Fukushima vor 10 Jahren: Das Wanken des Atomstaats

Am Nachmittag des 11. März 2011 riss ein heftiges Erdbeben mit einer Stärke von 9,1 auf der internationalen Skala die Menschen in Tōhoku, Ostjapan, aus ihrem Alltag. Zehntausende Gebäude stürzten ein, Straßen, Brücken, und Fabriken wurden zerstört. Eine noch größere Verwüstung richtete der folgende Tsunami an: Die bis zu 40 Meter hohe Welle spülte über hunderte Quadratkilometer ganze Städte und ihre Bewohner*innen fort. 22.199 Menschen starben durch die Doppelkatastrophe. Im kollektiven Gedächtnis bleibt aber die Dritte Katastrophe: Die Atomreaktorkatastrophe von Fukushima.

Von Sebastian Rave, Bremen

Ich hatte an dem Tag Geburtstag. Den Kuchen, den mir meine Kolleg*innen schenkten, konnte ich nicht genießen. Erst zwei Jahre zuvor war ich von meinem einjährigen Aufenthalt in Japan zurückgekehrt. Im Internet sah ich die Bilder der Zerstörung des Landes, das mir noch so nah war, und musste mit den Tränen kämpfen.

Als die Nachricht von Problemen im Atomkraftwerk Fukushima über den Bildschirm liefen, musste ich an das denken, was ich nach einem erlebten Erdbeben und drohendem Taifun in Japan in meinem Blog geschrieben hatte: „Ich frage mich wie man auf die Idee kommt in einem solchen Land Atomkraftwerke zu bauen!?“

Japan ist eines der Länder mit sowohl der höchsten Erdbebenfrequenz als auch mit einer der größten Besiedlungsdichten – denkbar ungünstige Voraussetzungen für den flächendeckenden Bau von Atomkraftwerken. Trotzdem wurden bis zur Nuklearkatastrophe 30% des japanischen Energiebedarfs aus Atomkraft von 59 AKWs gedeckt, die dritthöchste Quote weltweit. Wie ist ein Land, dass in Hiroshima und Nagasaki die Zerstörungskraft des Atoms lernen musste, zu einer solch starken Abhängigkeit von Atomkraft gekommen? Die Antwort liegt – kein Scherz – in den Archiven des CIA.

Die CIA und die Atomkraft in Japan

1953 hielt US-Präsident Eisenhower seine vielbeachtete „Atoms for Peace“-Rede. Sie markierte das Ende der strengen Geheimhaltung aller nuklearen Fragen, und den Beginn der zivilen Nutzung der Atomenergie. Die friedliche Rhetorik war Teil der neuen psychologischen Kriegsführung im Kalten Krieg. Während Eisenhower davon sprach, dass die USA „Einigkeit, nicht Kriege, zwischen den Nationen“ wünsche, stockte er das Atomwaffenarsenal von 1000 auf 20.000 auf. Die „friedliche“ Nutzung der Atomkraft sollte der Bevölkerung den Schrecken nehmen, den „Little Boy“ und „Fat Man“ hinterlassen hatten. Im Propaganda-Thinktank „Psychological Strategy Board“, das dem US-Außenministerium unterstellt war, hieß es: „the atomic bomb will be accepted far more readily if at the same time atomic energy is being used for constructive ends“ („die Atombombe wird viel eher akzeptiert werden, wenn gleichzeitig die Atomenergie für konstruktive Zwecke genutzt wird“).

Doch ein Atombombentest im Pazifik im März 1954 machte dem fast einen Strich durch die Rechnung. Das japanische Fischerboot Dai-go Fukuryū-maru (Glücklicher Drache V) wurde mit radioaktiver Asche verseucht, zahlreiche Besatzungsmitglieder starben. Eine Kampagne für das Verbot von Atomwaffen erhielt große Unterstützung, 32 Millionen Japaner*innen unterschrieben innerhalb eines Jahres eine Petition.

Aus Angst, die Bevölkerung des im Kalten Krieg strategisch wichtigen Inselstaates zu verlieren, startete die USA eine Propagandaoffensive für die „friedliche“ Nutzung der Atomkraft in Japan. Die CIA holte dafür den japanischen Medienmogul Matsutarō Shōriki ins Boot. Dieser hatte sich als Kommunistenfresser im Vorkriegsjapan zunächst bei der Polizei und beim Inlandsgeheimdienst seine Sporen verdient, um danach eine rechte Sensationszeitung aufzubauen. Seine Zeitung Yomiuri Shinbun unterstützte das Militärregime von Hirohito mit aller Kraft. Shōriki wurde nach der Kapitulation Japans als Kriegsverbrecher der Klasse A, also der höchsten Stufe, verhaftet, aber nach zwei Jahren Gefängnis ohne Gerichtsverhandlung freigelassen. Sein Antikommunismus machte ihn für die USA zum nützlichen Partner.

Japan wird zum Atomstaat

Shōriki nutzte seine Zeitung und seinen neu gegründeten Fernsehsender, um Werbung für den Japan-Besuch von John Jay Hopkins, Präsident des Nuklear-Konzerns General Dynamics, zu machen. Sogar riesige Bildschirme wurden auf den Straßen aufgestellt, um die Atom-Propaganda zu verbreiten. Shōrikis Einsatz hatte Erfolg: Die Stimmung schwenkte zur Befürwortung von Atomkraft um, und er bekam den Posten des ersten Vorsitzenden der Japanischen Atomenergiekommission – mit einem Nebenverdienst als Agent der CIA. Shōriki war auch eines der Gründungsmitglieder der rechten Jimintō (Liberaldemokratische Partei, LDP), die seit ihrer Gründung fast ununterbrochen die Regierung Japans stellte – ebenfalls mit Hilfe der CIA, die die nationalkonservative Partei mit Millionen Dollar unterstützte, um die japanische Linke in Schach zu halten. Die Partei ist bis heute weit über die Grenzen der Korruption hinaus eng mit der Wirtschaft verflochten.

Teil der Propaganda (und des ehrlichen Interesses der japanischen herrschenden Klasse) war es, Japan als modernen und unabhängigen Industriestaat aufzubauen – als Land ohne größere Rohstoffreserven wäre man mit Atomkraft nicht mehr von Importen abhängig. Mithilfe der LDP wuchs die japanische Atomindustrie unaufhaltsam. Beschleunigt wurde der Aufstieg der Atomkraft nochmal durch die Ölkrise in den 70ern. Die Verbindung zwischen Staat und Atomindustrie wurde so eng, dass vom „japanischen Atomdorf“ die Rede war: Die Energiemonopolisten, die Millardengewinne erzielen, leisten sich großzügige Spenden an die LDP. Im Gegenzug wechseln hochrangige Staatsbeamte immer wieder in hohe Posten der Energiekonzerne.

Weniger großzügig waren TEPCO und Co. zu denen, die die Kraftwerke am Laufen halten. Bei den Arbeiter*innen war die Ausbeutung besonders unterdrückter Mitglieder der Gesellschaft eine bekannte Praxis: Im Kraftwerk Fukushima waren 89% des Personals Leiharbeiter*innen. Teilweise wurden Obdachlose in Parks eingesammelt, zum Kraftwerk gefahren und nach wenigen Monaten harter und gefährlicher Arbeit wieder entlassen.

Aber nicht nur am Personal, auch an der Sicherheit wurde gespart. Die Kontrollinstanzen im Atomstaat kamen ihrem Auftrag aber nicht nach. 2002 wurde bekannt, dass die Überwachungsbehörde Nisa alarmierende Sicherheitshinweise systematisch ignorierte, einige Kraftwerke mussten abgeschaltet werden. Kein Wunder: Die Überwachungsbehörde unterstand dem Wirtschaftsministerium genauso wie die Atomenergiebehörde, die mit den Stromkonzernen zusammenarbeitet.

Der menschengemachte Super-GAU

Am 11. März 2011 geriet der Atomstaat ins Wanken. Große Teile des Kraftwerks Fukushima Daiichi wurden durch das Beben zerstört, die Notstromaggregate fielen aus, es kam zur Kernschmelze in drei der sechs Reaktorblöcke und dem Austritt von großen Mengen Radioaktivität.

Auch wenn der Auslöser eine Naturkatastrophe war, das Desaster war menschengemacht – oder besser: Profitgiergemacht. Nach internen Studien in den Jahren 2006 und 2008 wusste TEPCO, dass eine größere Tsunamiwelle die Stromversorgung und Kühlung der Reaktoren stoppen würde. Die Kosten für die Sicherheitsaufrüstung wurden mit 25 Mio. Dollar als zu teuer angesehen. Wenige Tage vor der Katastrophe bemängelten Nisa-Kontrolleure, dass große Teile des Fukushima-Kraftwerks seit 11 Jahren nicht gewartet wurden. Und während der Katastrophe weigerte sich TEPCO zunächst, Meerwasser zur Kühlung der schmelzenden Reaktoren einzusetzen, weil das Salzwasser ihre Kapitalanlage beschädigen würde. Der Premierminister musste den Einsatz erst anordnen, nachdem eine Wasserstoffexplosion den Reaktorbehälter zerstörte. Die fortlaufende Kühlung führte dazu, dass die Kerne sich nicht ins Grundwasser brannten, was eine noch größere Katastrophe bedeutet hätte. Dafür entwichen aber große Mengen Radioaktivität in den Pazifik, bis angefangen wurde, das Wasser in Tanks abzufüllen. Da die Tankkapazitäten bald erschöpft sind, soll nach dem Willen von LDP-Politiker*innen das stark verstrahlte Wasser ab 2022 in den Pazifik abgelassen werden.

Im Zuge der Katastrophe verhielten sich japanische Medien zum großen Teil als Sprachrohre der Regierung und von TEPCO. Als am 15.3. ein Journalist in einer Live-Sendung des Fernsehsenders TBS berichtete, dass im Ausland vom Austritt von Radioaktivität aus Reaktor 3 berichtet wurde, wurde er nach der Sendung gefeuert. Bei anderen kritischen Nachrichtensendungen beendete TEPCO das Sponsoring. In der Bevölkerung schwand das Vertrauen in den Staat und seine Medien. Als ich Ende 2011 Japan besuchte, fragte ich einen Freund, was ich ihm aus Deutschland mitbringen soll. Seine Antwort: „Weil man den Nachrichten hier nicht trauen kann: Einen Geigerzähler.“

Folgen: Sperrzone, Ausbeutung, Massenproteste

In der Folge der Katastrophe mussten 150.000 Menschen evakuiert werden. 300 Quadratkilometer wurden zum Sperrgebiet erklärt. 20 Millionen Tonnen radioaktiv verseuchtes Material wurde abgetragen und lagern in riesigen Plastiksäcken, ohne dass jemand eine Lösung für die Endlagerung hätte. Zehntausende Arbeiter*innen werden für diese Aufräumarbeiten ausgebeutet, teilweise für nur 16€ pro Tag. Laut UN-Experten werden systematisch Migrant*innen, Asylsuchende und Obdachlose von undurchsichtigen Netzwerken von Subunternehmen für die gefährlichen Dekontaminationsarbeiten angeheuert.

Bei Untersuchungen wurden 23 Mal mehr Fälle von Schilddrüsenkrebs bei Kindern gefunden als normal. Bemerkenswert ist, dass die Medizinische Universität von Fukushima, die die Studie durchführte, Personal an die Schulen geschickt hatte, um die Kinder darüber „aufzuklären“, dass die Teilnahme an der Studie „freiwillig“ sei – die Teilnahme an der Studie ist deshalb massiv gesunken, und weniger Fälle von Schilddrüsenkrebs konnten gefunden werden.

Nach Massenprotesten und Gerichtsklagen wurden nur wenige der Atomkraftwerke wieder in Betrieb genommen. Die führenden Köpfe der Atommafia, die drei Top-Manager von TEPCO, wurden aber vor kurzem freigesprochen. Die Politik versucht immer wieder gegen den Willen der Bevölkerung zur Atomkraft zurückzukehren, teilweise mit Argumenten des Klimaschutzes. Die japanische Atomindustrie, jetzt ohne heimischen Markt, stützt sich auf Exporte. 20 neue Atomkraftwerke sollen in Pakistan gebaut werden. Es scheint, als sei es schwieriger den Atomstaat herunterzufahren als seine Kraftwerke. 

Bild: Digital Globe, CC BY-SA 3.0 https://creativecommons.org/licenses/by-sa/3.0, via Wikimedia Commons