Rechtsreformistische Linkskonservative

Kein Mitglied der LINKEN ist bekannter als Sahra Wagenknecht. Ihre Prominenz verhalf ihr trotz Polarisierung ein weiteres Mal auf den Spitzenplatz der Bundestagswahlliste für NRW. Dass der Promi-Faktor für einige Mitglieder stärker wiegt als politische Inhalte ist alarmierend.

Von Sebastian Rave, Bremen

Anfang der 1990er war Wagenknecht noch eine glühende Verteidigerin der Planwirtschaft – und sogar der Mauer, ein Umstand, der ihr später etwas peinlich wurde, damals aber eine Menge Medienaufmerksamkeit brachte. Mit „Kapital, Crash, Krise“ und „Kapitalismus im Koma“ veröffentlichte sie Analysen des neoliberalen Kapitalismus mit marxistischem Anspruch und verteidigte die DDR. Tatsächlich sind die Errungenschaften der Planwirtschaft verteidigenswert: keine Arbeits- oder Obdachlosigkeit, ökonomische Gleichstellung der Frau, niedrige Preise und Mieten. All das war aber zum Scheitern verurteilt, weil die Planung nicht demokratisch durchgeführt wurde, und die Lenkung von oben keine demokratische Korrektur von unten bekommen hat. So wurde am Bedarf vorbei- und fehlgeplant. Die blinde Herrschaft der Parteibürokratie führte dazu, dass die bürokratische Planwirtschaft der Marktwirtschaft ökonomisch unterlag. Die bis heute herrschende Ideologie zieht den Zusammenbruch der DDR und der Top-down-Planwirtschaft als Beweis für die grundsätzliche Überlegenheit des Marktes über den Plan heran. Auch Wagenknecht ließ sich davon beeindrucken.

Die ehemalige Vorsitzende der Kommunistischen Plattform und Mitbegründerin der Antikapitalistischen Linken war lange eine der Gallionsfiguren des linken Flügels und sprach sich gegen Regierungsbeteiligungen mit SPD und Grünen aus. Bis zu ihrer Wahl zur stellvertretenden Fraktionsvorsitzenden: Dafür ließ die Mitgliedschaft in der KPF ruhen. Später ging sie sogar das berüchtigte „Hufeisenbündnis“ mit dem rechten Parteiflügel um Dietmar Bartsch ein. 2011 veröffentlichte sie das Buch „Freiheit statt Kapitalismus“, in dem sie sich, inmitten der Nachbeben der kapitalistischen Krise von 2008 ff., von den Ideen einer grundlegend anderen Wirtschaft verabschiedete, und sich zurück zum Kapitalismus des Nachkriegsaufschwungs sehnte, den es nicht mehr gab.

Die Wirtschaftskrise hatte tatsächlich gerade bewiesen, wie instabil und gefährlich die Herrschaft der Banken und Hedgefonds ist. Wagenknechts Kritik am finanzmarktgetriebenen Kapitalismus, Shareholder-Value und kurzfristiger Kapitalrendite war schön und gut, ihr Gegenentwurf aber eine deutliche Abkehr vom Marxismus. Sie sang das Loblied auf die „soziale Marktwirtschaft“ von Ludwig Erhard und Co., und fordert die Einhaltung des Versprechens vom „Wohlstand für alle“ ein.

Unkreativer Kapitalismus

Dafür schlug sie den „kreativen Sozialismus“ vor – im Grunde genommen eine gemischte Wirtschaft mit großen verstaatlichten Konzernen, sowie Genossenschaften neben kleinen und mittleren privaten Unternehmen, unter Beibehaltung der Marktwirtschaft und des bürgerlichen Staats. Sie unterschied zwischen „echten Unternehmern“ (die selbst im Betrieb „kreativ“ und „innovativ“ arbeiten) und Kapitalisten (die spekulieren und Monopole bilden) – letztere müssten ins öffentliche Eigentum überführt werden, erstere seien gut. So entstünde eine Marktwirtschaft ohne Kapitalismus.

Dass Unternehmen gezwungen sind, ihr Kapital zu vermehren, also zum kapitalistischen Wirtschaften getrieben werden, erklärt Karl Marx schon in Band 1 des Kapitals:

Die Entwicklung der kapitalistischen Produktion macht eine fortwährende Steigerung des in einem industriellen Unternehmen angelegten Kapitals zur Notwendigkeit, und die Konkurrenz (…) erlaubt ihm nicht, dass er sein Kapital hält, ohne es auszudehnen, und ausdehnen kann er es nur durch fortgesetzte Akkumulation.“

Oder wie Lucy Redler es in ihrem Buch „Sozialismus statt Marktwirtschaft“ schreibt: „Der heutige finanzmarktgetriebene Kapitalismus ist keine falsche Strategie von zockenden Anlegern der Hedgefonds und der Private Equity Fonds, die man beliebig rückgängig machen könnte, sondern ein systemimmanent unvermeidlicher Ausdruck davon, dass sich seit den siebziger Jahren die profitablen Anlagemöglichkeiten für das Kapital in der Realwirtschaft verschlechtert und auf den Finanzmärkten verbessert haben.“ (Lucy Redler: Sozialismus statt Marktwirtschaft, 2011)

Ordoliberalismus

Wagenknecht bezog sich positiv auf den „Ordoliberalismus“, einer wirtschaftspolitischen Denkordnung der Nachkriegszeit, entwickelt von bürgerlichen Ökonomen und Politikern wie Walter Eucken, Alfred Müller-Armack und Ludwig Erhard. Deren Antwort auf die im Kapitalismus „natürliche“ Monopolisierung und ungleiche Einkommensverteilung war, dass der Staat diese durch Kartellgesetze und einen Sozialstaat einhegen solle. Unbedingt beibehalten werden solle aber das Privateigentum an Produktionsmitteln und die „freie“ Marktwirtschaft. Dem Ordoliberalismus geht es im Endeffekt darum, den Kapitalismus zu zähmen, um ihn zu retten.

Wagenknecht, die die Planwirtschaft abgeschrieben hatte und keine Alternative zum Markt mehr sah, schloß sich den Ordoliberalen in diesem Ziel an. Das „sozialistisch“ in ihrer Vorstellung von Marktwirtschaft beschränkt sich auf Ideen wie einen großen Staatssektor gepaart mit Belegschaftseigentum und Genossenschaften. Aber: Egal ob Kapitalgesellschaft, Betriebe in Staats- oder Belegschaftseigentum oder Genossenschaft, im Rahmen des Kapitalismus steht jedes Unternehmen unter dem Markt- und Konkurrenzdruck. Rosa Luxemburg schrieb dazu schon im Jahr 1899 in „Sozialreform oder Revolution“:

In der Produktivgenossenschaft ergibt sich daraus [aus der Marktlage] die widerspruchsvolle Notwendigkeit für die Arbeiter, sich selbst mit dem ganzen erforderlichen Absolutismus zu regieren, sich selbst gegenüber die Rolle des kapitalistischen Unternehmers zu spielen. An diesem Widerspruche geht die Produktivgenossenschaft auch zugrunde, indem sie entweder zur kapitalistischen Unternehmung sich rückentwickelt, oder, falls die Interessen der Arbeiter stärker sind, sich auflöst.“

Die Idee von gemischten Eigentumsformen der Produktionsmittel bei Beibehaltung der Marktwirtschaft ist bei weitem keine Wagenknecht-Spezialität. Sie findet sich auch im Parteiprogramm der LINKEN – und ist im Grunde genommen nichts anderes als die ökonomische Grundlage für den Reformismus der alten Sozialdemokratie unter Eduard Bernstein, gegen den Rosa Luxemburg das oben zitierte Werk schrieb.

Olle reformistische Kamellen und der bürgerliche Nationalstaat

Der Reformismus sieht seinen Handlungsrahmen im Nationalstaat und Parlamentarismus, in dem er versucht über Regierungsgewalt Reformen durchzusetzen. Das wird auch bei Wagenknecht deutlich, wenn sich sich sich an vielen Stellen auf den Nationalstaat bezieht: „Es existiert daher auf absehbare Zeit vor allem eine Instanz, in der echte Demokratie leben kann und für deren Redemokratisierung wir uns einsetzen müssen: Das ist der historisch entstandene Staat mit seinen verschiedenen Ebenen, von den Städten und Gemeinden über die Regionen oder Bundesländer bis zu den nationalen Parlamenten und Regierungen.“ (Sahra Wagenknecht: Reichtum ohne Gier, 2016)

Dass die ehemalige Marxistin hier eine der zentralen Erkenntnisse von Marx und Engels „vergisst“, ist natürlich kein Zufall. Der „historisch entstandene Staat“ ist nach Engels:

Produkt der Gesellschaft auf bestimmter Entwicklungsstufe; er ist das Eingeständnis, dass diese Gesellschaft sich in einem unlösbaren Widerspruch mit sich selbst verwickelt, sich in unversöhnliche Gegensätze gespalten hat, die zu bannen sie ohnmächtig ist. Damit aber diese Gegensätze, Klassen mit widerstreitenden ökonomischen Interessen nicht sich und die Gesellschaft in fruchtlosem Kampf verzehren, ist eine scheinbar über der Gesellschaft stehende Macht nötig geworden, die den Konflikt dämpfen, innerhalb der Schranken der „Ordnung“ halten soll, und diese, aus der Gesellschaft hervorgegangene, aber sich über sie stellende, sich ihr mehr und mehr entfremdende Macht ist der Staat.“

(Engels, Der Ursprung der Familie, des Privateigentums und des Staats, 1884)

Der Staat hat also die Aufgabe, die Klassenkonflikte einzuhegen, „scheinbar über der Gesellschaft stehend“, tatsächlich aber die Klassenherrschaft rettend. Seine grundsätzliche Funktion ist die Aufrechterhaltung des gesellschaftlichen Status Quo, nicht seine Veränderung. Seine Struktur, seine Gesetze und die Reproduktion seines Personals sind zum Verwalten, nicht zum Verändern gemacht.

Migrationspolitik

Wer sein politisches Handeln auf den bürgerlichen Nationalstaat bezieht, muss auch seine territorialen Regeln mit seine Grenzen und Staatsangehörigkeiten akzeptieren. Wenn der Grundsatz „die Arbeiter haben kein Vaterland“ (Manifest der kommunistischen Partei) erstmal verlassen ist, ist es nicht mehr weit zur Übernahme bürgerlicher Migrationspolitik. Und dabei macht es keinen fundamentalen Unterschied, ob man wie Wagenknecht davon redet, dass Geflüchtete ihr „Gastrecht verwirkt“ haben, ob man wie Thüringens linker Ministerpräsident Ramelow abschieben lässt, oder ob man, wie bei der Regierungsbeteiligung in Bremen, das Geflüchtetenlager in der Lindenstraße weiter betreibt, obwohl es einen Corona-Ausbruch gab und die Bewohner*innen die Schließung und eine sicherere Unterbringung forderten.

Wagenknechts Position wurde überdeutlich, als sie nach einem Anschlag in Ansbach 2016 sagte: „Der Staat muss jetzt alles dafür tun, dass sich die Menschen in unserem Land wieder sicher fühlen können. Das setzt voraus, dass wir wissen, wer sich im Land befindet und nach Möglichkeit auch, wo es Gefahrenpotentiale gibt. Ich denke, Frau Merkel und die Bundesregierung sind jetzt in besonderer Weise in der Verantwortung, das Vertrauen der Menschen in die Handlungsfähigkeit des Staates und seiner Sicherheitsbehörden zu erhalten.“ – Auch das war übrigens kein Alleingang von Wagenknecht. Ihr Hufeisenbündnispartner Dietmar Bartsch forderte im gleichen Atemzug mehr Polizei: „Wir brauchen endlich wieder Ordnung in unserem Land, dass die Menschen ein höheres Maß an Sicherheit haben.“

Skurrile Minderheiten, vereinigt euch!

Diese „Ordnung“ und „Sicherheit“ ist genau die, die Marx zu stürzen forderte, als er davon redete, „alle Verhältnisse umzuwerfen, in denen der Mensch ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen ist.“

Wenn Sahra Wagenknecht in ihrem neuen Buch davon schreibt, dass Linke „das Augenmerk auf immer kleinere und immer skurrilere Minderheiten […] richten, die ihre Identität jeweils in irgendeiner Marotte finden, durch die sie sich von der Mehrheitsgesellschaft unterscheiden und aus der sie Anspruch ableiten, Opfer zu sein“, und als Beispiele „sexuelle Orientierung, Hautfarbe und Ethnie“ (Sahra Wagenknecht: Die Selbstgerechten) nennt, ist das nichts anderes als die Verächtlichmachung von Unterdrückten. Das ist der weiteste Schritt nach rechts, den sie bisher gemacht hat, aber in der Kontinuität der Wagenknechtschen Logik nur konsequent. Es ist die Politik einer Rechtsrefomistin, die sich zur Verteidigung der „deutschen Arbeiter“ berufen fühlt, die von „Linksliberalen“ verraten wurden. Darunter fallen für sie sowohl Neoliberale als auch Linksradikale, die sich angeblich nicht mehr für ökonomische Fragen interessieren.

Dabei irrt Wagenknecht, wenn sie glaubt, dass Arbeiter*innen nur über Lohn- und Brotfragen gewonnen werden können. Sie unterschätzt, dass auch Arbeiter*innen queer und migrantisch sind, sich für Klimaschutz einsetzen, und auch ein objektives Interesse daran haben, nicht gegeneinander ausgespielt zu werden.

Natürlich trifft das nicht alle Arbeiter*innen und darf die Arbeiter*innenklasse nicht romantisiert werden. In ihr sind rassistische, sexistische oder homophobe Ideen verbreitet. Diese Vorurteile sind das Ergebnis der Sozialisation in einer kapitalistischen Gesellschaft, die auf Spaltungsmechanismen wie Rassismus und Sexismus basieren und deren Medien, Politiker*innen und Institutionen jeden Tag reaktionäre Ideologien reproduzieren. Menschen, die auf Grund ihrer Herkunft, ihres Geschlechts oder ihrer sexuellen Orientierung diskriminiert werden, müssen ständig gegen sehr greifbare Schlechterstellungen, z.B. bei Löhnen oder der Wohnungssuche ankämpfen aber auch dafür streiten, dass die Tatsache ihrer Benachteiligung überhaupt zur Kenntnis genommen wird. Wer, wie Wagenknecht, in den Chor derer einstimmt, die all das als „Identitätspolitik“ abtun, stößt jene vor den Kopf, die sich im Kampf gegen die Verhältnisse nicht selten als erstes radikalisieren und die Verhältnisse als ganzes infrage stellen.

Der Kampf um gleiche Rechte ist keine Spaltung der Klasse, im Gegenteil. Die Einheit der Klasse schließt ihre Minderheiten und besonders unterdrückte Gruppen mit ein. Nur, wenn ihr Kampf ernst genommen wird und man sich für die Befreiung aller Teile der Klasse einsetzt, kann diese Einheit auch hergestellt werden. Wagenknecht macht das Gegenteil: Sie gießt Öl ins Feuer, das von Rassist*innen wie der AfD gelegt wurde. Das Ergebnis ihrer Politik ist die Spaltung der Arbeiter*innenklasse und der Linken.

Der Streit um konkrete Verbesserungen, um höhere Löhne, ein besseres Gesundheitssystem, gegen die Klimakatastrophe und gegen jegliche Form der Unterdrückung und Diskriminierung muss zu einem Kampf verbunden werden, um den Kapitalismus, seinen Staat und seine Marktwirtschaft als Ganzes zu stürzen. Dafür braucht es eine sozialistische LINKE. Die inhaltliche Auseinandersetzung muss dafür sowohl gegen die linkskonservativen Wagenknechts als auch gegen die regierungssozialistischen Bartschs und Ramelows geführt werden. Dieser politische Klärungsprozess steht jetzt auf der Tagesordnung.

Bild: Ferran Cornellà, CC BY-SA 4.0 https://creativecommons.org/licenses/by-sa/4.0, via Wikimedia Commons