt, dass man diese Utopie verwirklichen kann, wenn man die Dinge gut macht, klare Vorstellungen hat und andere einbezieht. Wahrscheinlich stimmt es, dass es sich um einen lokal begrenzten Prozess handelt. Aber es ist ein Prozess, der, wenn er erfolgreich wäre, ein Beispiel dafür geben würde, dass es möglich ist. Ich will damit nur sagen, dass wir uns den Satz „Es ist nicht machbar“ aus dem Kopf schlagen müssen. Zu gewinnen ist eine andere Sache, aber es zu versuchen ist eine Verpflichtung. Eine Verpflichtung, die über das hinausgeht, was man sich darunter vorstellen kann. Es ist etwas, das zum Menschsein dazugehört: „Ich will nicht mehr ausgebeutet werden. Ich will meine Zeit nicht mehr verschenken. Ich will sie nicht mehr nutzen, nur um arbeiten zu müssen. Ich will nicht mehr außerhalb meines Betriebes keinen sozialen Raum haben, sondern ich will ihn innerhalb haben“. Ihr wisst, dass die Waffen des Feindes vielfältig sind. Dazu gehört, dass wir ohne Lohn bleiben, dass wir spontan entlassen werden und dass wir gespalten werden. Wir werden nicht auf dieses Spiel hereinfallen. Wir werden nicht aufgeben. Wir werden Erfolg haben. Und das wird vielen Arbeiter*innen den Anstoß geben, wenn sie vor die Tür gesetzt werden, eine viel radikalere Haltung einzunehmen: „Wenn GKN es geschafft hat, warum können wir es nicht auch schaffen?“

Das Interview im italienischen Original lesen: https://www.lottaperilsocialismo.it/635/gkn-di-firenze-un-modello-di-militanza-operaia 

oder auf Englisch: https://internationalsocialist.net/en/2023/09/interview

Foto: Valentina Ceccatelli, flickr, CC-BY-NC-SA 2.0