Unterdrückung, Identität, Marxismus: Klasse ist nicht alles – aber ohne Klasse ist alles nichts

Der Aufstand gegen rassistische Unterdrückung in den USA öffnet Millionen die Augen über die Rolle von strukturellem Rassismus und Gewalt im kapitalistischen System. Hier stellt sich heraus, wie zentral Bewegungen gegen spezifische Unterdrückung sind, wenn man Kapitalismus und Klassenherrschaft insgesamt überwinden will.

von Sebastian Rave, Bremen

Zurecht fordern Schwarze Menschen, endlich gehört zu werden. Sie fordern ein Ende der Polizeigewalt und Willkür, aber auch ein Ende des Alltagsrassismus und der strukturellen Diskriminierung. Auch wenn Schwarze Menschen formal gleichgestellt sind, erfahren sie jeden Tag, nicht nur in den USA, eine besondere Unterdrückung.

Diese spezifische Unterdrückung ist nicht nur Summe von vielen individuellen, uninformierten Fehlentscheidungen unreflektierter Weißer, auch wenn diese nicht zu leugnen sind. Sie ist Ergebnis eines Gesellschaftssystems, das auf der mal mehr, mal weniger gewaltsamen Unterdrückung der Mehrheit basiert, diese atomisiert, zerteilt und auspresst. Der Kapitalismus nützt einer kleinen Minderheit, die durch den Besitz von Produktionsmitteln Reichtum anhäuft, indem sie sich die unbezahlte Arbeitskraft derer aneignet, die jeden Tag zur Arbeit müssen.

Spezifische Unterdrückung

Dass diese Arbeiter*innen eine Klasse sind, die gemeinsame Interessen hat und diese nur gegen die Klasse der Produktionsmittelbesitzer*innen durchsetzen kann, ist keine automatische Erkenntnis. Um sich der „Identität“ Klasse zugehörig zu fühlen, braucht es Klassenbewusstsein. Das bildet sich häufig erst im gemeinsamen Kampf.

Einige Linke argumentieren, es bestünde die Gefahr, dass die Herstellung von „Identitäten“ wie Schwarze Menschen, Frauen oder LGTBQI die Arbeiter*innenklasse spaltet. Jede Form von Unterdrückung wird auf die Klasse reduziert, die Antwort auf Rassismus, Sexismus, Homo- oder Transfeindlichkeit ist immer: „Klassenkampf!“

„White Power“ ist eben nicht das gleiche wie „Black Power“. Die Unterdrückung mit dem Kampf gegen die Unterdrückung gleichzusetzen, weil es die Klasse spalten würde, ist nicht nur ignorant, es ist gefährlich.
Zuletzt in Social Media geteiltes Propaganda-Poster der Socialist Labour Party, 1968

Es ist richtig zu betonen, welche Rolle die sich ihrer Kraft bewusste Arbeiter*innenklasse spielen kann. Durch ein einfaches Mittel, den Streik, kann sie die komplette Ökonomie, und damit die Grundlage dieser Gesellschaft lahmlegen. Man kann sich aber nicht aussuchen, wo die jeweiligen Mitglieder der Klasse sich politisieren, wo sie in den Kampf treten und sich dabei mit anderen identifizieren, die dieselbe Unterdrückung erfahren. Die Erfahrung mit spezifischer Unterdrückung, die Ungerechtigkeiten, die Schwarze Menschen, Frauen, LGBTQI, nationale Minderheiten jeden Tag erleben müssen, können dazu führen, dass Menschen sich primär als Schwarze, Frauen, LGBTQI oder auch als Palästinenser*innen oder Katalan*innen wehren. Diese spezifische Unterdrückung kann als stärker empfunden werden als die ökonomische. Die Gefahr, als Schwarzer von einem Polizisten erschossen zu werden, die eigene Muttersprache nicht sprechen zu dürfen oder als Frau vergewaltigt zu werden, kann für Menschen das deutlich größere Problem sein als ihre miesen Arbeitsbedingungen. Dazu kommt, dass auch miese Arbeitsbedingungen oft einen Aspekt von spezifischer Unterdrückung enthalten. Die Einkommen und der Lebensstandard von Frauen und Menschen mit Migrationshintergrund sind nahezu überall niedriger.

Woher kommt die Spaltung?

Die alltägliche Konkurrenz der Lohnabhängigen untereinander wird schon in der Schule mittels Noten anerzogen, um sich auf dem Arbeitsmarkt durchsetzen zu können. Sie wird verstärkt durch eine Arbeitsteilung nach „Qualifikationen“, in der „ungelernte“ Arbeitskräfte noch mehr Konkurrenz ausgesetzt sind und schlechter entlohnt werden.

Der Rassismus als Ideologie war der Versuch, die gewalttätige Ungleichbehandlung von Menschen (Sklavenhandel, extreme Ausbeutung, Ghettos…) pseudowissenschaftlich zu rechtfertigen, und ging einher mit dem Aufstieg des Kapitalismus, der mit Hilfe von Gewalt einen Großteil seines Reichtums anhäufte. Diese systematische Gewalt findet noch heute ein lautes Echo, egal ob bei der Schwarzen Bevölkerung in den USA oder bei der dritten Generation von „Gastarbeiter*innen“ in Deutschland: Durch strukturelle Benachteiligung, schlechtere Bildungschancen, Segregation, höhere Armutsquote, oder Racial Profiling.

Rassismus ist ein Kind dieser Gesellschaft. Wegen dieser engen Verbindung von Rassismus und Kapitalismus reicht es auch nicht aus, nur auf antirassistische Bildungsarbeit und das individuelle „Checken“ von Privilegien zu setzen, zumal diese zwar oft real, meist aber sehr relativ sind. Was ist die Abwesenheit von Diskriminierung im Vergleich zu den absurden Privilegien, die Milliardär*innen genießen? Tatsächlich ist die Annahme, weiße Arbeiter*innen würden von Rassismus profitieren, sogar faktisch falsch: Studien zeigen, dass die Löhne auch für weiße Arbeiter*innen dort niedriger sind, wo nicht-weiße Arbeiter*innen am meisten diskriminiert werden. Der Grund: Gewerkschaften sind schwächer, wo nicht gemeinsam für mehr Lohn gekämpft wird, vom Rassismus profitiert nur das Kapital.

Farbenblindheit

Es wäre jedoch fahrlässig, daraus abzuleiten, dass die Arbeiter*innenbewegung am besten aufgestellt wäre, wenn sie farbenblind wäre. Wie soll man Schwarze Arbeiter*innen für einen gemeinsamen Kampf gewinnen, wenn man blind ist für ihre Lebensrealität? Das war in der frühen Phase der US-Amerikanischen Arbeiter*innenbewegung tatsächlich ein Problem, wie James P. Cannon in „The Russian Revolution and the Black Struggle in the United States“ schreibt: „Es wurde nur als ein ökonomisches Problem gesehen, als ein Teil des Kampfes zwischen Arbeiter*innen und Kapitalisten; nichts könne an den besonderen Problemen von Diskriminierung und Ungleichheit etwas ändern außer der Sozialismus.“

Erst nach der russischen Revolution, in der die spezifische Unterdrückung vieler Nationalitäten eine zentrale Rolle gespielt hatte, begann die Kommunistische Partei der USA in den 1920ern und 30ern die gezielte Agitation unter Schwarzen Arbeiter*innen: Gewerkschaftliche Organisierung von Schwarzen Arbeiter*innen, Kampagnen für die Gleichbehandlung bei Arbeitsämtern, bis hin zum Aufstellen des Schwarzen Vizepräsidentschaftskandidaten James W. Ford im Jahre 1932. Diese Verbindung von konkreten Verbesserungen durch Antirassismus und Klassenkampf stärkte zum einen die KP durch tausende neue Schwarze Mitglieder und war zugleich die Voraussetzung dafür, Schwarze endlich in die Arbeiter*innenbewegung zu integrieren, womit die Bedingungen für die Bürgerrechtsbewegung erst geschaffen wurden. Der Hitler-Stalin-Pakt beendete diesen Aufschwung der KPUSA. Beim Kriegseintritt der USA argumentierte sie gegen Proteste für die Gleichbehandlung von Schwarzen Arbeiter*innen in der Kriegsindustrie, weil das die Kriegsproduktion beeinflussen könne.

Revolte gegen den Status Quo

Francis Fukuyama, der nach dem Zusammenbruch des Stalinismus schon das Ende der Geschichte sah, irrte erneut, als er meinte, die Krise der Linken fiele mit ihrer Hinwendung zu Identitätspolitik und Multikulturalismus zusammen. Der Kampf gegen spezifische Unterdrückung und der Kampf für eine Verbesserung der Lebensbedingungen der Arbeiter*innenschaft gehören zusammen, ergänzen und befruchten sich.

Die soziale Explosion nach dem Mord an George Floyd spielte eine große Rolle dabei, die Klassenfrage in den Vordergrund zu rücken. Wenn gewerkschaftlich organisierte Busfahrer*innen in Minneapolis sich weigern, Gefangene zu transportieren; wenn Postbeschäftigte, deren Postfiliale bei den Riots in Flammen aufgegangen sind, sich auf die Seite der Bewegung stellen, zeigt dies, dass der Kampf gegen spezifische Unterdrückung eine Inspiration für den Kampf gegen jede Form von Unterdrückung sein kann.

Hafenarbeiter*innen an der US-Westküste haben am 19. Juni, dem Gedenktag zum Ende der Sklaverei, die Arbeit niedergelegt, um gegen anhaltenden Rassismus zu protestieren

Der Kapitalismus ist mehr als nur ein ökonomisches System. Er hat einen komplexen politischen Überbau, der für die Aufrechterhaltung der Herrschaft des Kapitals entscheidend ist. Die Idee, dies sei eine faire und natürliche Ordnung, „wir alle“ seien der Staat, jede*r sei seines Glückes Schmied und jede andere Form von Rechtfertigung für Herrschaft, Ungleichheit und Unterdrückung sind nötig, um die nackte Diktatur des Geldes zu verschleiern. Jedes mal, wenn dieser Schleier rutscht, wird es interessant.

Die heutige Black-Lives-Matter-Bewegung ist deswegen mehr als nur ein Aufschrei der Empörung nach einem weiteren Polizeimord. Der Hass auf Trump und die Rechte vermischt sich mit der Enttäuschung über das Fehlen einer Alternative auf der politischen Ebene nach Sanders` Kapitulation. In den letzten Jahren hat es einen Aufschwung an gewerkschaftlichen Protesten gegeben, die sich jetzt auf die Seite der Bewegung stellen. Die Weltmacht USA ist auf dem absteigenden Ast und hat in der Corona-Krise ihr Gesicht verloren. Eine katastrophale Wirtschaftskrise hat begonnen, Millionen stehen vor den Trümmern ihrer Existenz. Das Erwachen aus dem American Dream beginnt mit den Worten „I Can’t Breathe!“