„Streik, Bewegung und politischer Druck hängen ganz stark zusammen“

Gespräch mit Paula Weigand, Gesundheits- und Krankenpflegerin bei Vivantes, und Lynn Stephainski, Beschäftigte bei Vivantes Reha (einer Vivantes-Tochter) zum Eckpunktepapier bei Vivantes für mehr Personal und dem Streik bei den Vivantes-Töchtern

Sozialismus.info: Wir gratulieren euch erstmal ganz herzlich zur Unterzeichnung des Eckpunktepapiers bei Vivantes mit dem Ziel Entlastung und mehr Personal im Krankenhaus nach 35 Tagen Streik. Auch bei der Charité gibt es ein ähnliches Eckpunktepapier. Das war nur möglich durch eure Streiks und ist ein großer Schritt nach vorn im Kampf für Entlastung und wird sicherlich auch bundesweit viel Aufmerksamkeit bekommen. Bei Charité und Vivantes sind seit März 2.200 Kolleg*innen neu bei ver.di eingetreten. Der Tarifvertrag Entlastung soll im Januar 2022 in Kraft treten. Bei den Vivantes-Tochterunternehmen geht der Streik für den TVöD für Alle dagegen weiter.

Wir beginnen das Gespräch erstmal mit Paula als Beschäftigte des Mutterkonzerns. Vielleicht kannst du noch mal kurz zusammenfassen, was die wichtigsten Punkte aus deiner Sicht sind, Paula, und was du dir für deinen Praxisalltag erhoffst.

Paula: Die wichtigsten Punkte sind, dass das Pflegepersonal nach der Bettenanzahl bemessen wird und auch Betten gesperrt werden, wenn es nicht genug Personal gibt. Für jede Station gibt es dafür jetzt konkrete Vorgaben. Außerdem ist zentral, dass es keine Nachtdienste mehr allein gibt und Belastungspunkte eingeführt werden. Diese Belastungspunkte bekommt man, wenn man zum Beispiel mitten im Dienst wegen Unterbesetzung die Station wechseln muss oder wenn die vereinbarte Mindestpersonalbesetzung unterschritten wird. Auf der Grundlage gesammelter Belastungspunkte kann man dann freie Tage oder Geld ausbezahlt bekommen.

Durch die Entlastung haben wir mehr Freizeit und Kapazitäten für die Patient*innen. Dadurch wird die Qualität der Pflege gesteigert, wir können mehr auf die Patient*innen eingehen und haben beim nach Hause gehen eher das Gefühl, etwas geschafft zu haben, anstatt völlig erschöpft ins Bett zu fallen.

Sozialismus.info: Bei dir auf der onkologischen Station hast du einen sehr engen Kontakt zu den Menschen und die Beziehungsarbeit spielt bei dir eine große Rolle. Habt ihr da von den Patientinnen und Patienten während des Streiks Unterstützung erfahren?

Paula: Auf jeden Fall. Unsere Patienten unterstützen uns sehr und wissen auch, was los ist. Manche habe ich auch am Streikposten getroffen, als sie gerade zur Station wollten und wir kamen ins Gespräch. Sie wissen, was wir jeden Tag leisten und sie wissen auch, dass das, wofür wir streiken, am Ende besser für alle ist.

Paula Weigand

Sozialismus.info: Du hast bei einer Veranstaltung gesagt, du hast bisher Belastungspunkte wie Smarties gesammelt. Wie ist die Situation in Bezug auf Mehrarbeit auf deiner Station?

Paula: Diese Belastungspunkte, die im Eckpunktepapier für den neuen Tarifvertrag Entlastung vorgesehen sind, die hat man schon mindestens einmal wöchentlich. Deshalb wäre das eine reale spürbare Veränderung für mich, wenn das ausverhandelt und festgeschrieben würde.

Sozialismus.info: Und was ändert sich jetzt für die Auszubildenden? Die waren ja ein sehr aktiver Teil bei den Streiks. Ich war extrem beeindruckt davon. Sie sollen laut Eckpunktepapier jetzt ein Übernahmeangebot im zweiten Lehrjahr bekommen und die Quote für die Praxisanleitung soll erhöht werden. Könnt ihr genauer erläutern, was das bedeutet?

Paula: Sie bekommen jetzt 12,5% Praxisanleitung im ersten Lehrjahr und 15% ab dem zweiten Lehrjahr. Das bedeutet, sie bekommen für 12,5% der Zeit ihres achtwöchigen Einsatzes auf Station eine*n zertifizierte Praxisanleiter*in, die auf Station kommt und den Auszubildenden in Begleitung etwas beibringt. Sie haben dann zum Beispiel zwei Patient*innen und acht Stunden Pflege unter Anleitung.

Sozialismus.info: Lynn, ihr hab ja jetzt ganz lange gemeinsam mit den Beschäftigten des Mutterkonzerns gestreikt. Diese Solidarität zwischen Mutter- und Tochterbeschäftigten war sehr beeindruckend. Jetzt gibt es das Eckpunktepapier bei der Mutter. Was heißt das jetzt für euch, was hat das für Auswirkungen auf euren Streik?

Lynn Stephainski

Lynn: Erstmal haben wir uns natürlich total gefreut und es ist ermutigend, dass die Kolleg*innen bei Charité und Vivantes (Mutter) ihr Ziel so gut wie erreicht haben. Solidarität erfahren wir viel und weiterhin. Für unseren Streik bedeutet es, dass der Streik mehr Auswirkungen im Mutterkonzern zeigen wird. Weil die planbaren OPs hochgefahren werden und damit auch die Anforderungen an die Töchterbereiche höher sein werden. Wir können diese Prozesse mit unserem Streik dann stören.

Sozialismus.info: Ihr habt ja einmal als Zeichen des „guten Willens“, wie ihr es genannt habt, einen Tag den Streik ausgesetzt, streikt jetzt aber während der Verhandlungen weiter. Was ist der Stand der Verhandlungen?

Lynn: Der Stand ist, dass uns ein neuer Vorschlag für ein Eckpunktepapier von der Arbeitgeberseite vorgelegt wurde, was uns in einigen Punkten entgegenkommt, aber an Knackpunkten wie der Entgeltstruktur und der Entgelttabellen des TVöD noch weit von unserer Forderung entfernt ist. Wir haben unsere unteren Reißlinien nochmal klar gemacht und verhandeln jetzt weiter.

Sozialismus.info: Wenn wir zurückblicken, wie der Tarifvertrag an der Charité Facility Management (CFM, Tochter der Charité) durchgesetzt wurde, dann wird deutlich, dass es sehr lange gedauert hat und vor allem der politische Druck entscheidend war. Charité und Vivantes sind ja beides landeseigene Betriebe. Welche Bedeutung hat dieser politische Druck bei euch?

Lynn: Streik, Bewegung und politischer Druck hängen ja ganz stark zusammen, auch nach dem Wahlkampf. Das heißt der Besuch von Streikposten/Versammlungen und das Einladen von Politiker*innen können diese Punkte zusammenführen. Ebenso Demonstrationen, die dann zum Beispiel vor der Senatsverwaltung für Finanzen durchgeführt werden, wo einige der Verantwortlichen sitzen.

Sozialismus.info: Während der Streiks wurde immer wieder gesagt, dass das Land Berlin sich eigentlich per Gesellschafteranweisung durchsetzen und eure Forderungen erfüllen könnte. Jetzt gibt es diesen Beschluss des Abgeordnetenhauses vom 16. September, demzufolge auch Geld bereitgestellt werden würde für einen Tarifabschluss. Warum passiert das nicht und was ist eigentlich das Problem?

Lynn: Ja, das wusste ich tatsächlich echt gerne. Einerseits ist es natürlich ein Punkt, dass Vivantes eigentlich dafür zuständig ist, das Personal zu bezahlen und das Land Berlin eigentlich nur für die Finanzen/Investitionen zuständig ist. Da spielen sich die Zuständigen jetzt die Bälle hin und her. Andererseits ist das, denke ich, vor allem wirklich die Angst, wenn sie Geld in dieses Tarifobjekt stecken und das dann andere Bereiche außerhalb von Vivantes sehen und sagen „Wenn das da möglich ist, dann fordern wir das auch.“ Ich glaube, es besteht die Angst vor einem Schneeballeffekt.

Sozialismus.info: Es gab diese große tolle Demonstration am 9.10. mit 5000 Leuten. Was kann man jetzt noch tun? Was könnte die Gewerkschaftsbewegung tun? Was kann auch aus der Stadtgesellschaft passieren? Wenn ihr euch jetzt noch sowas wünschen könntet, was noch passieren müsste zur Unterstützung, was wäre das?

Paula: Es ist schön, dass jetzt alle sagen, es muss mehr Personal her, aber wo kriegen wir das Personal her bei den schlechten Arbeitsbedingungen? Das kann kein Politiker sagen. Ich finde an der Ausbildung sollte noch mehr gearbeitet werden und auch an der Bezahlung und auch überhaupt, dass der Beruf attraktiver wird. In Corona-Zeiten haben viele Krankenpflegekräfte gekündigt und wollen angesichts der Arbeitsbelastung auch nicht mehr in diesem Beruf zurückkommen. Der Personalmangel wird nicht durch das Eckpunkte-Papier oder durch den Streik beendet werden. Dafür muss sich auch etwas Grundlegendes an der Bezahlung und der Arbeitsbelastung ändern.

Lynn: Die Krankenhausfinanzierung muss auf Bundesebene geändert werden und in den Koalitionsverhandlungen muss die Finanzierung der Krankenhäuser mit ganz oben stehen.

Sozialismus.info: Und wenn ihr euch jetzt noch in Bezug auf die Unterstützung der Krankenhausbewegung wünschen könntet, was wäre das, was nochmal so einen richtigen Unterschied machen würde?

Paula: Nicht nur während der Coronakrise zu klatschen. Erstens bezahlt Klatschen meine Rechnungen nicht. Und zweitens wünsche ich mir, dass der Gesellschaft nicht nur in Krisensituationen bewusst wird, was wir jeden Tag leisten. Am Anfang der Pandemie wurde mal geklatscht, aber jetzt sind wir wieder die „Arsch-Abwischer“.

Lynn: Ich finde die Idee gut, dass gewerkschaftsübergreifend eine Bewegung entsteht und dass solche Kämpfe zusammengeführt werden. Das sollte man auch auf weitere Konflikte ausweiten.

Sozialismus.info: Okay, tausend Dank an euch beide für dieses Gespräch. Noch eine letzte Frage an Paula: Du bist heute in die SAV eingetreten. Was waren deine Beweggründe für den Schritt?

Paula: Ich bin politisch links aufgewachsen und hatte schon immer viele Berührungspunkte mit Politik. Ich wollte mich auch in der alten Heimatstadt schon aktiv daran beteiligen. Das hat dann irgendwie nicht geklappt, weil ich mit allem nicht so ganz zufrieden war. Ich habe mir dann aber hier in Berlin auf jeden Fall gesagt, dass ich aktiv werden will, weil man nur so etwas ändern kann. Auf einer Demo habe ich dann ein Flugblatt der SAV in die Hand gedrückt bekommen und fand das cool. Ich habe dann weiter im Internet recherchiert und mit euch diskutiert und dachte: Ja, das passt sehr gut. Mir gefällt, dass die SAV sich nicht nur auf ein einzelnes Thema fokussiert wie manche andere Gruppen, sondern grundlegend was an dem System ändern will. Das war mir auf jeden Fall wichtig und dann habe ich den Schritt gewagt.

Das Interview führten Lucy Redler und David Wandinger.