Wenn Räte – dann auch richtig! Zu den Forderungen der „Letzten Generation”

Wenn man gerade einen Artikel über Forderungen der „Letzten Generation“ schreibt muss man zwei Sachen unbedingt voranstellen:

  1. Nein, wir finden die Aktionsformen der „Letzten Generation“ nicht schlau. Sie verprellen potentiell eine Masse von Leuten, die eigentlich auch Angst vor dem Klimawandel haben. Sie legen einen falschen Fokus auf Individualverkehr statt dem ganzen Wahnsinn der kapitalistischen Produktion und Warenketten. Sie verlangen von Aktivist*innen eine Selbstverpflichtung, in den Knast zu gehen  und vor allem: Sie sehen den Kampf gegen den Klimawandel als Aufgabe einer Reihe von individuellen Einzelaktivist*innen und verkennen völlig die zentrale Rolle von uns allen als Arbeiter*innen, die die Produktion, den Verkehr, die ganze Art wie die Gesellschaft funktioniert von heute auf morgen revolutionär umstellen könnten, wenn wir es wollen. (Dazu später mehr)
  2. Ja, wir verteidigen sie trotzdem gegen die absurde Hetze durch Medien und Politik. Es ist schon ekelerregend wenn in einer Zeit, in der Millionen Menschen vor Flutkatastrophen fliehen oder durch Dürreperioden wegen Nahrungsmangel sterben (während mehr Nahrung als nötig produziert wird, aber Massen davon weggeschmissen werden um Profite hochzuhalten) die gesamte Medienlandschaft auf einer Gruppe Menschen rumhackt, die sich Sorgen um den Kollaps der Ökosysteme macht. Dieselben Politiker*innen, die hämisch „Balireise“ schreien wenn es um die letzte Generation geht, lassen sich täglich auf Steuerkosten in absoluten Benzinschleudern rumfahren und haben  einen echten Nachfolger für das 9€-Ticket verhindert. Ganz zu schweigen von den eigentlichen „Ökoterroristen“, nämlich den Aktionär*innen, die jährlich Milliarden scheffeln durch den Verkauf von Autos, Panzern oder Strom aus Kohlekraftwerken oder ganze Weltregionen vergiften um an die Rohstoffe für Mikrochipproduktion zu kommen.

Trotzdem lohnt es sich, gerade wegen dem absoluten Fokus der Medien auf die „Letzte Generation“ genauer hinzuschauen: Was fordern die denn eigentlich? Und ist das überhaupt radikal? Spoiler Alarm: Leider nein.

Die Forderungen nach einem 9€ Ticket, während der größte Teil der Umweltbewegung kostenlosen öffentlichen Personennahverkehr fordert (und Fridays for Future gemeinsame Streiks mit ver.di verknüpft mit der Tarifrunde Verkehr organisiert) ist schon mal sehr angepasst. Und auch ein Tempolimit auf Autobahnen in Deutschland ist alles andere als revolutionär – was man schon gut mit Blick auf die USA sehen kann wo es unglaubliche Emissionszahlen gibt, aber schon immer nur je nach Bundesstaat 113 bis 120kmh gefahren werden dürfen.

Bürger*innenräte?

Bleibt die Forderung, mit der wir uns hier hauptsächlich beschäftigen wollen: Die nach den sogenannten “Gesellschafts-” oder „Bürger*innenräten“.

Die „LG“ will sogenannte Bürger*innenräte schaffen, in ihrer Vorstellung zufällig ausgeloste Bürger*innen die einen gesellschaftlichen Querschnitt repräsentieren, sich über eine längere Phase von Expert*innen zu Umwelttechnischen Fragen beraten lassen und dann verbindliche Handlungsvorschläge an die Politik zur Verhinderung der Klimakatastrophe formulieren sollen.

Damit ist die „LG“ zumindest schon einen gewissen Schritt weiter im Vertrauen darauf, dass durchschnittliche Menschen bessere Lösungen finden werden als durch tausende Lobbyisten bearbeitete (oder direkt bestochene) Politiker*innen. Und wir Sozialist*innen wollen doch auch Räte, warum sind wir also nicht zufrieden oder sogar hellauf begeistert von der Forderung?

Zuerst einmal: Es gab schon sehr viele Versuche (z.B. durch in jahrelanger Vorarbeit erarbeitete erfolgreiche Volksentscheide) Politiker*innen verbindliche Vorschriften zu machen, ob in Hamburg durch den Volksentscheid gegen die Privatisierung der Krankenhäuser oder in Berlin zur Enteignung der großen Immobilienkonzerne. Das Hauptproblem dabei: Am Ende sollen die handelnden Personen dann trotzdem wieder dieselben Politiker*innen sein denen man am Anfang nicht vertraut hat. Und statt sie mit einer wirklichen Massenbewegung zu konfrontieren gibt man ihnen monatelang Zeit, sich am Ende den Empfehlungen der Bürger*innenräte durch bürokratische Tricks oder verhindernde Gesetzgebungen wieder zu entziehen.

Hätte man irgendein Vertrauen darauf, dass Politiker*innen der herrschenden, mit dem Kapitalismus arrangierten Parteien Argumentationen zugänglich sind – warum haben die dann in den letzten Jahrzehnten alle Ratschläge der Klimawissenschaftler*innen dermaßen konsequent in den Wind geblasen und weitergemacht wie vorher (oder wie vorher plus 2% mehr Greenwashing in ihren Wahlversprechen)?

Wer entscheidet darüber wie die Expert*innengremien die die Bürger*innenräte beraten sollen zusammengesetzt sind? Energieunternehmen, Pharmakonzerne, Rüstungskonzerne und Think Tanks wie Bertelsmann machen seit Jahrzehnten eigene Forschung und wie jede*r weiß, kann man durch geschicktes Umstellen von Fragestellungen Ergebnisse sehr effektiv verändern.

Aus welchem Grund sollte die Beeinflussung durch die Massenmedien spurlos an den Menschen in Bürger*innenräten und ihrer Meinungsbildung vorbeigehen? Wie lohnenswert wäre es denn für Konzerne, herauszufinden wer genau in diesen Bürger*innenräten sitzt und zu versuchen Mehrheitsverhältnisse durch genau dieselbe Art Lobbyarbeit wie sie im Bundestag läuft zu verändern? (wer schreckliche Beispiele dafür haben will kann recherchieren wie versucht wurde in den USA bei den Prozessen gegen Aktivist*innen der Black Panther Party die Jurymitglieder im Sinne von FBI und Staat zu beeinflussen)

Und am entscheidendsten: Welche Garantie, welche Hebel, welche Druckmittel hat denn so ein Bürgerrat ab dem Moment wo er seine Empfehlung abgegeben hat?

Arbeiter*innenräte!

Räte wie wir als Sozialist*innen sie uns vorstellen entstehen und arbeiten vollkommen anders.

Wenn wir Räte sagen, dann meinen wir tatsächliche Selbstverwaltung unserer Betriebe, Nachbarschaften oder Bildungseinrichtungen – und nicht Petitionsausschüsse im Parlament und eine Demokratie, die am Betriebseingang aufhört. Die Räte, die wir meinen, entscheiden als Expert*innen ihrer eigenen Lebenssituation und nicht als von vermeintlichen Expert*innen beratene Zufallsgremien. Selbstverständlich stehen sie im Austausch mit anderen Räten in anderen Betrieben oder Nachbarschaften – sowie auch im Austausch mit Räten die in anderen Ländern in ähnlichen Situationen entscheiden müssen wie wir produzieren und die Gesellschaft organisieren wollen.

Die Räte, wie Sozialist*innen sie meinen, entstehen organisch in Kämpfen und im Widerstand gegen die aktuellen Besitzverhältnisse und den herrschenden Staat der Kapitalisten. Und das ist entscheidend, weil sie auf ihre eigene Kraft vertrauen und nicht darauf, dass am Ende die handelnden Personen weiter Chef*innen oder Politiker*innen bleiben. In diesen Räten kann und muss es eine jederzeitige Wähl- und Abwählbarkeit geben können – damit Personen, die durch Anpassungsprozesse, Lobbyismus oder Korruption nicht mehr die Interessen der Mehrheit der Menschen vertreten, die sie gewählt haben, ersetzt werden können.

Und wo solche Räte entstanden sind, haben sie nicht darauf gewartet das korrupte Politiker*innen oder ultrareiche Chefs ihnen Lösungsvorschläge anbieten, sondern selbst angefangen Alternativen zu entwickeln. Eines der besten Beispiele ist der Plan zur Produktionsumstellung von Lucas Aerospace.

Als die AFD in NRW von der Forderung der Letzten Generation nach Gesellschaftsräten gehört hat, haben sie eine Erklärung veröffentlicht, in der sie befürchteten, dass die LG „in Deutschland eine Räterepublik errichten“ wolle. Leider will die Letzte Generation das nicht. Aber zur Beruhigung für den politischen Kompass der AFD: Wir wollen genau das – und zwar nicht nur in Deutschland, sondern international.

Alle Macht den Räten!

Foto: Letzte Generation