Kämpfen wie in Britannien: Streiks und Proteste gegen Verarmung

Es ist der lang erwartete Sturm. In Britannien wehren sich Arbeitende in sämtlichen Betrieben gegen Niedriglöhne, galoppierende Inflation und steigende Energiepreise. Rassismus, Sexismus, Transphobie, der Klimawandel und streikfeindliche Gesetze stehen ebenfalls auf der Tagesordnung. Kommt im Herbst der Generalstreik?

Von Anne Engelhardt, Kassel

In Britannien haben Brexit, Pandemie, der Ukrainekrieg und die unfähige Tory-Regierung unter Boris Johnson vor allem Arbeitende und Arme getroffen: 1,2 Millionen Menschen mehr leben heute unter der Armutsgrenze als noch vor einem Jahr. Berechnungen gehen davon aus, dass über 11.000 Menschen  diesen Winter nicht überleben werden – sie haben die Wahl zu erfrieren oder zu verhungern. Die neue Premierministerin Liz Truss hat nicht vor, eine Wende einzuleiten, vielmehr stimmte sie zu, dass Unternehmen während Streiks Leiharbeiter*innen zum Streikbruch anwerben können. Außerdem will sie „radikale Steuersenkungen“ für Unternehmen durchsetzen.

Aus allen Rohren

Die Zeit der Zurückhaltung angesichts von Pandemie und Krieg ist vorbei. Die Konzerne haben große Gewinne eingefahren, Jobs und Löhne gestrichen, während Menschen in systemrelevanten Berufen wie im Nah- und Fernverkehr, der Post, den Kommunikationsdiensten, Krankenhäusern, Schulen, Universitäten, und Lieferdiensten den Laden am Laufen hielten und riskierten, an Corona zu sterben. Derweil feierte die Regierung unter Boris Johnson Parties und hielt die Füße still, als bei dem traditionsreichen Fährunternehmen P&O Ferries innerhalb von anderthalb Stunden 800 Kolleg*innen auf die Straße gesetzt und gegen Niedriglöhner*innen ersetzt wurden. 

Über die Festtage des 70-jährigen Thronjubiläums der zu diesem Zeitpunkt noch quicklebendigen Monarchin des Landes drohte die Transportgewerkschaft RMT mit einem Streik. Auf Druck verschob sie diesen, allerdings, um mit noch mehr Streiktagen wieder einzusteigen. In Felixstowe fand derweil der zweite Streik im Hafen statt, im Hafen von Liverpool wurde zwei Wochen am Stück gestreikt. Auch bei der Post und British Telecom gab es immer wieder einzelne Streiktage, bei denen bis zu 170.000 Kolleg*innen beteiligt waren.

Am 1. Oktober soll es landesweit sowohl zu Streiks bei Lok- und Bahnpersonal als auch zu Demonstrationen gegen die Preissteigerungen kommen. Das Bündnis “Enough is Enough” organisiert allen voran die Kolleg*innen von Post, Telekom, Transport, Universität, Pflege und Feuerwehr. Zu den Versammlungen des Bündnisses kamen zum Teil Tausende Menschen in Kirchen und Hallen, vor allem in Manchester, Liverpool und zuletzt Birmingham. Sie wollten die Vorsitzenden der RMT, von UNITE und der CWU (Post) sehen und ihren radikalen Reden lauschen.

Währenddessen ist die Labour Partei, die unter Jeremy Corbyn ihre Mitgliederzahlen mindestens verdoppelt hatte, zu einem Häufchen Elend geschrumpft. Ihr aktueller Vorsitzender Keir Starmer hatte zuletzt sogar gegen den Bahnstreik gewettert. Trotz aller politischen Schwächen stand Jeremy Corbyn bei allen Streiks auf der richtigen Seite. Und nicht nur das: Ende August wurde der ehemalige Präsidentschaftskandidat Bernie Sanders aus den USA zu einer Sitzung der Transportgewerkschaft RMT eingeflogen, wo er öffentlich redete. Auch in den USA ist ein anstehender Bahnstreik noch nicht abgewendet. Sanders setzt sich dafür ein, dass das Streikrecht der Eisenbahner*innen nicht noch weiter eingeschränkt wird.

Gegen jede Spaltung

Vor allem Mick Lynch, der Vorsitzende der Transportgewerkschaft RMT, hat sich als kämpferisch hervorgetan. Ende August sagte er vor einer Massenversammlung von “Enough is Enough”: „Wir können nicht auf die Politiker warten, wir müssen in die Gemeinden gehen und die Gewerkschaftsfahne hissen, diese Kampagnen zusammenführen – wir wollen nicht nur eine Blume im Garten, wir wollen, dass der ganze Garten blüht (…) Lasst diese Botschaft von heute Abend ausgehen. Wir weigern uns, bescheiden zu sein. Wir weigern uns, arm zu sein. Die Arbeiterklasse ist als Bewegung zurück.“

In einer Rede Ende September sagte Lynch dass „wir es schaffen können, wenn wir vereint sind“ und sprach damit alle Teile der Arbeiter*innenklasse an, wie Intellektuelle, Künstler*innen, Gewerkschafter*innen, Arbeitende, Klimaaktivist*innen und LGBTQ+. Dafür erhielt er tosenden Applaus. Außerdem baute er eine Solidaritätsbotschaft an die kämpfenden Frauen in Iran ein. Damit tut er, was der Anführer einer Arbeiter*innenorganisation tun muss: Er lehnt offen jede Art von Diskriminierung, Unterdrückung, Belästigung und Spaltung der Arbeiter*innenbewegung ab und schult damit auch die Bewegung.

Wasser im Wein

Allerdings gibt es auch in dieser bemerkenswerten Bewegung nicht nur Licht. Während es gut ist, dass Lynch gegen die Spaltung argumentiert und auch für die Vergesellschaftung der Infrastruktur eintritt, so fehlt es an einem Programm, das umzusetzen. Er und die Vorsitzende von UNITE – Sharon Graham – appellieren weiterhin an die Politik – und damit an die verhassten Tories – ihren Kurs zu ändern und wieder auf die Gewerkschaften zuzugehen.

Auch bei der Streikstrategie gibt es Probleme: Kolleg*innen bei der Post und British Telecom kritisierten zuletzt, dass nur an einzelnen statt an mehreren Tagen hintereinander gestreikt wurde. Sowohl bei den Streiks als auch bei dem Bündnis “Enough is Enough” fehlt es an demokratischen Entscheidungsstrukturen, die an Arbeitsplätzen und in Nachbarschaften weitere Schritte für die Eskalation der Bewegung erarbeiten. Die Massenversammlungen demonstrieren Zustimmung, können aber eigenständige Diskussions- und Entscheidungsgremien nicht ersetzen, bei denen möglichst alle zu Wort kommen können, die gegen Kürzungen und Verarmung sind.

Auch die Absage sämtlicher Streiks angesichts des Todes der Monarchin hat viele Kolleg*innen an der Basis frustriert. Postler*innen erfuhren von der kurzfristigen Beendigung des Streiks über einen Tweet. Viele mussten am nächsten Morgen um fünf wieder zur Schicht antreten. Als Teil der Staatstrauer um die tote Königin wurden die Tafeln geschlossen und damit hunderttausenden Menschen im Land die Versorgung verwehrt. Dazu gab es kein Wort der Kritik seitens der Gewerkschaften.

Zudem wurde die Polizeigewalt gegen Schwarze und People of Colour außen vor gelassen. Chris Kaba wurde von der Polizei ermordet. Die Medien berichteten schlichtweg nicht, gedeckt von der Nachrichtenflut über die verstorbene Königin. Im Frühling wurde bekannt, dass eine 14 jährige schwarze Schülerin, „Child Q“ genannt, sich vor der Polizei ausziehen musste, weil eine Lehrerin bei ihr Drogen vermutet hatte. Sie wurde dadurch schwer traumatisiert. Zu staatlichem und alltäglichem Rassismus äußern sich die Gewerkschaften kaum. Das wäre allerdings nötig, um die gesamte Arbeiter*innenklasse zu vereinen.

Wilde“ Streiks

In den letzten Jahren haben sich neue Gewerkschaften gegründet, z.B. die IWGB, die Bereiche wie die Lieferdienste von Deliveroo und Co. organisiert und sich für migrantische Kolleg*innen einsetzt. Zudem gab es dieses Jahr mehr inoffizielle, “wilde” Streiks. Im Mai und September haben auf 17 Ölplattformen Arbeiter*innen gestreikt, ohne dass Gewerkschaften dem zugestimmt hätten. Im Manchester streikten Kolleg*innen in der Gastronomie in einigen Standorten von Amazon legten Arbeiter*innen aufgrund niedriger Löhne und schlechter Arbeitsbedingungen spontan die Arbeit nieder. Solche Formen der Arbeitskämpfe können zunehmen und zeigen, dass Gewerkschaftsstrukturen nicht flexibel und demokratisch genug sind, um der aktuellen Lage Ausdruck zu verleihen.

Kommt der Generalstreik?

Die Konferenz des Gewerkschaftsdachverbandes TUC wurde aufgrund des Todes der Queen auf Mitte Oktober verschoben, was angesichts der galoppierenden Inflation und den geplanten Angriffen der als “neue Thatcher” bezeichneten Premierministerin mehr als fahrlässig ist. Der Konferenz liegen jedoch gleich mehrere Anträge vor, die fordern, Streiks besser zu koordinieren und zu gemeinsamen Streiktagen aufzurufen. Da im Herbst erwartet wird, dass noch mehr Sektoren in Tarifauseinandersetzungen gehen werden, steht dem Land – ob ausgesprochen oder nicht – ein Generalstreik bevor. In Belgien und Griechenland haben Gewerkschaften zufällig parallel für den 9. November zum Generalstreik aufgerufen. Eine internationale Koordinierung des Streiks könnte auch in England, Wales, Schottland und Nordirland deren Zugkraft erhöhen.

Foto: Socialist Alternative