Eine militärische Zwischenbilanz des Ukraine-Krieges

Das Ausmaß der menschlichen Tragödie, die sich auf einem Territorium größer als Frankreich abspielt, ist schwer in Worte zu fassen. 11,3 Millionen Ukrainer*innen, davon mindestens 4,3 Millionen Kinder, sind auf der Flucht. Fast 60 % aller Kinder mussten ihr Zuhause verlassen.  Mindestens vier Millionen Ukrainerin*innen sind über die Landesgrenze geflohen, Millionen werden folgen. Die Großstadt Mariupol sowie Hunderte kleinere Orte im Süden, Norden und Osten der Ukraine liegen in Schutt und Asche.

Von Sascha Rakowski

Der Krieg in der Ukraine ist der größte militärische Konflikt in Europa seit 1945. Allein die Zahl von Soldaten*innen, die an die Kriegshandlungen beteiligt sind, liegt bei mindestens 600.000.  Nach Russland und Frankreich verfügte die Ukraine im Februar 2022 mit 200.000 Soldat*innen über die drittgrößte Armee Europas, die durch die Mobilisierung von Wehrpflichtigen wahrscheinlich mittlerweile auf 300.000 gewachsen ist. Zehntausende Ukrainer*innen sind in den Bataillonen der territorialen Verteidigung mobilisiert. Russland schickte eine Armee von mindestens 170.000 Soldat*innen an die Front. Zusätzlich kämpfen ungefähr 50.000 Soldat*innen aus den separatistischen Republiken Donezk und Lugansk an der Seite Russlands. Schon jetzt übertrifft der Krieg hinsichtlich der Anzahl der Kombattant*innen und der Technik das Ausmaß der Jugoslawien-Kriege der 1990er Jahre und ist mittlerweile mit der Eroberung des Irak (309.000 Soldat*innen) durch eine von den USA geführten Koalition, welche die irakische Armee (375.000 Soldat*innen) zerschlug, vergleichbar. 

In dem intensiven Krieg werden alle Formen von modernen Waffen und Truppengattungen abgesehen von Kernwaffen benutzt – Luftstreitkräfte mit Jägern, Bombern und Hubschraubern, Flotten, Panzerarmeen und motorisierte Infanterie, Kampf- und Aufklärungsdrohnen, ballistische Kurzstreckenraketen und Marschflugkörper, Mehrfachraketenwerfersysteme und Artillerie aller Art. Zum absurden Symbol dieses hochtechnisierten Krieges in einem industrialisierten Land wurden die Häuserkämpfe in dem größten Atomkraftwerk Europas, Saporischschja, und in Tschernobyl. 

Russland und die Ukraine gehören zu den am stärksten bewaffneten Staaten der Welt. Laut The Military Balance verfügte die Ukraine Anfang 2022 über 130 Militärflugzeuge, bis zu 140 Hubschrauber (einige wurden während des Krieges geliefert) und 3309 gepanzerte Kampffahrzeuge. Die Ukraine behielt seit der Sowjet-Ära eine große Zahl der damals modernen Flugabwehr-Raketensysteme. Die ukrainischen Streitkräfte verfügen über eine beeindruckende Flotte von S-300 Luftabwehrraketen „Tor“ und „Buk“, die in letzter Zeit modernisiert wurden. Diese Luftabwehrkräfte wurden durch die Lieferungen von 25.000 Flugabwehrraketen aus NATO-Ländern verstärkt. Die ukrainischen Truppen erprobten sich in einem achtjährigen Krieg gegen prorussischen Separatisten und der russischen Armee im Donbass. Mehrere Bataillone wurden von NATO-Instruktor*innen ausgebildet und aufgerüstet.

Die russischen Truppen gehören mit einer Million Armeeangehörigen formell zu den Top- Fünf-Armeen der Welt. Infolge der geografischen Ausdehnung des Landes muss die russische Armee große Gebiete abdecken und konzentriert Hunderttausende Soldat*innen im Fernen Osten, der Arktis und im Süden des Landes. Auch wenn Russland über 280.000 Soldat*innen in Bodentruppen, 12.000 Marineinfanterist*innen und 40 000 Fallschirmjäger*innen verfügt, ist die Anzahl von Truppen, die in der Ukraine auf dem Boden eingesetzt werden können, begrenzt. Die russische Invasionsarmee beorderte ungefähr 170.000 Soldaten, organisiert in hundert mobilen gepanzerten taktischen Bataillonsgruppen mit Tausenden gepanzerten Fahrzeugen und Panzern über die Grenze der Ukraine. Zudem stehen dem Regime Putins die Nationalen Garden mit 340.000 Mann zur Verfügung. Faktisch sind diese eine Art Gendarmerie – schwer bewaffnete Bundespolizei, die bei der Bekämpfung von Partisan*innen und bei Straßenprotesten zum Einsatz kommt. Die russische Luftwaffe verfügt über weit mehr als 1500 Jagdflieger, Bomber und Schlachtflugzeuge, sowie ungefähr 900 Hubschrauber. Unterstützt wurden diese Truppen von den prorussischen Separatist*innen mit rund 480 Panzern und 914 gepanzerten Kampffahrzeuge sowie 920 Artilleriegeschützen, Mörsern und Mehrfachraketensystemen. 

Lange Frontlinie

Die russischen Truppen überschritten in der Nacht auf den 24. Februar aus der Krim, Südrussland und Belarus die Grenze zur Ukraine. Die erste Invasionswelle umfasste ungefähr 60.000 Soldat*innen, die versuchten, sich in kleineren Gruppen in 12 Richtungen auszubreiten. Die riesige Frontlinie erstreckte sich auf 3000 Kilometer, was sogar das Ausmaß des „Unternehmens Barbarossa“ – des Angriffes Nazideutschlands und der Achsenmächte auf die Sowjetunion im Jahr 1941 – übertrifft. Einsatzkommandos landeten am Flughafen Hostomel, 20 Kilometer von Kiew entfernt, um die Möglichkeit für eine schnelle Landung der Luftlandegruppen zu ermöglichen. Zeitgleich versuchten russische Flieger und Kommandos, das ukrainische Luftabwehrsystem und diverse Flughäfen auszuschalten. 

Die Art und Weise dieses Angriffes zeigt, dass der russische Präsident Wladimir Putin und seine Generalität in der ersten Phase der Invasion eine schnelle Kapitulation der Regierung von Wolodymyr Selenskyj sowie eine Demoralisierung oder sogar einen Putsch der ukrainischen Armee erwartet hatten. Die russischen Truppen machten ungebremst lange Märsche durch das ukrainische Territorium und präsentierten temporär die russische Fahne in mehreren ukrainischen Städten. Die russische Armee vermied, wo es möglich war, bewaffnete Auseinandersetzungen und versuchte die Kontrolle über die wichtigsten Straßen zu behalten, ohne diese zu zerstören. Teilweise ähnelte diese Taktik der Kriegsführung der der russischen Armee in Syrien, wo relativ kleine Bodentruppen mit der massiven Luftunterstützung Zehntausende Quadratkilometer eroberten. In der Phase des Krieges konzentrierten sich die Bombardierungen auf Militärobjekte. Die zivile Infrastruktur funktionierte weiter, Autobahnen und Eisenbahn konnten benutzt werden. Dadurch war die Flucht von Millionen Menschen überhaupt erst möglich. Gleichzeitig konnte die ukrainische Regierung die Infrastruktur und vor allem das Schienennetz für rasche Verlegungen der Reserven und für Militärlieferungen nutzen.

Massiver Widerstand

Jedoch haben die Ukrainer*innen nach der ersten Phase des Schocks trotz gegenteiliger Prognosen des russischen Generalstabs und der NATO-Führung nicht kapituliert, sondern fingen an, konsequent und motiviert mit allen Mitteln die Invasor*innen zu bekämpfen. Nach der Phase der schnellen Landgewinne, in der die russische Armee mit relativ kleinen Kräften ein Territorium so groß wie Belgien und die Niederlande zusammen besetzte, stießen die russischen Truppen auf erbitterten Widerstand nicht nur in urbanen Gebieten des Landes, sondern auch an der Front im Osten.

Hunderttausende Ukrainerin*innen meldeten sich bei der Armee oder als Freiwillige für die Bataillone der territorialen Verteidigung. Die anfänglichen Erfolge der russischen Armee in einem riesigen Land mit einer feindlich gesinnten Bevölkerung verwandelten sich zum eigenen Nachteil und eine Belastung für die eigene Versorgung. Die Nachschubkonvois mussten sich entlang großer Straßen bewegen, denn aufgrund des Schlamms infolge der Eisschmelze sind die Felder des Landes außerhalb der befestigten Straßen nicht befahrbar. Die Versorgungslinien der russischen Armee im Norden und Osten wurden zum leichten Ziel für Saboteur*innen der ukrainischen Streitkräfte. Der Angriff der prorussischen separatistischen Armeen in der Donbass-Region stockte an den massiven Befestigungsanlagen, die die ukrainische Armee acht Jahren lang aufgebaut hatte. Die Zahl der gestorbenen, verletzten, vermissten oder erkrankten Soldaten wuchs innerhalb der ersten Woche auf mehrere Tausend. Ein schneller, kleiner Krieg verwandelte sich in ein Massengefecht zweier großer Nationen, wo Hunderttausende Kombattant*innen an der sich schnell veränderbaren, durchlässigen Front gegeneinander kämpfen.

Nach den ersten zwei Wochen fror der Angriff von Putins Truppen fast überall entweder ein oder blieb auf kleine mühsame Landgewinne begrenzt. Im Norden der Ukraine zog sich die russische Armee nach vier Wochen Besatzung sogar zurück, um die Frontlinie zu verkürzen und die östliche Flanke zu verstärken. Die russische Armee stockte in den Vororten von Charkiw und führte einen mühsamen Häuserkampf in Mariupol. Die ukrainischen Großstädte mit ihrer Betonarchitektur, Schutzbunker, tief gebauten U-Bahn-Stationen und massiven Industrieanlagen aus der Zeit des Kalten Krieges sind zu einer Falle für die russischen, mechanisierten Verbände geworden, die ihre Vorteile dort kaum nutzen können. Jedoch behält Russland weiterhin die technische Überlegenheit und vor allem die Möglichkeit, mit täglich Hunderten Raketen und Fliegerangriffen die zivile und militärische Infrastruktur des Landes zu zerstören. Mittlerweile wurden alle ukrainischen Raffinerien, Öl- und Benzin-Lager mehrmals bombardiert, was die Versorgung der zivilen Bevölkerung und der Armee erschwert. Die Seeblockade behindert die Arbeit der ukrainischen Häfen. Seit Anfang April sind Eisenbahnlinien, Bahnhöfe und Logistikzentren zum Ziel der Bombardierungen geworden. 

Laut der ukrainischen Regierung sind 80% der Militärindustrie zerstört. Nach Kalkulationen des amerikanischen Senders CNBC verloren die ukrainischen Truppen 125 Flugzeuge (95%), 1969 Panzer (91%), 56% alle Luftabwehrsystemen, 1873 gepanzerte Fahrzeuge (57%) und 852 Artilleriegeräte (43%). Auch die russischen Verluste sind hoch. Auch wenn das russische Verteidigungsministerium „nur“ über 1380 tote Soldat*innen spricht, geht die NATO von Verlusten in Höhe von 7000-15.000 aus. Genauso unüberschaubar sind die menschlichen Verluste der ukrainischen Armee. Offiziell sind es 1300 Soldat*innen. Wie weit entfernt diese Zahlen von der Realität sind, zeigt das Beispiel von Mariupol, wo 15.000 bis 20.000 ukrainische Soldat*innen, Polizistin*innen und Grenzschützerin*innen in einen Kessel geraten sind. Mittlerweile geht man davon aus, dass nach drei Wochen Belagerung nur noch ein Drittel von ihnen am Leben sind. Die genauen Kalkulationen sind auch dadurch erschwert, dass Dutzende Tausend Kombattant*innen auf beiden Seiten, prorussische Separatist*innen, ukrainische Bataillons der territorialen Verteidigung, Partisan*innen und Freiwillige gar nicht in den offiziellen Zahlen berücksichtigt werden. 

Internationalisierung des Krieges

Zehntausende Menschen sind innerhalb von wenigen Wochen gestorben und wahrscheinlich werden weitere Tausende innerhalb kürzester Zeit folgen. In diesem Krieg kämpfen nicht nur die russischen Invasor*innen gegen die Ukrainer*innen, sondern mittlerweile auch Tausende Menschen aus der ganzen Welt, auch aus Deutschland. Der Krieg bekam schnell einen internationalen Charakter.

Laut Einschätzung des Polish Institute of International Affairs gab es bereits vor dem aktuellen Krieg 3879 ausländische Kämpfer*innen in der Ukraine, die sich ausländischen Freiwilligenbataillonen angeschlossen hatten. Die größte Gruppe ausländischer Kämpfer*innen in der Ukraine bestand aus ungefähr 3000 russischen Staatsbürgern. Mittlerweile geht man von 17.000 ausländischen Freiwilligen aus der ganzen Welt aus, die in der Ukraine gegen Russland kämpfen.

Schweden und Deutschland, die USA und die Niederlande liefern Zehntausende Panzerfäuste, Luftabwehrsysteme, Radarsysteme und Munition. Nach ukrainischen Berichten wurden bereits in den ersten Kriegswochen allein aus Deutschland 2500 tragbare Granatwerfer, Panzerfäuste und 1000 Geschosse und 500 Flugabwehrraketensysteme Stinger sowie 2000 tragbare Flugabwehrraketen Arrow-2M aus Altbeständen der DDR-Armee geliefert. Schweden lieferte 6000 AT-4 Panzerabwehrlenkwaffen. Das Vereinigte Königreich schickte 4000 NLAW-Panzerabwehrlenkwaffen sowie Luftabwehrsysteme. Insgesamt sind Lieferungen in Höhe von drei Milliarden Euro aus den USA und der EU geplant. Zusammengerechnet lieferten NATO-Länder laut dem US-amerikanischen Verteidigungsminister Mark Milley 60.000 Panzerabwehrlenkwaffen.

Allerdings fordert die ukrainische Regierung aufgrund der hohen Verluste die Lieferung schwerer Geräte: Flugzeuge, Panzer, Schützenpanzer und Artillerie. Die Nutzung von neuen Waffensystemen würde Vorbereitung und Ausbildung der ukrainischen Soldat*innen erfordern. Hunderte NATO-Offiziere müssten in die Ukraine kommen, um die Ausbildung der ukrainischen Truppen zu organisieren. NATO-Truppen konzentrieren sich an der belarussischen und russischen Grenze. Es könnte dazu kommen, dass die russischen und NATO-Soldat*innen aufeinander schießen oder ein NATO-Flugzeug oder Schiff angegriffen wird. Die Gefahr, dass der räuberische imperialistische Überfall durch Putins Regime zu einem dritten Weltkrieg wird, ist so hoch wie noch nie.

Vor dem Krieg

In seiner Rede an die Bevölkerung am 24. Februar sprach Putin über die„Entnazifizierung“ und „Demilitarisierung“ der Ukraine – also aus kapitalistisch-diplomatischen Slang in die menschliche Sprache übersetzt – die Öffnung der Ukraine für russische Investitionen und Militärstützpunkte. So ist die imperialistische Politik: Aus der Sicht des Imperialismus muss man die Hochburgen des gegnerischen Imperialismus beseitigen, um selbst Fuß zu fassen, eine Position einzunehmen, um den Markt für sich zu erobern und gleichzeitig über die Arbeitskraft verfügen, um sie billiger zu machen und das angehäufte Kapital weiter wachsen zu lassen. Heute noch vermissen die russischen Superreichen die Sonderstellung des russischen Kapitals in der Ukraine vor der Maidan-Revolution. Die Hälfte aller Banken, der Großteil der Öl- und Lebensmittelindustrie, sowie die Telekommunikation gehörten russischen Unternehmen. Die schmerzhafte Vertreibung nach der Farbenrevolution im Jahr 2013 und der Verlust des ukrainischen Marktes wurde zum Trauma der russischen Oligarchie. Wenn nicht die ganze Ukraine, dann mindestens der Osten des Landes – das ist die Kampfparole des Regimes. Das historische Erbe des Kommunismus und Lenin persönlich – die ukrainische Republik – muss laut Putin „dekommunisiert“, also zerstört und teils annektiert werden. Hier folgen Wladimir Putin, seine Bürokrat*innen und Milliardär*innen der Tradition des russischen Antikommunismus aus der Zeit des Bürgerkrieges.

Jedoch unterschätzten Putin und seine Falken die politische Konsolidierung der Ukrainerin*innen in den letzten acht Jahren. Der ständige militärische Druck in der Donbass-Region, die Kriegstreiberei der russischen bürgerlichen Politiker*innen, Hassreden und Säbelrasseln der russischen Rechten führten zu einer massiven Schwächung der prorussischen Stimmung in der Ost- und Südukraine sowie zu einer Steigerung des nationalen Bewusstseins bis hin zum Nationalismus. Laut Befragungen der soziologischen Forschungsgruppe Rating fiel die Anzahl der Ukrainer*innen, die Russisch als Muttersprache nennen, innerhalb der neun letzten Jahre von 40 auf 20 Prozent. Diese Daten reflektieren weniger die reale Nutzung der Sprache, sondern eher eine Identifikation der Ukrainerin*innen unterschiedlicher ethnischer Herkunft mit dem Staat und ihre Ablehnung gegenüber der russischen Expansionspolitik. Der Druck des russischen Bonaparte führte auch dazu, dass die Klassenwidersprüche in der Ukraine in den Hintergrund getreten sind. In Anbetracht der militärischen Bedrohung reihte sich die Gesellschaft hinter der eigenen Regierung ein. Präsident Selenskyj genießt momentan die größte Unterstützung seit Jahren, trotz neoliberaler Agenda sowie einer reaktionären und antidemokratischen Politik der letzten Monate. 

Die Nazis in den Reihen der ukrainischen Armee gibt es. Aber in der Masse steht der russischen Armee vor allem eine große städtische Bevölkerung gegenüber, gut ausgebildete arbeitende Menschen, Dutzende Millionen, die genauso gut mit den alten sowjetischen wie mit modernen westlichen Waffen umgehen können, die motiviert gegen die Besatzungsmacht kämpfen wollen, die wütend angesichts der imperialistischen Politik Putins sind.

Allein das Beispiel der separatistischen Republiken, wo Korruption herrscht und faktisch keine Wahlen durchgeführt werden, schreckte die ukrainische Bevölkerung ab. Selbstverständlich ist auch die ukrainische herrschende Klasse korrupt, aber zumindest können die Ukrainer*innen die eingeschränkte bürgerliche Demokratie eines armen Landes genießen im Vergleich zu den abtrünnigen Regionen, wo die Präsidenten einfach aus dem Kreml installiert werden. Putins Kapitalismus kann aktuell den Ukrainer*innen kaum etwas bieten.

Als der diplomatische Druck von Putins Regierung scheiterte, übernahmen die Falken im Regime die Initiative. In der Atmosphäre der byzantinischen Unterwürfigkeit, die Putin umgab, wurde Putin selbst zum Opfer seiner Großmachphantasien. Der Generäle versprachen einen schnellen Sieg über die unfähige ukrainische Armee, die Geheimdienstler*innen eine breite Unterstützung der Okkupation in der Ukraine. Dort, wo Diplomatie, Soft Skills und Wirtschaftsdruck scheiterten, wollte der Technokrat und Bürokrat Putin die gewünschte Neutralisierung mit der eisernen Faust erzwingen. Und so begann der ruhmlose Krieg – ohne langfristige Planung und ausreichende materielle Vorbereitung. Die russische Armee stieß auf einen motivierten und gut vorbereiteten Gegner, der sich die Geografie als zweitgrößtes Land Europas und den Umgang mit dem harten osteuropäischen Winter zu Nutzen machte.

Aus einem Kavallerieangriff auf der Ukraine wurde eine Materialschlacht, die alle wirtschaftlichen Kräfte Russlands und der Ukraine überstrapazierte. Nach dem ersten Schock begannen die ukrainischen Truppen, zähen Widerstand zu leisten. Auch wenn sie nach den ersten Wochen des Krieges die meisten Flugzeuge und Luftabwehrsysteme verloren haben, waren sie in der Lage, die großen Städte der Ostukraine und die Hauptstadt Kiew in eine Festung zu verwandeln. Der russischen Armee ist es zwar gelungen, große Geländegewinne zu machen und weit in die Mitte der Ukraine vorzudringen, aber die Logistik begrenzte sich auf die großen Straßen, die von landwirtschaftlichen Felder umgeben waren, die bis Mitte April einen Sumpf ähneln. Diese Straßen und die russischen Nachschubkonvois wurden zu einem leichten Ziel für den ukrainischen Widerstand und Spezialeinheiten. Sogar im benachbarten Belarus organisierten die Gegner*innen von Präsident Lukaschenko mehrere Anschläge auf den Schienenverkehr, um die Versorgung der nördlichen Flanke der russischen Truppen zu sabotieren. Dies forderte einen blutigen Tribut und sogar den Abzug der russischen Truppen aus dem Norden der Ukraine. Bedeutet das, dass der Krieg bald vorbei ist und dass die ukrainische Armee einen Sieg erreichen könnte?

Die zwei Armeen

Die beiden kämpfenden Armeen sind trotz Professionalisierung Massenarmeen geblieben – also eine Abbildung der Gesellschaft und ein konzentrierter Ausdruck aller gesellschaftlichen Wiedersprüche und Tendenzen. Der russische Kapitalismus entsandte Hunderttausende russischer Soldat*innen. Die Mehrheit der Soldat*innen sind Berufssoldat*innen. Wie die meisten Berufssoldat*innen der Welt entstammen sie der Arbeiter*innenklasse. Sie kommen überwiegend aus den ärmsten landwirtschaftlichen Regionen. Oft entstammen sie der ethnischen Minderheiten des Landes oder sind sogar Migrantin*innen. Für sie ist die Armee oft der einzige soziale Aufstieg und damit die Möglichkeit, der bitteren Armut zu entgehen. Wahrscheinlich waren die meisten russischen Soldat*innen zu Beginn des Krieges eher motiviert und stolz, ein Teil der großen Militärmaschinerie zu sein. Allerdings hat niemand mit einem langen Krieg gegen einen gleichwertigen Gegner gerechnet. Die großen Verluste führten zu anfänglicher Demoralisierung der Soldaten. Dabei muss man selbstverständlich zwischen der Stimmung der Offiziere und der einfachen Soldat*innen unterscheiden.

So oder so: die erste Begeisterung des Krieges ist vorbei. Die Opferzahlen haben eine harte ernüchternde Wirkung, genau wie die Kriegsrealität, in der die realen Schwächen der russischen Armee in der Organisation, Logistik und Schlachtführung erlebt wurden, für die viele Soldat*innen mit Leben bezahlten. Zusätzlich erleben die Soldat*innen einen einschneidenden Unterschied zwischen der Realität eines Krieges gegen eine Besatzung und der Propaganda der staatlichen Medien, die nur über „die Nazis“ reden. Im besetzten Süden des Landes musste die russische Armee Polizeifunktionen übernehmen und die ukrainischen Straßenproteste bekämpfen. Die russische Armee im waldbedeckten Norden der Ukraine erlitt Tausende „Mückenstiche“ durch Kommando-Einheiten und Widerstandskämpfer*innen. Das vergossene Blut führte zur Verbitterung und Brutalisierung des Krieges – reale und angebliche Widerstandskämpferin*innen, Angehörige des Staatsapparates, ehemalige ukrainische Soldat*innen und Polizistin*innen wurden verhaftet, gefoltert und teils erschossen. Auch die ukrainischen Soldat*innen führten mehrere blutige Massaker an russischen Kriegsgefangenen durch. Auch hier sieht man Parallelen zum Krieg in Syrien, wo ein Drittel der russischen Marineinfanteristen, die Butscha und andere Kleinstädte nördlich von Kiew besetzt haben, bereits gekämpft haben.

Dieser zermürbende, brutale Charakter des Krieges, in dem die Streitkräfte auf einer breiten Front kämpfen müssen und die Funktionen der Polizei übernehmen müssen, erschöpft die sowieso nicht zahlreiche russische Besatzungsarmee. Einige Militärexpert*innen gehen davon aus, dass Russland eine mindestens dreimal größere Armee in die Ukraine schicken müsste, um einen endgültigen Sieg zu erzielen. Das würde bedeuten, dass die Regierung von Wladimir Putin mindestens 500.000 Wehrpflichtige in die russische Armee einberufen müsste. Das würde jedoch immense Kosten verursachen und den Unmut der russischen Bevölkerung hervorrufen. Sogar nach fünf Wochen erbitterten Kriegshandlungen bleibt das Wort „Krieg“ ein Tabu in Russland – es handle sich nur um eine „Sonderoperation“. Jetzt muss die Regierung erklären, warum nach vier Wochen ununterbrochener „Siege“ der Norden der Ukraine von russischen Truppen geräumt wird. Diese Aktion erschreckte sogar die treuen Putin-Fans. Plötzlich sprachen alle staatliche Kanäle und Kommentatoren über die Notwendigkeit der Konsolidierung Russlands und dem Kampf ums Überleben des Landes.

Putin und seine Clique haben nur noch eine Chance – die nächste Offensive muss erfolgreich sein. Das ist die einzige Möglichkeit, die Verluste zu rechtfertigen und die eigene Position in der Gesellschaft zu retten. Auch wenn sich aktuell die Soldat*innen und die russische Bevölkerung hinter der Armee versammeln, wird der Bonaparte Putin diese Unterstützung nicht ewig genießen. 

Die ukrainische Armee

Seit 2014 hat die Ukraine die Wehrpflicht ab dem Alter von 20 Jahren wieder eingeführt, allerdings nur in geringem Umfang. Dies ist sowohl auf die Welle des Patriotismus und das Prestige des Militärdienstes als auch auf die über dem nationalen Durchschnitt liegenden Gehälter zurückzuführen, die in Kleinstädten und Dörfern das Zwei- bis Vierfache des Durchschnittseinkommens betragen. Dies hat das Gesicht der ukrainischen Berufsarmee bestimmt: Dort dienen vor allem Arbeiter*innen mittleren Alters, die ihre Betriebe verlassen haben, um ihre Familien zu ernähren und Sozialleistungen zu erhalten.

Diese ehemaligen Arbeiter*innen prägen das Gesicht der ukrainischen Armee. Auch 30 Jahre nach dem Zerfall der UdSSR verfügt die Ukraine immer noch über ein hohes wissenschaftliches und technisches Potenzial. Ukrainische Soldat*innen und Offizier*innen haben dank des flächendeckenden Schul- und Hochschulsystems bessere mathematische und technische Fähigkeiten und Qualifikationen als die agrarische Bevölkerung in Syrien oder Afghanistan.

Es sollte nicht vergessen werden, dass die Ukraine in den frühen 1990er Jahren neben Russland das einzige postsowjetische Land war, das über ein breites industrielles und wissenschaftliches Potenzial verfügte, das sogar die selbständige Produktion von Weltraumraketen und Flugzeugen ermöglichte. Der heutige Krieg hat bewiesen, dass die Ukrainerin*innen nicht nur verschiedene komplexe Waffensysteme effektiv und umfassend einsetzen, sondern auch eigene Waffensysteme produzieren können.

Die berüchtigten „Freiwilligenbataillone“ wurden ursprünglich als Teil des Innenministeriums als Militärpolizei geschaffen. Die meisten Nationalist*innen zogen es vor, in den bürgerkriegsähnlichen Bedingungen nach dem Maidan-Aufstand 2013/14 eigene Freiwilligenbataillone zu gründen statt der Armee beizutreten, da sie so ihre eigene Führung beibehalten konnten und direkt von Oligarch*innen finanziert wurden. Die „Freiwilligenbataillone“ wurden schließlich 2016 abgeschafft, wobei man auf Wunsch entweder direkt in die Nationalgarde oder in die ukrainische Armee eingegliedert wurde. Mehrere nationalistische Bataillone sind jetzt in der Ukraine aktiv, vor allem der Rechte Sektor und Asow, die in ihren Gebieten (östlich von Kiew bzw. Mariupol) die Rolle von Spezialeinheiten einnehmen. Im Laufe der letzten Mobilisierung wurden diese Bataillone jedoch massiv vergrößert, was dazu geführt hat, dass sogar im rechtsextremen Regiment Asow die meisten Soldat*innen einfache Wehrpflichtige sind.

Zu erwähnen ist, dass sich auch linken Aktivist*innen bewaffnet haben. Es gibt mindestens zwei Formationen der territorialen Verteidigung, in denen Anarchist*innen und Sozialist*innen die Mehrheit der Kämpfenden stellen.

Die Stimmung der Soldat*innen ist laut unserer Kontakte in der ukrainischen Armee optimistisch. Die meisten Soldat*innen glauben, dass „der Sieg bereits unser sei und dass Donezk und die Krim innerhalb von wenigen Monaten zurückerobert werden“. Die großen Verluste, die Zerstörung der Städte und Dörfer und die Nachrichten über getötete Zivilist*innen führen zur Verbitterung der Soldat*innen. Der Mord an russischen Kriegsgefangenen wird von vielen anscheinend in Kauf genommen, was unausweichlich in Kombination mit Gräueltaten der russischen Armee zur weiteren „Syrienisierung“ des Konfliktes führen würde.

Der neue Angriff

Wladimir Putin braucht einen Sieg, um die Bevölkerung zu beruhigen und den Selbstwert der Armee wiederherzustellen. Das Scheitern der ersten Phase des Angriffs hat in den Köpfen der führenden Bürokrat*innen und Milliardär*innen Erinnerungen an den Ersten Weltkrieg oder den Russisch-Japanischen Krieg von 1905 heraufbeschworen. Beide endeten mit einer blutigen Niederlage und einer Revolution. In den derzeitigen russischen Verhältnissen würde das zu einer bürgerkriegsähnlichen Situation mit unvorhersehbaren Folgen bis zum Zerfall des Landes führen. Auch die Vorherrschaft in Osteuropa, dem Kaukasus und Zentralasien wäre verloren. Diese Variante ist für die herrschende Klasse Russlands, egal ob diese zu einer Falken-, oder „Pazifisten“-Fraktion gehört, nicht vorstellbar. Trotzdem hat die ungezügelte Dynamik der Ereignisse eine eigene Entwicklungslogik. Auch wenn die erste Welle der Antikriegsproteste zerschlagen ist, alle Oppositionellen mit Brutalität verfolgt werden oder ins Exil gehen müssen, kann die Stimmung der russischen Bevölkerung rasch kippen. Der Krieg bedeutet bereits jetzt entfesselte Inflation, Zusammenbruch der Hypothekenfinanzierung, Schließung von mehreren ausländischen Fabriken und Unternehmen und drohende Arbeitslosigkeit. Das erschreckt den Bonaparte Putin, sowie seine Generäle und superreichen Kumpanen. Der Sieg muss her, und zwar schnell! 

Die russische Regierung setzt alles auf einen neuen Angriff und konzentriert die Truppen im Osten der Ukraine. Laut amerikanischen Verteidigungsministeriums sind mittlerweile 40 taktische Bataillons- Gruppen in der Nähe der ukrainischen Millionenstadt Charkiw konzentriert. Die Zerschlagung der Garnison des belagerten Mariupol befreit die russischen Kräfte im Süden der Ukraine. Es droht eine große Zangenbewegung im Osten der Ukraine, dort wo die ukrainische Armee ihre kampferfahrenen Armeebrigaden einsetzt. Im Osten des Landes mit mehreren anonymen Dörfern, die nur dank der Kriegsberichterstattung „bekannt“ geworden sind, entfaltet sich aktuell eine neue Schlacht mit Hunderttausenden beteiligten Soldat*innen, Hunderten Panzern und Raketenwerfern, Kanonen und Flugzeugen. Da der schnelle Sieg gescheitert ist, setzt die russische Armee auf systematische Zerstörung der Infrastruktur, um dem Gegner die wirtschaftliche Kraft zu entziehen. Der Krieg wird total. 

Die kommende Schlacht wird eine wichtige Rolle für die Geschichte Europas in den nächsten Jahren spielen. Wir werden bald sehen, ob sich Russland im Falle einer Niederlage zurückzieht und sich alles auf der alten Frontlinie „stabilisiert“. Oder Russland schlachtet die ukrainischen Verbände in einer großen Kesselschlacht ab und marschiert in Richtung des Flusses Dnjepr, um das Land zu spalten und den Osten zu annektieren. Aktuell hat die russische Armee noch die militärische Überlegenheit. Sie kann Hunderte Flugzeuge und Hubschrauber, Marschflugkörper und Artillerie einsetzen. Jedoch hat die hochmotivierte ukrainische Armee großen Rückhalt in der Bevölkerung  und genießt die massive Unterstützung der NATO. Wie zäh sie kämpfen kann, zeigt die Schlacht um Mariupol. Und das alles bedeutet, dass mit jeder Woche der Verlauf des Krieges intensiver und blutiger wird.

Zehntausende Menschen sind innerhalb von wenigen Wochen gestorben. Der kleine Krieg irgendwo im Osten ist kein kleiner mehr und droht, den ganzen Kontinent in Brand zu setzen. Es ist dringend notwendig, dass diese Gefahr von den breiten Massen als real wahrgenommen wird und dass wir zusammen und solidarisch gegen einen drohenden europäischen und Weltkrieg und den aktuellen Krieg in der Ukraine handeln. Dieser Kampf muss selbstverständlich international sein.

Die wahrscheinlich größte Rolle spielt die Antikriegsbewegung in Russland. Putin und der russische Imperialismus werden nicht wegen deutschen Panzerfäusten, sondern aufgrund des Widerstands der einfachen Russin*innen scheitern, so wie bereits mehrere Kriegstreiber*innen vor ihnen gescheitert sind. Wir stehen in der Tradition der deutschen November- und der russischen Oktoberrevolution, der Antikriegsproteste in den USA und Frankreich in den 1950er, 60er und 70er Jahren und der Nelkenrevolution in Portugal, die den Ersten Weltkrieg, den Vietnamkrieg und den Angola-Krieg beendet haben. Wir wissen, wie man Kriege beendet, die die herrschende Klasse anzettelt. Und zwar durch die konsequente Stärkung der Arbeiter*innenbewegung, Antikriegsproteste, internationale Solidarisierung und konsequenten Kampf gegen die Ursache aller Kriege – gegen das spaltende Profitsystem und Imperialismus!

Titelbild/Karte (Stand 16. April): Viewsridge, 2022 Russian invasion of Ukraine, CC BY-SA 4.0