Klassenkämpfe in Frankreich

Von Johannes von Simons, Berlin

Bilanz der „Gelbwesten“

Die Protestbewegung der „Gilets Jaunes“ (Gelb- bzw. Warnwesten) begann im Herbst 2018. Aus Protest gegen eine angekündigte Benzinsteuer-Erhöhung des französischen Staatspräsidenten Macron ins Leben gerufen, entwickelte sie sich zunächst im Internet und in den sozialen Medien. Am 17. November 2018 besetzten auf Initiative eines Lkw-Fahrers mindestens 300.000 Personen in Warnwesten Kreisverkehre und Mautstellen und errichteten Straßensperren in ganz Frankreich.

Schon einen Monat nach Beginn gab es ca. fünf Millionen Mitglieder in den verschiedenen Facebook-Gruppen der Gelbwesten. Obwohl die Spitzen der Gewerkschaftsdachverbände die Bewegung nicht explizit unterstützten, wurden viele Kreisverkehre monatelang besetzt gehalten. Zusätzlich fanden bis einschließlich 7. März 2020 an 69 Samstagen Blockaden und Demonstrationen statt, und erst am 14.3. wurde „Acte LXX“ wegen des Covid19-Ausbruchs abgesagt: Erstens würden die Aktivist*innen sich selbst und andere gefährden, und zweitens würde eine Durchführung in der breiten Bevölkerung auf Unverständnis stoßen.

Verhasster Macron

Neben den wirtschaftlichen Gründen war auch die Person und das Auftreten von Macron ein Grund für die Größe und die Entschlossenheit der Proteste: Bei vielen Französ*innen ist er abgrundtief verhasst, weil er keinen Hehl aus seiner Verachtung der Armen und sozial Benachteiligten macht. Ein paar Zitate: „Ich werde den Faulenzern, Zynikern und Extremen nichts nachgeben.“ „In jedem Bahnhof trifft man Menschen, die erfolgreich sind, und Menschen, die nichts sind.“ „Wir stecken verrückt viel Geld in die Wohlfahrt.“ Dementsprechend war „Macron dégage!“ – „Macron, tritt zurück!“ eine der Hauptforderungen der Proteste.

Mehr als Benzinpreisproteste

Dadurch, dass sie sich nicht auf das Thema Benzinpreise beschränkte, und durch die Vermischung mit anderen Protesten gelang es der Bewegung, in den vergangenen fünfzehn Monaten jeden Samstag zwischen 10.000 und 400.000 Demonstrant*innen auf die Straße zu bringen. Die Gelbwesten stellten auch Forderungen zu Themen wie Verkehrswesen, Demokratie und Institutionen, Arbeit, Renten und Sozialhilfe, Kaufkraft, Privatunternehmen, Gesundheit, Wohnen und Einwanderung auf. Diese Bewegung bedeutete einen wichtigen Schritt zur Entwicklung des Klassenbewusstseins in Frankreich. Dadurch war es für soziale und ökologische Protestbewegungen möglich, direkt an ihre Mobilisierungen anzuknüpfen.

Staatliches Repressionstraining

Zur Bilanz der Gelbwesten gehört auch, dass der Repressionsapparat des französischen Staates zur Bekämpfung der Proteste weiter ausgebaut und verschärft wurde. Inzwischen ist es „normal“, dass Verhaftungen ohne klaren Grund vorgenommen werden, dass Tränengas und Gummigeschosse großflächig gegen Gruppen eingesetzt werden, dass auch die Polizei gepanzerte Fahrzeuge benutzt, dass maskierte Polizist*innen in Zivilkleidung Demonstrant*innen infiltrieren, dass Anti-Terror-Brigaden mit eingesetzt werden … und der französische Stabschef spricht oft von einer „Kriegssituation“. Zehntausende Demonstrant*innen waren in Polizeigewahrsam, mehr als 2000 wurden verurteilt, davon mehr als 400 zu Haftstrafen. Es gab zwei Tote und viele Tausend Verletzte, davon 432 schwer; 25 Personen verloren ein oder beide Augen. Von den 227 gegen Ordnungskräfte eingeleiteten Verfahren war hingegen keines erfolgreich.

Kämpfe seit November 2019

Ab November 2019 kanalisierte sich der Widerstand gegen die Regierung Macron in die Proteste gegen die geplante Rentenreform. Diese strebt vorgeblich eine Vereinfachung des französischen Rentensystems durch Überführung der verschiedenen existierenden Altersvorsorgen in eine einzige an. Tatsächlich wäre sie aber eine Verschlechterung für die meisten Arbeiter*innen und dient nicht zuletzt der Schaffung großer Profite für private Anlagegesellschaften wie Versicherungen und Banken.

Frauen hätten wie so oft noch stärkere Rentenverluste als Männer. Und sowohl in Frankreich als auch in Deutschland ist es mitnichten so, dass „wir alle“ wegen der gestiegenen Lebenserwartung länger arbeiten müssen, sondern im Gegenteil: Durch die enorm gestiegene Produktivität in allen Sektoren der Wirtschaft könnten die Wochenarbeitszeit und das Renteneintrittsalter massiv gesenkt werden.

Der erste Höhepunkt der Proteste war ein Generalstreik am 5. Dezember 2019. Mehrere Millionen Arbeiter*innen waren im Streik und bei fast 250 Demos überall in Frankreich waren 1,5 Millionen auf der Straße. Verschiedene Sektoren der Wirtschaft waren großteils lahmgelegt, darunter Ölraffinerien, Häfen und das Transportwesen, das Justizwesen, die Schulen und der ÖPNV. Sogar Polizist*innen beteiligten sich vielerorts an den Streiks. Der Druck war so groß, dass viele Unternehmen kurzfristig außerplanmäßige Geldprämien zusagten.

Arbeiter*innen nehmen es selbst in die Hand

Wichtig für den weiteren Verlauf war, dass die Beschäftigten im Transportsektor und im Bildungssektor nicht auf die Gewerkschaftsspitzen warteten und selbständig eine Fortsetzung der Streiks ausriefen. Am 6. Dezember (einem Freitag) riefen letztere dann den nächsten „offiziellen“ Streiktag für den 10. Dezember aus. Bis in den Februar hinein gab es immer wieder Initiativen von der Basis und es verging kein Tag ohne Proteste – weder während der Feiertage noch in der Winterferienzeit im Januar.

Angesichts der hohen Zustimmungswerte für die Proteste – in Umfragen monatelang zwischen 60 und 70 % – musste die Regierung die Reformpläne vorerst zurückziehen. Seit der Coronakrise fällt es Macron & Co. aber wegen der Unmöglichkeit größerer Proteste leichter, ihr Kürzungsprojekt voranzutreiben, und es hat eine erste Lesung im Parlament stattgefunden.

Tous ensemble!  Alle zusammen!

Eine vorläufige Bilanz der Proteste fällt insofern positiv aus, dass es zum ersten Mal seit vierzig Jahren wirklich koordinierte, branchenübergreifende und von allen großen Gewerkschaftsverbänden unterstützte Streiks und Proteste gab. CGT, FO, Solidaires und FSU riefen gemeinsam für den 9. bis 11. Januar auf: „Am Montag [6. Januar soll] in allen Betrieben, an sämtlichen Arbeitsplätzen und Bildungseinrichtungen, in Vollversammlungen der Beschäftigten, Schüler*innen sowie Studierenden über die nötigen Maßnahmen diskutiert [werden], um den 9. Januar und die Tage darauf zum Erfolg zu machen.“

Klar ist aber auch, dass der Widerspruch zwischen den gesellschaftlich von allen Arbeiter*innen produzierten Gütern und deren Verteilung an einige wenige riesig ist. Niemals zuvor hat es so viel Reichtum gegeben wie heute. Es ist mehr als genug vorhanden, um darüber auch unsere Renten zu finanzieren. Dasselbe gilt mit Blick auf die ganzen anderen Kürzungen, die das gesellschaftliche Leben beeinflussen.

Frankreich ist nicht das einzige Land, in dem vor Ausbruch der Coronakrise Revolten stattfanden. Seit den ersten Erhebungen und Widerstandsaktionen durch die „Gelbwesten“ haben sich weltweit massenhaft soziale Kämpfe entwickelt, und es ist in verschiedenen Ländern zu Generalstreiks mit revolutionären Elementen gekommen. Die Liste der Länder, in denen die Regierungen der Opposition der Massen gegenüber stehen, wird immer länger. Wir sollten selbstbewusst in diese neue Ära der sozialen Konflikte eintreten und dabei das Ziel verfolgen, Arbeitnehmer*innen und die Massen zum Sturz des kapitalistischen Systems zu bringen, das nur Ausbeutung kennt. Denn dann wären alle Menschen in die Lage versetzt, echte Emanzipation und Befreiung zu erleben, indem sie eine demokratische, sozialistische Gesellschaft aufbauen.