Krieg dem Palast!

ISA-Mitglieder bei Protesten in Moskau

Am Sonntag, 23. Januar, brachen in Russland Massenproteste aus. Die zentrale Forderung  Ziel war die Freilassung des Oppositionellen Alexey Nawalny. Die Demonstrationen in 120 Städten mit Hunderttausenden Teilnehmer*innen, vom eisigen Fernen Osten bis zur sonnigen Schwarzmeerküste elektrisierten das politische Leben in Russland. Trotz massiver Einschüchterung im Vorfeld der Demonstration, Verhaftung von mehreren Dutzenden Oppositionsführer*innen am Vortag der Proteste und harten Wetterbedingungen fand die erste allrussische Demonstrationswelle seit dem Jahr 2012 statt.

Von Dima Yansky, Köln

Trotz ihrer volksnahen Rhetorik und obwohl sie sich angeblich ständig um die ärmsten Schichten kümmert, musste die Regierung Putins der Bevölkerung diesmal mit Polizeiknüppeln begegnen. 4000 Teilnehmer*innen wurden verhaftet, mehreren drohen lange Gefängnisstrafen.

Die Schübe der seit 2014 laufenden Wirtschaftskrise verschärfen die angestauten Widersprüche der russischen Gesellschaft. Der Kurssturz des Rubels, Stagnation am Arbeitsmarkt, sinkende Reallöhne, massive Korruption und wachsende Preise sorgen für viele kleine, alltägliche Frustrationen, die zur allmählichen Entfremdung der breiten Massen der Arbeiter*innenklasse von der bonapartistischen Clique mit Wladimir Putin an der Spitze führen.

Die schleichende Verarmung von Millionen, die Schließung vieler Kleinunternehmen und die sinkende Kaufkraft der Bevölkerung verstärken die gesellschaftlichen Spannungen. Laut Umfragen des Instituts Lewada verlor Wladimir Putin in den letzten drei Jahren fast die Hälfte seiner Unterstützung. Nur ein Drittel der Befragten sprach ihm eindeutig ihr Vertrauen aus. Vor allem nach der Erhöhung des Rentenalters im Jahr 2018 wandte sich ein erheblicher Teil seiner Wahlbasis – Arbeiter*innen und Angestellte von Großbetrieben um die 50 – von Putin ab.

Jung, weiblich, arm.

Die jüngsten Schichten der Arbeiter*innenklasse, die oft hoch verschuldet sind, wurden als erste mit den Folgen der Krise konfrontiert. Die Enthüllungen über den Bau eines milliardenteuren Palastes für Putin an der Schwarzmeerküste sowie die Verhaftung des nach seiner Genesung zurückgekehrten Alexey Nawalny brachten das Fass zum Überlaufen.

Es ist eine breite Bewegung entstanden, die alle Schichten der russischen Gesellschaft repräsentiert. Über 40% der überwiegend jungen Teilnehmer*innen nahmen das erste Mal an einer Demonstration teil. Die Anzahl der Frauen war mindestens genauso so hoch wie die der Männer. Es ist schwer, die soziale Zusammensetzung der Teilnehmer*innen der Proteste zu bestimmen, doch sogar das bürgerliche Carnegie-Zentrum beschrieb sie als „junges, urbanes, post-industrielles Proletariat“ – Menschen, die trotz abgeschlossener Ausbildung oder Hochschulabschluss oft in mehreren Jobs gleichzeitig arbeiten müssen, in WGs wohnen, weil sie sich keine Mietwohnung leisten können, geschweige denn einen Immobilienkredit. Oft kommen sie aus der Provinz in die großen Städte, um dann schnell zu realisieren, dass sie dort kaum Perspektiven haben.

Phänomen Nawalny

Vor allem die Russen und Russinnen unter 30 haben Vertrauen in Nawalny . Der ehemalige Unternehmer und Jurist wurde durch seine Antikorruptionsermittlungen und scharfe Putin-Kritik berühmt. Nawalny ist als Politiker ein Produkt des atomisierten Chaos der post-sowjetischen Gesellschaft der 1990er-Jahre. Er begann seine politische Karriere in der liberalen Oppositionspartei Yabloko. Inspiriert von Erfolgen der „Farbenrevolutionen“ suchte er Unterstützung bei den Nationalisten und nahm bis zum Jahr 2012 an den berüchtigten „russischen Märschen“ teil. Nawalny gründete die Partei „Volksallianz“, die er selbst als „nationaldemokratisch“ charakterisierte. In dieser Zeit pochte er auf die Unvereinbarkeit der muslimischen und europäischen Kultur und versuchte von der durch den langen Krieg im Nordkaukasus und Terroranschläge in Großstädten verstärkten antimuslimischen Haltung der Bevölkerung zu profitieren.

Seit dem Jahr 2012 ging Nawalny allmählich auf Distanz zu rechtsextremen politischen Strömungen und gründete später die Partei „Russland der Zukunft“ als Versuch, Liberalismus mit teilweise linkspopulistischen Forderungen zu vereinbaren. Dabei war diese Entscheidung, genau wie seine späteren links anmutenden Äußerungen, absolut pragmatisch. Nawalny musste auf die politischen Bedürfnisse seiner Unterstützer*innen – Arbeiter*innenjugend und Studierende – reagieren. Er trat in seinen Streams zunehmend kritisch nicht nur gegen Putins Ära, sondern auch gegen die neoliberalen Reformen der 1990er-Jahre auf, die durch die Zerschlagung der Planwirtschaft, Privatisierung und Wirtschaftskriminalität die Lebensverhältnisse drastisch verschlechterten und Millionen Russ*innen durch den scharfen Rückgang der Lebenserwartung das Leben kosteten.

Seit fünf Jahren spielen in Nawalnys Ermittlungen soziale Themen eine wachsende Rolle. Er rief zur Gründung unabhängiger Gewerkschaften auf. Dank Unterstützung seiner Partei wurde die „Allianz der Ärzte“ in öffentlichen Dienst gegründet. Nawalny orientierte sich vor allem auf Beschäftigte im öffentlichen Dienst, um Konflikte mit den oppositionellen Kapitalisten zu vermeiden. Im Jahr 2016 schrieb Nawalny, dass Russland sich in einer mittelalterlichen, kleindörflichen, homophoben Sackgasse befinde, was die Rechten von ihm abstieß. Während des Präsidentschaftswahlkampfs in den USA solidarisierte er sich auf Twitter mit Bernie Sanders.

Wie weit geht der Protest?

Nach Jahren der politischen Demoralisierung tritt eine neue Generation der Arbeiter*innenklasse und der Jugend auf die politische Bühne Russlands. Sie sind perspektivlos, desillusioniert und voller Hass auf die Superreichen und hohen Beamt*innen, und treiben damit den Populisten Nawalny an der Spitze der Bewegung vor sich her.

Die Bereitschaft von Nawalny, trotz Lebensgefahr in den Knast zu gehen machte ihn zum populärsten Politiker der neuen Generation. Die ganze herrschende Klasse Russlands ist durch Korruption und den Diebstahl an der verstaatlichten Wirtschaft entstanden. Konsequente Korruptionskritik stellt daher sofort die ganze Kapitalistenclique in Frage. Unsere Genoss*innen waren von Anfang an an den Protesten beteiligt. Eine Genossin wurde bereits verletzt. Die radikalen Forderungen der größten politischen Bewegung im Lande seit Jahrzehnten zu ignorieren, wäre eine politische Straftat. Deswegen solidarisieren wir uns mit Forderungen der Protestierenden: Nieder mit dem Zaren! Freiheit für allen politischen Gefangenen! Nieder mit der Diktatur!

Wir betrachten den Kampf für die politische Demokratie in Russland als wichtigen Schritt zur Steigerung des politischen Bewusstseins, zum Aufbau einer Massenpartei der Arbeiter*innen und zum Kampf für den Sozialismus.