Verschwörungsmythen

Illuminatenauge

Kleinbürgerliche Ängste treffen auf globalen Kapitalismus

Mit der Covid 19-Epidemie ist ein Phänomen an die Öffentlichkeit gespült worden, das lange ein belächeltes Nischendasein fristete: Verschwörungsmythen. In den sozialen Medien und neuerdings auch bei Großdemonstrationen verbreiten Menschen die absurdesten Theorien: „Corona ist eine Erfindung von Bill Gates, um den Leuten unter dem Vorwand einer Impfung Mikrochips implantieren zu können“ oder „Donald Trump kämpft unter dem Deckmantel des Lockdown gegen eine von den Clintons und George Soros geführte Pädophilenmafia, die Babyblut benutzt, um unsterblich zu werden.“ Praktisch jeder Aspekt dieser Theorien ist durch Fakten aus den unterschiedlichsten Quellen widerlegt. Man fragt sich also: Wer glaubt so etwas und warum?

von Ianka Pigors, Hamburg

Ohne Zweifel gibt es echte Verschwörungen. Zum Beispiel der Trick zur Rechtfertigung des zweiten Irak-Krieges: Am 5.2.2003 präsentierte der US-amerikanische Außenminister Colin Powell dem UN-Sicherheitsrat gefälschte Beweise dafür, dass der Irak mobile Labore für chemische und biologische Massenvernichtungswaffen geschaffen habe. Obwohl die Fälschungen in Geheimdienstkreisen seit langem bekannt waren, wurden sie propagandistisch zur Rechtfertigung eines Krieges genutzt, der zwischen 150.000 und 500.000 Menschen das Leben kostete.

Im Gegensatz zu Verschwörungstheorien, die konkrete, überschaubare Vorgänge erklären könnten, entwerfen Verschwörungsmythen eine umfassende alternative Realität, in der eine im Geheimen operierende Gruppe über nahezu unbegrenzte Macht verfügt und mit (fast) übernatürlichen Kräften Politik, Wirtschaft, Medien usw. kontrolliert. Sie nutzt diese Macht, um sehr spezielle Ziele zu erreichen, z.B. die „jüdische Weltherrschaft“ oder die verlässliche Versorgung reptiloider Außerirdischer mit menschlichem Blut.

Keine Verschwörung, sondern System

Tatsächlich leben wir in einer Gesellschaft, in der eine sehr kleine Minderheit von Superreichen erheblichen Einfluss auf Politik, Wirtschaft und Medien ausübt. Die übergroße Mehrheit der Bevölkerung hat in wirtschaftlichen Fragen nichts zu sagen, ihr politischer Einfluss beschränkt sich auf Wahlen, die eher selten stattfinden und die meisten Medien sind im Besitz reicher Leute, die darauf achten, dass die Jounalist*innen auf ihren Gehaltslisten nicht zu oft etwas schreiben oder senden, das sie in ein schlechtes Licht rücken könnte.

Das ist keine Verschwörung. Es ist das zwangsläufige Ergebnis eines Wirtschaftssystems, in dem sich eine kleine Minderheit den gesellschaftlichen Reichtum, den die große Mehrheit gemeinsam produziert, privat aneignet. Diese Minderheit steht in einem mörderischen Konkurrenzkampf untereinander, den nur die Erfolgreichsten überleben. So wird privater Reichtum in immer weniger Händen konzentriert. Das ist kapitalistischer Alltag.

Es ist kein Geheimnis, dass Jeff Bezos, der Besitzer von Amazon, ein Privatvermögen von 200 Mrd US-Dollar hat. Das übersteigt das jährliche nationale BIP von 145 Ländern dieser Welt. Fraglos garantiert solcher Reichtum auch politischen Einfluss. Wenn hier überhaupt von Verschwörungen die Rede sein kann, dann dort, wo versucht wird, diese unkontrollierte wirtschaftliche und damit politische Macht zu vertuschen und von den öffentlich zugänglichen Zahlen abzulenken.

Guter und böser Kapitalismus

Wenn ich erkenne, dass konzentrierte wirtschaftliche Macht undemokratisch ist und dazu führt, dass die Profitinteressen einer reichen Minderheit über meine Bedürfnisse und die der großen Mehrheit gestellt werden, müsste ich das System, das uns in diese Lage gebracht hat, in Frage stellen. Was ist aber, wenn ich als Mittelständler*in oder Manager*in zwar unter dem Konkurrenzkampf mit größeren Unternehmen leide und meinen eigenen, im Vergleich geringen gesellschaftlichen Einfluss beklage, aber im Grunde selbst gut davon lebe, dass ich die Beschäftigten meiner Firma ausbeute? Was ist, wenn ich, zum Beispiel als Solo-Selbständige*r oder Angestellte*r in einem Kleinstbetrieb, nie die persönliche Erfahrung machen konnte, dass nicht nur Eigentum und Geld Macht verleihen, sondern auch der gemeinsame Kampf von Kolleg*innen und Nachbar*innen, wie bei einem Streik oder einem Mietboykott?

In dieser Situation will oder kann ich mir ein anderes, besseres Wirtschaftssystem nicht vorstellen. Stattdessen versuche ich Gründe zu finden, warum mich der Kapitalismus, an den ich glaube und mit dem ich mich identifiziere, so schmählich im Stich lässt. Wenn mir nun jemand erzählt, dass eine Gruppe von gemeinen Verschwörer*innen das System unfair manipuliert um eigene, systemfremde Ziele zu verfolgen und dass es deshalb nicht wie geplant für, sondern planwidrig gegen mich arbeitet, dann wird mich diese Geschichte ansprechen – auch wenn es keine Beweise gibt.

Solche Denkmuster sind nicht neu. Ende des 18. Jahrhunderts glaubten viele treue Anhänger*innen der Monarchie in ganz Europa, ein deutscher Geheimbund, die Illuminaten, hätte die französische Revolution organisiert. Warum sonst sollte sich das brave Volk gegen den ehrbaren Adel wenden?

Verschwörungsmythen schlagen immer individualistische und zumeist gleichzeitig autoritäre Lösungen vor, die eine Rückkehr zu einer vermeintlich besseren Vergangenheit ermöglichen sollen: Die Verschwörer*innen müssen gefasst und bestraft werden, die Nutzung einzelner, vermeintlich gefährlicher Techniken, wie z.B. Impfstoffen, Masken oder dem 5G-Mobilfunkstandard muss eingestellt werden. Dann wird alles wieder gut.

Verschwörungsmythen entwerfen eine alternative Realität, die dem aktuellen Stand der Wissenschaft häufig widerspricht. Das ist für die meisten Menschen der wichtigste Grund, sich von den „Aluhüten“ zu distanzieren. Den Herrschenden jede Art von Mauschelei zuzutrauen ist eine Sache, die Erde für eine Scheibe zu halten oder die erprobte Wirksamkeit von Impfstoffen zu leugnen, ist etwas ganz anderes.

Im Arbeitsalltag erfahren die meisten von uns den großen praktischen Nutzen der Wissenschaft. Elektriker*innen oder Krankenpfleger*innen müssen nicht unbedingt im Detail verstehen, was ein Elektron genau ist und wie das Immunsystem funktioniert. Ignorieren sie aber Wissenschaft und Technik, bekommen sie womöglich einen tödlichen Stromschlag oder vergiften ihre Patient*innen. Deshalb verlassen wir uns bei der Anwendung von Wissenschaft auch auf die tägliche Erfahrung tausender Kolleg*innen. Natürlich ist jedem*jeder von uns klar, dass sich Wissenschaft und Technik weiterentwickeln und dass wirtschaftliche Interessen die uns öffentlich zugänglichen Informationen beeinflussen. Kritisches Denken und das Hinterfragen von Schul- und Apparatemedizin ist daher nützlich. Das Baby mit dem Bade auszuschütten und nur noch irgendwelchen Youtube-Videos zu vertrauen, ist nicht die Alternative.

Rechts anschlussfähig

Schon vor Jahrhunderten wurden vor allem Menschen der Verschwörung beschuldigt, die in irgendeiner Form gesellschaftlich stigmatisiert waren. In Europa traf es vor allem Jüd*innen als Gruppe und Individuen, aber auch Männer anderer Herkunft, die tatsächlich oder angeblich schwul waren und Frauen, die, zum Beispiel als Ehefrau oder Mätresse eines Herrschers, ungewöhlich großen politischen Einfluss hatten.Im schlimmsten Fall endet dies in Pogromen, wie zwischen 1348-1351, als Jüd*innen in vielen deutschen Städten beschuldigt wurden, Brunnen vergiftet und so eine Pestepidemie ausgelöst zu haben. Individuell Beschuldigte landeten oft auf dem Schafott oder dem Scheiterhaufen.

Hinter Verschwörungsmythen stecken häufig rassistische Stereotype. Deshalb gibt es in Europa und den USA zahlreiche Verschwörungsmythen, in denen die angeblich von Natur aus verschlagenen Jüd*innen und – weniger häufig – Chines*innen und Japaner*innen eine Rolle spielen. Konspirationen, in denen Schwarze oder Roma angeblich die Strippen ziehen, kommen praktisch nicht vor – sie sind dem rassistischen Klischee nach dafür nicht schlau und zivilisiert genug. Damit sind Verschwörungsmythen anschlussfähig an rechtsextremen Ideologien.

Faschist*innen glauben, dass Ausbeutung, Armut und Machtmissbrauch nicht innerhalb des nationalen Wirtschaftssystems entstehen, sondern von äußeren „Volksfeinden“ eingeschleppt werden, um den „gesunden, reinrassigen Volkskörper“ zu vernichten. Wirtschaftskrisen entstehen demnach nicht aus dem kapitalistischen Zwang zur Profitmaximierung, sondern sind das Ergebnis der Geldgier jüdischer Bankiers und Arbeitslosigkeit die Folge von Arbeitsimmigration. Im faschistischen Traumland macht der Unternehmer zwar Profite, kümmert sich aber väterlich um seine Arbeiter*innen, so dass Gewerkschaften und Mitbestimmung überflüssig sind.

Treffen Verschwörungsmystiker*innen auf einer Corona-Demo auf Nazis und Rassist*innen, sehen sie vielleicht Menschen, die mit Jüd*innen und Migrant*innen möglicherweise die „falsche“ Gruppe als Verschwörer*innen ausgemacht haben, aber sie sehen keine politische Feinde. Das macht die Bewegung der Corona-Skeptiker*innen anfällig für die Unterwanderung von rechts. Die SAV ruft dazu auf, sich an den Demonstrationen gegen die Corona-Skeptiker*innen zu beteiligen. Es wäre allerdings aus linker Sicht falsch, sich auf diese zu beschränken, vor allem, wenn dabei alle Teilnehmer*innen der Corona-Demos pauschal als Nazis bezeichnet werden. Damit würde die Linke den etablierten Parteien in die Falle laufen. Diese haben ein Interesse daran, zu behaupten, wer sie kritisiert, sei automatisch rechts, um damit jegliche Opposition zu diskreditieren. Die Gegendemonstrationen müssen politisiert werden, sie müssen polarisiert werden, um aufzuzeigen, dass man sich nicht zwischen den beiden Übeln „Corona-Rebell*innen“ und „Establishment“ entscheiden muss.

Sozialist*innen vertreten einen Klassenstandpunkt. Sie schauen bei allen gesellschaftlichen und politischen Fragen zuerst darauf, wo regional und international die Interessen der Arbeiter*innen und besonders Unterdrückten liegen. Wir glauben nicht, dass wir den Kapitalismus reparieren können. Wir wollen ihn abschaffen und durch ein demokratisches System ersetzen, indem die Bedürfnisse der Mehrheit mehr zählen, als die Profitinteressen einer kleinen Minderheit.

Es gibt viele Gründe, die Politik der Herrschenden in dieser Epidemie zu kritisieren, aber die schwammigen Forderungen der Corona-Skeptiker*innen bringen uns nicht weiter. Wir, Arbeitnehmer*innen, Arbeitslose, Rentner*innen, Schüler*innen und Studierende müssen unsere kollektiven Erfahrungen nutzen, um zu planen, wie wir die medizinischen Herausforderungen so meistern können, dass möglichst wenig Menschen zu Schaden kommen und wir müssen diesen Plan gemeinsam durchsetzen. Dazu braucht es enormen gesellschaftlichen Druck – aber keine Verschwörungsmythen.


Der belgisch-jüdische Marxist Abraham Léon schrieb im Untergrund 1942 über das Kleinbürgertum und darüber, wie sein Hadern mit dem Kapitalismus sich Richtung Antikapitalismus entwickeln kann. Nicht jeder Verschwörungsmystikerin ist antisemitisch, aber die Denkmuster ähneln sich:

„… denn das Kleinbürgertum ist nicht nur eine kapitalistische Klasse, d.h., eine Klasse, die alle kapitalistischen Tendenzen in Miniatur in sich trägt. Es ist zugleich antikapitalistisch. Es hat das starke, wenn auch vage Bewusstsein, vom Großkapital ausgeplündert und ruiniert zu werden. Aber sein Doppelcharakter, seine Lage zwischen zwei Klassen, erlaubt es ihm nicht, die wirkliche Struktur der Gesellschaft und den wirklichen Charakter des Großkapitals zu durchschauen […] Es will antikapitalistisch sein ohne aufhören, kapitalistisch zu sein. Es will den schlechten Charakter des Kapitalismus zerstören, d.h., die Tendenzen, die es selbst ruinieren, und zugleich, den ‚guten‘ Charakter des Kapitalismus erhalten, der es ihm erlaubt, zu leben und sich zu bereichern. Aber da es einen Kapitalismus mit guten und ohne die schlechten Seiten nicht gibt, muss ihn das Kleinbürgertum erfinden […] Der ‚jüdische Kapitalismus‘ ist am ehesten geeignet, die Rolle des schlechten Kapitalismus zu übernehmen. […].“

Léon, Abraham: „Die jüdische Frage – eine marxistische Darstellung“, Arbeiterpresse, Essen 1995, ISBN 3-88634-064-3, S. 168-171.