Fahrer*innen von Lieferdiensten streiken weltweit – was steckt dahinter?

Egal ob in den Arabischen Emiraten, der Ukraine, Russland, der Türkei, Hong Kong/China, Pakistan, Deutschland, Frankreich, Griechenland oder Großbritannien – überall auf der Welt haben in den letzten zwei bis drei Jahren trotz Corona und Krieg beeindruckende Streikbewegungen in den Lieferdiensten stattgefunden. Daran beteiligt waren und sind vor allem migrantische und sehr junge Kolleg*innen, denen Löhne, Arbeitsschutz und jegliche Art von Würde immer wieder aberkannt werden. Obwohl dieser Bereich davon geprägt ist, dass viele Arbeiter*innen ihn schnell wieder verlassen, sobald sie können, gelang es ihnen in vielen Ländern trotzdem, sich zu organisieren.

Anne Engelhardt, SAV Kassel

Das Versprechen

In den letzten Jahren entwickelte sich die sogenannte „Plattformökonomie“ oder „Gig Economy“. In der Vermarktung der Hausarbeit („Helping“), des Tourismus („AirBnB“) und vor allem in der Lebensmittellieferung werden Online-Plattformen genutzt, um möglichst billige unorganisierte Arbeitskräfte anzuwerben. Mit ein paar Klicks lässt sich ein Arbeitsverhältnis herstellen, ohne eine Personalabteilung, ohne Sozialabgaben, ohne Arbeitsschutz. Das gibt den Anschein freier Arbeitseinteilung und Autonomie über die eigene Zeit. Vor allem bei den Fahrradkurieren wird behauptet, man würde über das Fahrradfahren noch eine besondere Fitness erreichen. Arbeiten und Sport verbinden – wieso nicht? Auch der Zugang zum Arbeitsmarkt ist leicht und wird nicht durch Sprachbarrieren oder komplizierte Arbeitsverträge behindert, was vor allem vielen internationalen Kolleg*innen den Einstieg erleichtert.

Die Realität

Die Bezahlung pro Einsatz („Gig“) ist so niedrig, dass die Arbeitenden in dieser Branche in vielen Ländern pro Tag bis zu 14 Stunden arbeiten, um von der Arbeit einigermaßen leben zu können. Das Trinkgeld können sie behalten, allerdings nicht immer. Der Lieferdienst Lieferando (gehört zur Just Eat Takeaway) hat Kund*innen den „Service“ angeboten das Trinkgeld gleich bei der Bestellung zu überweisen. Allerdings sind diese Gelder nicht bei den Fahrer*innen sondern direkt beim Unternehmen gelandet. In vielen Ländern sind die Arbeitsbedingungen zudem unerträglich. Die Lieferunternehmen werben damit, dass sie ein Produkt schneller als ein anderes Unternehmen bei den Bestellenden vorbeibringen lassen können, zum Beispiel mit Slogans wie „Schneller als dein Eis schmilzt“. Der zeitliche Konkurrenzdruck der Unternehmen wird direkt an die Arbeitenden weitergegeben. Da diese pro Lieferung bezahlt werden, müssen sie sich beeilen, um pro Tag möglichst viele Aufträge abzuarbeiten. Mit dem Fahrrad oder Motorrad zwängen sie sich durch volle Straßen, missachten Verkehrsordnungen und riskieren ihr Leben. In vielen Großstädten hat das Wachstum der Branche zu schweren und tödlichen Verkehrsunfällen geführt. In Ljubljana, der Hauptstadt von Slowenien haben sich die Unternehmen Glovo, Wolt und der Bürgermeister letztes Jahr (2022) zusammengeschlossen, um ein Gesetz zu verabschieden, das Rider mit Nummern kennzeichnet. Diese schlossen sich ebenfalls unter dem Motto „ReWolt“ zusammen und streikten gegen diese Markierung. Sie forderten, dass die Aufträge besser bezahlt und der Arbeitsdruck reduziert wird, da dadurch Verkehrsunfälle vermieden werden können. 

Die Manipulation der Aufträge

Die Erfindung und Einführung neuer Technologien haben im Kapitalismus nicht die Aufgabe Arbeit zu erleichtern, sondern vor allem mehr Mehrwert abzupressen. In den Plattform-Firmen werden dafür regelmäßig die Algorithmen manipuliert. In Hongkong streiken seit drei Jahren immer wieder Rider gegen die Veränderung der Stadtpläne. Beispielsweise wurde die Distanz zu den Kund*innen verkürzt, indem in der App nicht der eigentliche Weg, sondern die Luftlinie angegeben wird. Das bedeutet, dass auch die Bezahlung pro Distanz und Spritkosten dementsprechend niedriger angesetzt wird, als sie eigentlich sein müsste.

Bei Wind und Wetter…

Auch extreme Wetterbedingungen werden von den Unternehmen nicht berücksichtigt. Als in Berlin im Februar 2021 ein Schneesturm tobte, schlossen viele Lieferdienste vorerst ihre Türen. Aber das Start-Up Gorillas, das erst während der Pandemie gegründet wurde und durch die hohe Auftragslast boomte, warb damit, dass ihre Rider “Draufgänger” seien und auch im Schneesturm ausliefern würden mit dem Motto „Riders on the Storm“. Allerdings hatte das Unternehmen die Rechnung ohne seine Arbeitenden gemacht. Die vor allem migrantischen Kolleg*innen, die während der Pandemie auf den prekären Job bei dem Unternehmen angewiesen waren, traten spontan in einen Streik. In Deutschland sind wilde Streiks sehr unüblich, die Gewerkschaft ver.di weigerte sich zunächst, den Kolleg*innen den Rücken zu stärken, weil sie juristische Konsequenzen fürchtete. Doch die internationalen Erfahrungen der Kolleg*innen bestärkten sie jeweils, sich trotzdem weiter zu engagieren. Sie wurden stattdessen von kleineren Gewerkschaften unterstützt und es gab eine Reihe verschiedener Solidaritätsaktionen aus anderen Branchen. Momentan klagen die Kolleg*innen des Gorillas Collective gegen das restriktive Streikrecht, das Streiks außerhalb von Tarifverhandlungen verbietet.

Kampf um Löhne

Neben den gefährlichen Arbeitsbedingungen kämpfen die Rider auch um höhere Löhne. Denn natürlich – wenn pro Ausfahrt die Bezahlung höher ist, ist der Druck auch geringer, besonders schnell oder besonders gefährlich zu fahren oder lange arbeiten zu müssen. In Dänemark hat das Unternehmen Wolt statt einer Lohnerhöhung den Kolleg:innen einen Kasten Limo hingestellt. Diese organisierten ebenfalls einen „wilden“ Streik in dem sie „Löhne statt Limo“ forderten. In der Ukraine haben die Rider seit 2019 ein Gewerkschaftskollektiv gegründet, das auch unter den Bedingungen des Krieges in Lviv im Sommer 2022 bereits gegen Bolt gestreikt hat und deren Zentrale blockierte. Die Fahrer*innen haben die Plattform Glovo genutzt, um neben den Diensten auch bei der Versorgung der Kriegsregionen mit Medikamenten zu helfen. Die niedrigen Löhne und weitere Lohnkürzungen machen diese Doppelarbeit jedoch immer schwieriger.

Gegen Repressionen

Doch nicht nur die Unternehmen machen den Ridern das Leben zur Hölle. Auch die jeweiligen Staaten sorgen dafür, dass die Arbeitsbedingungen prekär bleiben. In Russland haben Kuriere ebenfalls seit zwei Jahren immer wieder gegen die Konzerne Yandex und Delivery Club gestreikt (letzterer wurde jetzt von Yandex aufgekauft). Im Zuge dessen wurde Kirill Ukraintsev, der Vorsitzende der unabhängigen Kuriergewerkschaft, im April 2022 verhaftet. Seine Haft wurde unter Ridern weltweit zum Politikum gegen das russische Regime. In vielen Ländern organisierten Rider Veranstaltungen, protestierten vor Botschaften, sendeten Solidaritätsschreiben und versuchten auch in vielen Städten Russlands trotz Kriegsrepressionen für die Freilassung von Kirill zu kämpfen. Die Bewegung hatte Erfolg: Am 9. Februar 2023 wurde Kirill endlich freigelassen. Das ist auch bitter nötig, denn die Gewerkschaft hat einige Kämpfe vor sich. Den Kolleg:innen der Branche wurde durch ein neues Plattformgesetz der Russischen Föderation gerade der Status als Arbeitende aberkannt, was bedeutet, dass sie ihr Recht um einen Tarifvertrag zu kämpfen, verlieren. Auch in China wurde Mengzhu, der Vorsitzende einer selbstorganisierten Gewerkschaft, festgenommen und erst nach sehr vielen Protesten und internationalem Druck wieder freigelassen. In Indonesien sind die Repressionen seitens des Staates offen aggressiv. Rider haben sich aus Protest den Mund zugenäht und damit weltweit Aufsehen erregt und moralischen Druck auf die Regierung ausgeübt.

International organisieren

Die Pandemie hat diesen Lieferdiensten enorme Gewinne beschert und zum Aufbau großer Überkapazitäten geführt, wodurch momentan der große Ausverkauf stattfindet und sich Unternehmen gegenseitig zerfleischen. Das geht natürlich auf Kosten der Kolleg:innen, deren Betriebsstrukturen dadurch immer wieder verändert werden. Neue Angriffe werden vorbereitet, um Anteile von Unternehmen für den Verkauf vorzubereiten. Aufgrund dessen kommt der Sektor auch nicht zur Ruhe. Die Kolleg:innen wehren sich gegen jeden neuen Angriff. Dabei ist es von Vorteil, dass der Sektor sich immer mehr monopolisiert und immer weniger Player den Markt kontrollieren. Denn so wird für die  Kolleg*innen sichtbar, dass sie weltweit zu einer riesigen Gruppe Arbeitender gehören, die ähnlichen Bedingungen ausgesetzt sind. Auf Social Media vernetzen sich die Kolleg:innen bereits seit Monaten, schicken Solidaritätsbotschaften, versuchen Streiks zu koordinieren und sich in Online-Meetings über Strategien auszutauschen. Leider sind viele regionale Gewerkschaften dabei oft eher ein Hindernis, als Support. In Deutschland wurde unter den Ridern skandalisiert, dass ver.di, die viele Ressourcen hat, sich weigerte, die Rider zu organisieren, unter anderem mit der Begründung, sie hätten nicht genug Personal, das Englisch spricht. In vielen anderen Ländern gelten Rider als „unorganisierbar“, da viele es nicht lange in der Branche aushalten. Die Kolleg*innen haben sich all den Vorurteilen und Hindernisse zum Trotz organisiert. Deren Erfahrungen können bei weiteren transnationalen Kämpfen und Aufbau internationaler Solidarität enorm bereichern.

Foto: FAU Berlin, CC BY 4.0 https://creativecommons.org/licenses/by/4.0, via Wikimedia Commons