Wie man einen Krieg beendet – und wie nicht

Von Sebastian Rave, Bremen

Die Demonstrationen zu Beginn der russischen Invasion waren ein Ausdruck der Solidarität mit den angegriffenen Menschen in der Ukraine. Sie gaben den Antikriegsaktivist*innen in Russland Mut, die sich wochenlang der Repression widersetzten. Auch vor Ort in der Ukraine, im Widerstand gegen die Besatzung selbst, spielten die ukrainischen Massen eine entscheidende Rolle, bei Aktionen des zivilen Ungehorsams wie von Bäuer*innen, die russische Panzer stahlen, oder bei unbewaffneten Protesten, bei denen Menschen die Besatzungspanzer mit ihren Körpern blockierten.

Doch die Massen wurden in den Hintergrund gedrängt. In Russland gelang es dem Regime, die Bewegung zu unterdrücken. In der Ukraine wurde die Gesellschaft militarisiert, und es waren nicht mehr die einfachen Menschen, sondern schwer bewaffnete Soldat*innen, die gegen die Besatzung kämpften. In den NATO-Ländern waren Linke nicht in der Lage (oder nicht willens), Argumenten entgegenzutreten, wonach die logische Schlussfolgerung aus der Solidarität mit den Menschen in der Ukraine darin besteht, Waffen zu schicken, um sie in ihrem „Kampf um Selbstbestimmung“ zu unterstützen.

Natürlich ist der Kampf um Selbstbestimmung ein Element dieses Krieges. Aber es wäre naiv zu glauben, dass die militärische Hilfe der NATO-Mitglieder das Ziel der ukrainischen Unabhängigkeit, der Menschenrechte und des Friedens haben. Über jede Waffe und jeden Cent an finanzieller Hilfe wird sorgfältig Buch geführt, und wenn der Krieg vorbei ist, wird die Rechnung präsentiert, die die Abhängigkeit der Ukraine von ihren Verbündeten garantieren wird. Die Motivation der NATO-Verbündeten ist nicht eine selbstbestimmte Ukraine, sondern ein NATO-Brückenkopf direkt an der Grenze zum russischen Rivalen.

Wie man den US-Imperialismus nicht bekämpft

Manche glauben, und diese Position ist sogar in Teilen der neokolonialen Welt vorherrschend, dass alles, was die Vorherrschaft des US-Imperialismus in Frage stellt, ein Schritt nach vorne ist. Verständlich angesichts der Geschichte des US-Interventionismus, der inszenierten Putsche und der brutalen Kriege von Vietnam bis Irak.

Aber die Menschen in Hongkong oder die Uigur*innen in Xinjiang wissen, dass der Imperialismus nicht mit „Stars and Stripes“ kommen muss. Das Gleiche gilt für die Menschen in Tschetschenien, Syrien oder jetzt in der Ukraine, die alle den russischen Imperialismus kennenlernen durften. Wer die Verbrechen des chinesischen und russischen Imperialismus herunterspielt oder gar verteidigt, stößt diejenigen ab, die täglich unter den Folgen ihrer Politik leiden.

Manche argumentieren mit den Vorteilen einer „multipolaren Weltordnung“ – aber was wäre daran genau besser? Chinas Ambitionen unterscheiden sich nicht von denen Amerikas. Sie wollen nicht die Neokolonien befreien, die jetzt vom europäischen oder amerikanischen Imperialismus ausgebeutet werden, sondern die Ausbeutung unter ihrer Flagge fortsetzen und die Beute einheimsen. Ja, der US-Imperialismus muss zurückgedrängt werden – aber nichts ist gewonnen, wenn man einen imperialistischen Herrscher durch einen anderen ersetzt.

„Querfront“ oder „Volksfront ohne Kommunist*innen“?

Was aus der Sicht von Linken in neokolonialen Ländern falsch, aber vielleicht verständlich ist, wird aus der Sicht von Linken in imperialistischen Kernländern bizarr. In ihrer Rede auf einer der traditionellen Ostermarschdemonstrationen in Potsdam ging Sevim Dağdelen, Bundestagsabgeordnete für DIE LINKE, so weit, die herrschende Klasse in Deutschland als „Kompradoren-Bourgeoisie“ zu bezeichnen, d.h. als eine Kapitalist*innenklasse, die nicht ihre eigenen Interessen verfolgt, sondern ein reiner Vasall des US-Imperialismus ist. Diese grobe Unterschätzung der unabhängigen Rolle, die der deutsche Imperialismus spielt, ist gefährlich, und öffnet rechten und nationalistischen Elementen, die einen stärkeren und aggressiveren deutschen Imperialismus wollen, Tür und Tor.

Und ja, es gibt eine ganze Reihe von Befürwortern einer „Querfront“ gegen den Krieg. Meistens von rechts, da die Rechten von so einer Plattform für ihre Ideen profitieren. Aber in einigen Fällen wurde die rechtsoffene Querdenken-Splitterpartei „Die Basis“ explizit eingeladen, auf den Ostermärschen in Deutschland zu sprechen. Diese Art von Bündnissen kann die Bewegung nur schwächen. Die Aufgabe von Sozialist*innen kann aber nicht sein, fernzubleiben, wenn Menschen gegen den Krieg protestieren, sondern sich daran zu beteiligen, auch, um einen ideologischen Kampf gegen diejenigen zu führen, die die Gelegenheit nutzen wollen um ihre rechte Agenda voranzutreiben.

Meistens ist es mit der „Querfront“ aber eher so, dass linksliberale Befürworter*innen von Waffenlieferungen Beispiele offener Pro-Putin-, rechter oder sogar faschistischer Elemente nutzen, um Proteste zu diskreditieren. Dabei geht es den Linken, die (zu) breite Bündnisse gegen den Krieg initiieren, meistens gar nicht unbedingt darum, explizit Rechte einzuladen, sondern vielleicht konservative Kräfte und Teile der Kapitalist*innenklasse, die die Sanktionen gegen Russland kritisieren. Dabei wird übersehen, dass diese Kräfte die Sanktionen nicht ablehnen, weil die Mittel der wirtschaftlichen Kriegsführung vor allem den einfachen Arbeiter*innen in Russland (und in Europa) schaden, sondern weil es ihren Profiten schadet. Wenn Linke versuchen, eine „Volksfront“ (eher: „Volksfront ohne Kommunist*innen“) mit ihrer eigenen Bourgeoisie zu beschwören, die in China investieren oder billige Ressourcen aus Russland kaufen will, wird dabei nichts Fortschrittliches herauskommen.

Für eine unabhängige Klassenposition

Stattdessen braucht es eine unabhängige Klassenposition, eine Position, die sich nicht auf die Seite einer der imperialistischen Mächte schlägt und die Interessen der Arbeiter*innenklasse in den Mittelpunkt stellt und nicht die Profitinteressen der Kapitalist*innen. Befürworter*innen einer Anti-Kriegs-Bewegung, die bürgerliche Elemente, Konservative oder sogar rechte Nationalist*innen einschließt, werden argumentieren, dass eine Bewegung so breit wie möglich sein sollte. Der Preis von möglichst großer Breite ist immer fehlende politische Klarheit.

Das „Manifest für den Frieden“ von Sahra Wagenknecht und Alice Schwarzer erwähnte zum Beispiel nicht die deutsche Aufrüstung. Zur Belohnung sprach ein ehemaliger General auf der Demonstration. Wagenknechts Anhänger*innen würden argumentieren, dass weniger Menschen gekommen wären, wenn der Aufruf linker gewesen wäre. Es ist fraglich, ob das stimmt. Vor allem schwächt so ein Ansatz die Bewegung politisch.

Denn die Kosten für die gestiegenen Rüstungsausgaben werden durch den Abbau von Sozialleistungen bezahlt. Der Spiegel zitierte kürzlich Kreise im Verteidigungsministerium, die behaupteten, dass Lohnerhöhungen im öffentlichen Dienst den Spielraum für notwendige Investitionen in die Einsatzbereitschaft der Bundeswehr verringern würden. Aber selbst diese bisher erkämpften bescheidenen Lohnerhöhungen bleiben hinter der Inflation zurück, die ihrerseits eine direkte Auswirkung des Krieges ist. Wenn Streikende für höhere Löhne kämpfen, um mit den steigenden Lebenshaltungskosten Schritt zu halten, werden sie sich auch fragen, was gegen diese Ursache des Problems getan werden kann. Wenn eine Antikriegsbewegung Antworten hätte, würde sie in der Arbeiter*innenbewegung einen starken Verbündeten finden.

Die „traditionelle Friedensbewegung“ macht den Fehler, als einzige Forderung zu erheben, dass sich die herrschenden Klassen an die Spielregeln halten, internationale Verträge einhalten, auf die UNO hören und dass die Diplomatie regieren soll. Klar, besser als Schießen und Töten. Aber Forderungen, die sich darauf beschränken, dass die herrschende Klasse sich vertragen soll, weisen der Arbeiter*innenklasse eine Zuschauerrolle zu, bei der sie die Aufführung der Herrschenden zwar beklatschen oder ausbuhen kann, sich aber nicht an dem Stück beteiligt.

Aufklären, agitieren, organisieren

Die Aufgabe der organisierten Linken muss es sein, die Klasse über alle denkbaren politischen Fragen aufzuklären. Jede Demonstration, bei der vage Aussagen gemacht werden, um den Zuspruch zu erhöhen, ist eine verpasste Gelegenheit. Fragen von Krieg und Frieden sind hochpolitisch. Die Menschen hungern nach Antworten, nach Analysen, nach Lösungen. Wenn man sich weigert, ihnen Argumente zu liefern, entwaffnet man die Friedensbewegung. Rechte Elemente werden dann versuchen, die sich ihnen in Form von politischer Verwirrung bietende Gelegenheit zu ergreifen.

Wenn die Arbeiter*innenklasse nicht als Akteurin des Wandels, als historisches Subjekt, gesehen wird, bleibt einem nichts übrig als sich auf die bestehenden Kräfte zu verlassen und sie um Veränderungen bitten. Linksliberale, der rechte Flügel der LINKEN und andere Sozialdemokrat*innen teilen in dieser Hinsicht dieselbe Perspektive wie die Führung der Friedensbewegungen: Beide sehen nur Staaten und ihre Führer als politisch Handelnde. Die sich daraus ergebenden Positionen sind das Gegenteil von einander: Die Linksliberalen schließen ihren Frieden mit der herrschenden Klasse und stimmen Waffenlieferungen an den ukrainischen Staat zu. Die Pazifist*innen appellieren an die herrschende Klasse, „Diplomaten statt Granaten“ einzusetzen. Aber beide haben gemeinsam, dass keiner von ihnen eine Klassenposition einnimmt.

Aber was ist ein Klassenstandpunkt? Darauf zu verweisen, dass die Klassengesellschaft, der Kapitalismus und der Wettbewerb zwischen den Nationalstaaten die Ursache für den Krieg ist. Zu erklären, dass es die Arbeiter*innenklasse ist, die nicht nur den Preis für Kriege zahlt, sondern auch die Macht hat, sie zu beenden: Durch die Stellung im Produktionsprozess und in der Logistik kann sie die Kriegsmaschinerie zum Stillstand zu bringen. Das haben die Arbeiter*innen zuletzt unter Beweis gestellt, als Eisenbahner*innen in Weißrussland den Transport von russischen Militärgütern sabotierten, oder als italienische Hafenarbeiter*innen sich weigerten, Waffen in die Ukraine zu laden, die als „humanitäre Hilfe“ gekennzeichnet waren.

Nur eine Klasse kann Kriege stoppen

Arbeiter*innen und Arme bilden die Mehrheit derer, die in Uniformen gesteckt werden und den Befehl erhalten, ihre Klassenbrüder und -schwestern auf der anderen Seite des Schützengrabens zu erschießen. Putins „Teilmobilisierung“ richtete sich unverhältnismäßig stark gegen unterdrückte Minderheiten in Regionen wie Dagestan und schickte unausgebildete und unterversorgte Soldaten unter brutalen Bedingungen an die Front, wo viele einen frühen Tod fanden. Je länger der Krieg dauert, desto deutlicher wird die Kluft zwischen den Kriegstreibern im Kreml und denjenigen, die ihren Befehlen Folge leisten müssen. Die ersten Proteste von Angehörigen hat es schon gegeben.

Auch wenn die ukrainischen Soldat*innen immerhin die Motivation haben, ihr Leben und ihr Zuhause gegen eine Besatzungsmacht zu verteidigen, ist die ukrainische Armee auch die Armee eines bürgerlichen Staates, mit dem Selenkskiy-Regime als dem Repräsentant der Oligarch*innenklasse, die über eine Gesellschaft herrscht, in der die Ungleichheit zwischen Arm und Reich im Krieg immer größer und Gewerkschaftsrechte angegriffen wurden. Immer mehr einfache Ukrainer*Innen fragen sich, warum sie in den „Zermürbungskrieg“ um blutige Trümmerhaufen wie Bachmut geschickt werden müssen.

Wir leugnen nicht das Recht der Menschen in der Ukraine, sich gegen die Besatzung zu verteidigen. Aber die Art und Weise, wie der Krieg um die Ukraine jetzt geführt wird, von imperialistischen Mächten, die das Land verwüsten, kann nicht in ihrem Interesse sein. Der beste Weg für die Menschen in der Ukraine, sich gegen die Besatzung zu wehren, besteht darin, ihren eigenen Oligarch*innen, ihren Politiker*innen und Generäl*innen die Initiative zu entziehen und sie selbst in die Hand zu nehmen: indem sie an die russischen Soldat*innen appellieren, die blutige Besetzung zu verweigern, ihre Waffen umzudrehen und sich gegen Putins Regime zu stellen. Solange die ukrainische Armee jedoch im Schatten des westlichen Imperialismus steht, werden die russischen einfachen Soldat*innen die Aufrufe, die Waffen niederzulegen, nicht ernst nehmen. Eine internationale Antikriegsbewegung muss sich ein einfaches, aber klares sozialistisches Programm geben: Die Kriegstreiber*innen, also die herrschenden Klassen der imperialistischen Mächte, zu stürzen, ihre zerstörerischen militärisch-industriellen Komplexe zu zerschlagen, die gesamte militärische in zivile Produktion umzuwandeln und eine Gesellschaft aufzubauen, die Konkurrenz durch Solidarität ersetzt. In anderen Worten: Dauerhaften Frieden erreichen durch eine Revolution, die die Ursachen der imperialistischen Kriege und des Nationalismus beseitigt und eine sozialistische Welt aufbaut

Dieser Artikel ist eine übersetzte und gekürzte Fassung eines auf englisch erschienenen Artikels in der „Socialist World“, dem Magazin der ISA.

Bild: Elke Wetzig CC BY-SA 4.0