Drittimpfungen zwischen Impfdurchbrüchen, medizinischer Notwendigkeit und Profitinteressen

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Der scheidende Gesundheitsminister Jens Spahn (CDU) ließ sich Ende Oktober eine Boosterimpfung geben und verband dies mit einer „Klarstellung“, dass jede*r einen Anspruch auf Auffrisch-Impfung habe. Ärzt*innen kritisierten unmittelbar die Aussagen, da die STIKO (Ständige Impfkomission) die Auffrisch-Impfung nur für bestimmte Gruppen empfiehlt. Für eine vernünftige Bewertung dieser konkurrierenden Aussagen ist ein Blick sowohl auf die medizinische Evidenz und die bisherige Coronapolitik als auch auf die Profitinteressen der Pharmaindustrie nötig.

Von Viktor, Berlin

Der Aufruf zur Drittimpfung bezieht sich positiv auf die Daten von BioNTech/Pfizer aus Israel. Demnach ist die Auffrischung sechs Monate nach Grundimmunisierung hochwirksam in der Verhinderung von Ansteckungen. Dies ist im Grundsatz auch richtig, jedoch orientierten sich die Empfehlungen der STIKO – mit Ausnahme der Empfehlungen für Jugendliche – bisher nicht an der Verhinderung der Ansteckung, sondern an der Vermeidung schwerer Erkrankungen. Nun gibt es medizinisch berechtigte Gründe, an der ein oder anderen Stelle zu justieren, im Grundsatz betreffen die schweren Impfdurchbrüche aber weiterhin überwiegend die von der STIKO benannten Personengruppen, die im Folgenden vereinfacht zusammengefasst werden:

  • Ab 70 Jahre (hier gibt es jedoch Daten, die ein Herabsetzen der Altersgrenze auf 60 nahelegen)
  • Personen mit einem geschwächten Immunsystem
  • Personen, die berufsbedingt oder im Rahmen der Wohnsituation vermehrt Kontakt mit Risikopersonen haben (zum Beispiel Pfleger*innen, medizinisches Personal oder auch jüngere Bewohner*innen von Pflegeeinrichtungen)
  • Weiterhin ist die Komplettierung der Impfserie durch mRNA Zweitimpfung bei einmal mit Jannsen (Impfstoff von Johnson&Johnson) geimpften Personen aufgrund erhöhter Impfdurchbrüche 28 Tage ab Erstimpfung empfohlen.

Der Aufruf zur Drittimpfung geht also am bisherigen Grundsatz der medizinischen Empfehlungen – nämlich der Verhinderung von schweren Erkrankungen – vorbei und kann lediglich als aktionistische Reaktion auf die gestiegene Inzidenz betrachtet werden.

Chaos statt klare Priorisierung

Dass fachfremde Politiker*innen – Jens Spahn ist Bankkaufmann – medizinische Empfehlungen an der Fachwelt vorbei aussprechen ist grundsätzlich nicht gut. Warum es im konkreten Fall besonders problematisch ist, wird bei einem Blick auf die aktuelle Auffrisch-Impfquote deutlich. Bis Ende Oktober wurden laut RKI bundesweit rund zwei Millionen Drittimpfungen durchgeführt. Wenn dies mit der Anzahl der Personen verglichen wird, auf die die Kriterien der STIKO zutreffen, entsteht ein grobes Missverhältnis. Hilfsweise nehmen wir hier die Anzahl der Menschen in den Anfang des Jahres aufgestellten Priorisierungsgruppen (nach STIKO):

  • Prio 1 (vereinfacht ab 80): 8,6 Millionen
  • Prio 2 (vereinfacht ab 75): 7 Millionen
  • Prio 3 (vereinfacht ab 70): 5,7 Millionen

Von rund 21 Millionen der nach STIKO Empfehlungen aufzufrischenden Menschen sind gerade mal rund 10% real aufgefrischt worden. Der Aufruf zur Drittimpfung an alle führt dazu, dass nicht vulnerable, aber bestens mobile und vernetzte Gruppen sich besonders um die Impfung bemühen, während Gruppen leer ausgehen, bei denen es medizinisch sinnvoll ist, aber häufig nicht gut vernetzt sind und eben nicht im Internet nachgucken, wo Hausarztpraxen sind, die gerade impfen, oder wo gerade ein mobiles Impfteam unterwegs ist. Zusätzlich sind diese Gruppen oft auch in ihrer Mobilität eingeschränkt. Geht es um die Verhinderung von schweren Erkrankungen der Impfwilligen, so muss die Priorität also auf Konzepte zur Erreichung vulnerabler Gruppen und nicht auf aktionistische Aufrufe zur Drittimpfungen für alle gelegt werden.

Konsequente Coronapolitik? Fehlanzeige

Es ist nicht lange her, dass Jens Spahn die Beendigung der epidemischen Notlage von nationaler Tragweite auf die Fahnen geschrieben hat. Im bitteren Beigeschmack erinnert es an die Aussagen im letzten Herbst, dass die Inzidenz zwar hoch sei, aber die Belegung der Intensivstationen kein Problem darstelle.

Man hätte meinen können, auch ein scheidender Gesundheitsminister kann aus seinen Fehlern lernen und erkennen, dass die Saison für Coronaviren im Winter ist. Dem scheint aber nicht so zu sein: Während im Sommer noch ein zumindest im Grundsatz vernünftiges Testkonzept gefahren wurde, wurden die Tests kurz vor dem Winter kostenpflichtig. Während im Sommer die Impfzentren in Vollbesetzung liefen, wurden sie kurz vorm Winter vorerst geschlossen. Während es unter Psycholog*innen weitgehender Konsens ist, dass es kontraproduktiv ist, Menschen mit Ängsten vor gesundheitlichen Risiken unter Druck zu setzen, wurde die Lohnfortzahlung für Ungeimpfte im Quarantänefall ausgesetzt und eine Teilhabe am kulturellen Leben wenn überhaupt dann nur noch gegen die Zahlung der Tests möglich. Alles mit dem erklärten Teilziel, den Druck auf die Ungeimpften zu erhöhen und mit den bekannten Ergebnis: In der aktuellsten Forsa-Umfrage gaben zwei Drittel der Ungeimpften an, sich keinesfalls impfen zu lassen. 

Anstatt den Pflegenotstand ehrlich anzuerkennen und die über das normale Maß der Überlastung hinaus geleistete Arbeit in der Pandemie in einem ersten Schritt finanziell anzuerkennen und eine langfristige. am Bedarf orientierte Perspektive im medizinischen Bereich zu erarbeiten, wurden die Kolleg*innen mit Almosen abgespeist. Zusätzlich wurden Krankenhäuser geschlossen. Mit den bekannten Ergebnis, dass die mit einem vernünftigen Personalschlüssel abgedeckten Intensivkapazitäten aktuell geringer als zu Beginn der Pandemie zu werden drohen

Eine konsequente Coronapolitik wäre es, die Saisonalität von Anfang an einzuplanen. Es wäre nötig,  die Testkapazitäten zum Winter hochzufahren und auch Geimpfte und Genesene aufgrund vermehrter Durchbruchinfektionen regelmäßig anlassbezogen zu testen, zum Beispiel beim Besuch von Veranstaltungen oder in Pflegeheimen. Statt Drittimpfungs-Aktionismus wären die Auffrischimpfungen durch eine proaktive, auf die Zielgruppen zugehende Kampagne in den vulnerablen Gruppen bereits deutlich fortgeschritten. Statt ungeimpfte Personen durch Druck im Wesentlichen weiter von den Impfmaßnahmen zu entfernen, wäre eine offene und nach Möglichkeit die gesellschaftliche Teilhabe erlaubende Haltung angezeigt. Im Einzelfall wäre zwar auch eine Ungleichbehandlung auf Grundlage epidemischer Erwägungen nötig, aber eben nicht, um Druck aufzubauen, sondern um zum Beispiel unkalkulierbare Risiken bei Großveranstaltungen zu verhindern. Statt an Fallpauschalen ausgerichtete Marktentscheidungen über die Kapazitäten im Gesundheitswesen wäre ein konsequenter Aufbau der medizinischen Versorgung und des Katastrophenschutzes nötig.

Global Health und Profite

Ein aktionistischer Aufruf zu Drittimpfungen ist weiterhin aus Gründen der globalen Impfstoff-Verfügbarkeit falsch. Weltweit sind unter 40% vollständig geimpft. In weiten Teilen Afrikas liegt die Impfquote zwischen 1 und 10% der Bevölkerung. Während in Deutschland auch 20-30 jährige, gesunde, im Homeoffice arbeitende Menschen zur Drittimpfung aufgerufen werden – eine Gruppe bei der sich das individuelle Risiko eines tödlichen Verlaufs einer Corona-Infektion nach zwei Impfungen im Bereich sonstiger seltener Erkrankungen von deren Existenz die allermeisten nicht mal wissen bewegt – hatten weite Teile der Welt nicht einmal die Möglichkeit, sich durch eine Erstimpfung minimal zu schützen.

Zwar wird aus Deutschland über die Covax-Initiative der Impfstoff von AstraZeneca an Drittstaaten geliefert, die weitaus größeren Mengen der (wirksameren) mRNA Impfstoffe sind jedoch davon unberührt. Dies liegt unter anderem an den ausgehandelten Lieferverträgen, die eine Abgabe an Drittstaaten explizit ausschließen und zeigt wiederholt, wo die Interessen der Pharmaindustrie liegen. Anstatt die Abgabe des begrenzten – und für viele Menschen überlebenswichtigen – Guts der Impfstoffe zu erlauben wird knallhart berechnet, dass die Drittimpfung von zum Beispiel knapp 55 Millionen bereits geimpfter Menschen in Deutschland bei etwa 20 Euro pro Dosis Einnahmen von etwas über einer Milliarde Euro ermöglicht. Rund 700 Millionen mehr als durch die Einhaltung und konsequente Durchführung der Empfehlungen der STIKO.

So ist auch die weitere Vermarktung des auf dem ursprünglichen Spike-Protein – also des 2019 Wuhan Subtyps des Coronavirus – basierenden Impfstoffs zu erklären. Impfstoffe für das veränderte Spike-Protein der Delta-Variante sind zwar bereits entwickelt und zum Teil produziert, liegen aber in den Regalen, da auch der alte Impfstoff noch überaus gewinnträchtig verkauft werden kann. Marktstrategisch ist eine Zulassung der Variantenimpfstoffe für die Hersteller insbesondere dann sinnvoll, wenn diese als vierte Impfung angeboten werden können. Auch und besonders in einer Pandemie zeigt der Kapitalismus seine wahren Prioritäten: Profite über Menschenleben.