ROSA Kassel organisiert erfolgreichen antikapitalistischen CSD

Bericht von Douglas und Hannah, Kassel

Obwohl der Christopher Street Day (CSD) namentlich an die Stonewall-Aufstände erinnert, die 1969 in der New Yorker Christopher Street stattfanden, haben die Demonstrationen der letzten Jahre nicht mehr viel von dem ursprünglichen, kämpferischen Charakter. Statt revolutionäre Queerpolitik in den Vordergrund zu stellen, haben Konzerne, prokapitalistische Parteien und Institutionen (wie sogar die Polizei) die Veranstaltung als Werbeplattform für sich eingenommen: Unternehmen haben erkannt, dass sie durch ein Regenbogen-Image nicht bloß mit Geld aus queeren Taschen Profit machen können. Darüber hinaus gelingt es ihnen, mit rainbow-washing den Eindruck zu erwecken, “progressive” Großkonzerne könnten den Kapitalismus in ein queer-freundliches System verwandeln. Auch prokapitalistische Parteien künden dieses falsche Versprechen gerne auf CSD-Veranstaltungen an. Indem sie versichern, antiqueere Diskriminierung sei ein vereinzelter “Fehler im System”, den sie korrigieren werden, nutzen sie den CSD als Bühne für ihren Wahlkampf. Ganz besonders absurd wird es, wenn die Polizei an der Demonstration teilnimmt, sich in die Infostandmeile einreiht und von Teilen der LGBTQ-Community willkommen geheißen wird. Dabei wird scheinbar gänzlich vergessen, dass es Kriminalisierung und Polizeigewalt waren, die vor 52 Jahren die Proteste auf der Christopher Street provozierten. Ebenfalls missachtet wird, dass die Polizei nach wie vor eine reale Gefahr für Teile der queeren Community darstellt, wie z. B. queere BPOC und wohnungslose Queers. 

Mit dem Slogan “Reclaim the streets! Queer and feminist liberation not rainbow capitalism” wollten wir den kämpferischen Geist der Stonewall Riots wiedererwecken. Zwar ist uns bereits in den vergangenen Jahren gelungen, vereinzelte Akzente dieser Art zu setzen, jedoch war eine umfassende Repolitisierung des CSDs noch nicht möglich. Für ein solches Unterfangen fehlte es uns an Einfluss und Reichweite. Die Chance auf eine neue, antikapitalistische Ausrichtung bot sich uns 2021, nachdem feststand, dass die alten CSD-Organisator*innen sich aus Ressourcenknappheit und pandemiebedingt nicht in der Lage sahen, den Tag zu gestalten. Infolgedessen ergriff ROSA die Initiative. Unser Ziel dabei war, zu verdeutlichen, dass pro-queere Forderungen stets antikapitalistisch sein müssen. Die Aufgabe von Sozialist*innen besteht hier darin, das neoliberale Trugbild vom Regenbogenkapitalismus zu durchdringen und aufzuzeigen, dass die Integration in ein unterdrückerisches System alles andere als Befreiung ist. Viele LGBTQ Menschen haben bezüglich der “Ehe für alle” geschertzt, “man wolle doch nur das Recht, einander ebenso unglücklich zu machen, wie hetero-Päärchen!”. Hinter diesem Witz verbirgt sich mehr Wahrheit als es scheint: Bei der Ehe handelt es sich um ein bürgerliches Konstrukt, das den wirtschaftlichen Ansprüchen des kapitalistischen Staates gerecht werden soll. Die romantischen Bedürfnisse des Liebespaars spielen dabei bloß eine nebensächliche Rolle. Auf ähnliche Weise wird auch das kapitalistische System der Forderung nach Diskriminierungsfreiheit niemals gerecht werden können. Es ist hoffnungslos abhängig von der Vater- Mutter- Kind Familie. Dass Reproduktionsarbeit individualisiert, das heißt innerhalb des Familienverbands verrichtet wird, ist die gesellschaftlich anerkannte Norm. Die bloße Existenz queerer Menschen stellt die Naturgegebenheit dieses Modells in Frage. Doch der Kapitalismus kann auf dieses Konstrukt der “idealen Familie” nicht verzichten, denn ohne es müsste er organisatorisch wie auch finanziell für die Reproduktionsarbeit aufkommen. Einen queerfreundlichen Kapitalismus kann es folglich nicht geben, weswegen es gilt, sozialistische Lösungen in die queere Bewegung zu tragen. Unser erster Schritt war hierbei die Veröffentlichung eines radikal antikapitalistischen CSD- Aufrufs unter dem bereits erwähnten Motto “reclaim the streets! Queer and feminist liberation not rainbow capitalism”. Diese klar formulierte Ausrichtung genügte bereits, die FDP von der Demo fernzuhalten: Sie boykottierte den CSD aufgrund seiner linksradikalen “Vereinnahmung”. Dies erschien auch in den Schlagzeilen der lokalen Presse und rückte den kommenden Protest in ein attraktives Licht. Als SPD und Grüne feststellten, dass sich die diesjährige CSD- Veranstaltung nicht für ihren Wahlkampf instrumentalisieren lässt, schlossen sie sich ihr nur zögerlich an und zeigten sich weniger dominant. Zu Wort gekommen sind diesmal stattdessen Orgas, die bei individuellen Problemen mit queerfeindlicher Diskriminierung helfen (T*räumchen, LSBT*IQ Netzwerk, autonomes Queer*referat), gegen queerfeindliche Diskriminierung in Aktion treten (MeeTin*Up, Frauen & Queer Streik; GEW) und auf gesammtpolitischer Ebenen tatsächliche Lösungen gegen queerfeindliche Diskriminierung bieten (ROSA, SAV, `Solid, LINKE). In den Reden wurde unter anderem zum vereinten Widerstand aufgerufen, die Polizei als queerfeindlich kritisiert, LGBTQ- Befreiung am Arbeitsplatz gefordert und rechte wie auch prokapitalistische Parteien bezüglich ihrer Queerpolitik angegriffen. Die sozialdemokratische Partei (SPD) geriet besonders in die Kritik, da sie kürzlich einen Antrag im Bundestag nicht unterstützte, der das diskriminierende “Transsexuellengesetz” (TSG) durch ein reformiertes “Selbstbestimmungsgesetz” ersetzen sollte. Anschließend brauchte es nicht viel Zeit und die SPD präsentierte sich anlässlich des Pride- Month heuchlerisch in Regenbogenfarben.   Auch die Positionen der rechtspopulistische Partei “AfD” wurden entkräftet. Ursprünglich war am selben Tag eine Wahlkampfveranstaltung der AfD angemeldet, als diese jedoch feststellte, dass ihr Veranstaltungsort auf der CSD- Demoroute liegt, sagte sie ihr Vorhaben ab. Auf diese Weise ist es uns gelungen, die Straßen von rechtsnationalistischen sowie prokapitalistischen Kräften zurückzuerobern. Unser Konzept des “politisierten Feierns” kam bei einem beachtlichen Teil des überwiegend jungen CSD- Publikums gut an: Sprüche wie “Whose streets? Our streets!”, “Was kotzt uns so richtig an? Einteilung in Frau und Mann!” und “we, we wanna be free – make homophobia history!” wurden kraftvoll mitgetragen. Vor den Geschäften der Innenstadt wurde der Demozug seinem Motto gerecht, indem er antikapitalistische Shouts laut werden ließ. Tanz und Musik haben natürlich auch nicht gefehlt und standen dem Vorhaben der Repolitisierung keinesfalls im Wege: Vielmehr hat das gewisse Maß an Stimmungsmache die Teilnehmenden bei Laune gehalten und somit die politische Aufnahme- Willigkeit gestärkt. Allerdings gab es auch Stimmen unter den Teilnehmenden, die sich anstelle der inhaltlichen Beiträge noch mehr Party gewünscht hätten. In solchen Fällen gilt es zu bedenken, dass viele junge LGBTQ Menschen den CSD ausschließlich als Party- Parade kennen und ihre Erwartungen ihren Erfahrungen entsprechen. Überdies drängen die Narrativen des politischen Mainstreams queere Themen gerne in “den privaten Bereich”. LGBTQ Identitätsfragen und queerfeindliche Diskriminierungsvorfälle werden zu individuellen Problemen erklärt, die nur das betroffene Individuum allein lösen könne. Auf diese Weise soll sowohl politische Verantwortung, als auch queere Existenz unsichtbar gemacht werden. In Wirklichkeit ist Queerness natürlich alles andere als “Privatsache”: Queerfeindlichkeit existiert noch immer im Sozialen und Politischen und sorgt somit nach wie vor für soziale und politische Nachteile für queere Menschen. Folglich handelt es sich um ein gesellschaftliches und politisches Problem, das nur gelöst werden kann, wenn es als solches behandelt wird. Daher darf sich die queere Community nicht aus der politischen Ebene verdrängen lassen. Stattdessen braucht die queere Community Pride- Veranstaltungen, die sowohl durch gemeinsames Feiern neue Kraft spenden, als auch politischen Forderungen laut werden lassen, die queeres Alltagsleben weniger kräftezehrend machen wollen. Ein System zu tolerieren, das Queerness zu einer vernachlässigungs- oder gar verachtungswürdigen Randerscheinung macht, hat wenig mit “Pride” zu tun. 

“Pride” muss zu der Schlussfolgerung gelangen, dass eine Gesellschaftsordnung nur dann als legitim anzuerkennen ist, wenn sie nicht auf allen Ebenen -personell, institutionell, strukturell und systemisch- suggeriert, queer- Sein verringere den Wert einer Person. Denn wer seine queere Identität liebt und sie feiern möchte, ist verpflichtet, sie aus dem kapitalistischen System zu befreien, welches Queerness zu einem Nachteil degeneriert. Dies ist die Botschaft, welche Sozialist*innen ohne Nachlass in die queere Bewegung tragen sollten.