“Die Hoffnung, mehr Kontrolle über das Leben zu haben”

Interview mit Sinéad Daly zu den nationalen Unabhängigkeitsbewegungen in Schottland und Katalonien

In Katalonien, Schottland und anderen europäischen Ländern gibt es Bestrebungen nach nationaler Unabhängigkeit. Warum ist das so?

Die Unfähigkeit des Kapitalismus die gesellschaftlichen Probleme zu lösen, führt zu einem Anstieg von Spannungen zwischen Ländern, aber auch in ihnen selbst. Die europäische Arbeiterklasse hat einen hohen Preis für die Folgen der weltweiten Bankenkrise seit 2007/2008 bezahlt. Kürzungsprogramme, wachsende Arbeitslosigkeit, Streichungen von öffentlichen Dienstleistungen und eine stark wachsende Ungleichheit. Denn die Profite der obersten „ein Prozent“ wachsen rasant. Das ist verbunden mit einem Niedergang der bürgerlichen – inklusive der ehemals sozialdemokratischen – Parteien. All diese Parteien haben keine Antwort auf die Krise des Kapitalismus. Ganz im Gegenteil, sie tun so, als ob man nichts machen könne.

Menschen, die nach einem Ausweg aus dieser Situation suchen, können durch nationalistische Ideen angezogen werden. Die Sozialistische Partei Schottlands (Schwesterorganisation der SAV in Schottland) hat die Bewegung für schottische Unabhängigkeit und die Volksabstimmung als “Aufbegehren gegen Kürzungspolitik und das Establishment auf Wahlebene” bezeichnet. Angetrieben von der Hoffnung, mehr Kontrolle über ihr Leben zu haben, haben 1,6 Millionen Menschen für die Unabhängigkeit Schottlands gestimmt. Hunderttausende, die nie gewählt haben, haben sich beteiligt. Die Wahlbeteiligung lag bei über 85 Prozent.

Ähnliche Entwicklungen sehen wir in Katalonien. Die Wirtschaftskrise hat sich stark ausgewirkt. In Katalonien gibt es die höchste Rate an Mangelernährung, in Schulen kann im Winter nicht mehr geheizt werden und SchülerInnen müssen Decken zum Wärmen mitbringen. Die Unabhängigkeitsbewegung ist Ausdruck einer Hoffnung auf Besserung dieser Situation.

Das Zusammenkommen von wirtschaftlichen und sozialen Fragen mit nationaler Unterdrückung kann, wie wir es in Katalonien gesehen haben, zu Massenbewegungen bis hin zu revolutionären Situationen führen. Aber es gibt auch eine gefährliche und hässliche Seite des Wachstum des Nationalismus – insbesondere was das Wachstum der Rechten angeht.

Es gibt keine pauschale Herangehensweise an nationale Unabhängigkeitsbewegungen. Peter Hadden, der ein führendes Mitglied des Komitees für eine Arbeiterinternationale war, führt in seinem Buch “Bewegte Zeiten” über Nordirland aus: “Die Forderungen in der nationalen Frage müssen sich auf die tatsächlichen Umstände beziehen. Zum Bewusstsein verschiedener Schichten, besonders der Arbeiterklasse. Weder Bedingungen noch Bewusstsein sind fest oder statisch. Sie ändern sich ständig, müssen die Anforderungen neu bewertet, abgestimmt und verändert werden.”

Warum hat die SNP in Schottland zuletzt an Unterstützung verloren?

Auch wenn die Volksabstimmung nicht gewonnen wurde, hat die SNP damals massiv an Unterstützung gewonnen. Sie sind links aufgetreten, ihre Mitgliedschaft wuchs auf 100.000. Bei den Wahlen im Mai 2015 haben sie mehr als fünfzig Prozent der Stimmen gewonnen. Aber die Führung der Partei blieb die gleiche. Im schottischen Parlament und den Kommunen wurde Kürzungspolitik umgesetzt. Die SNP-Führung stellt sich auch sehr pro-EU auf. Aber viele, die für Unabhängigkeit stimmten, lehnen die EU der Banken und Konzerne ab.

Die letzten Parlamentswahlen sahen daher Verluste für die SNP. Gleichzeitig gibt es Hinweise für eine wachsende Unterstützung für die schottische Labour Party. Auch wenn das bisher wegen ihrer mangelhaften Position zur Frage der Unabhängigkeit Grenzen hat.

Wie wirken sich die Ereignisse in Katalonien auf Schottland aus?

Es gibt eine große Stimmung von Solidarität und Mitgefühl mit den Menschen in Katalonien. Das ist vor allem wegen der massiven staatlichen Repression der Fall. Tausende Menschen haben sich in Schottland an Solidaritätsdemonstrationen beteiligt.

Während der schottischen Unabhängigskeitskampagne gab es das “Projekt Angst” des Establishments, in Katalonien sehen wir das “Projekt Terror”. Dass sich Zehntausende dort zur Verteidigung der Wahllokale versammelt haben, sich Millionen an Streiks und Demonstrationen beteiligt haben, hat hier viele Menschen inspiriert. Zur gleichen Zeit verzweifeln die Menschen an der SNP, die sich auf die Seite der EU in dem Konflikt gestellt hat.

Wie stellen sich SozialistInnen zu diesen Ereignissen und zu den Bestrebungen nach nationaler Unabhängigkeit?

Wir unterstützen die berechtigten Forderungen der Arbeiterklasse, aber machen deutlich, dass die Probleme auf Basis des Kapitalismus nicht gelöst werden können. Daher verbinden wir jede Bewegung mit dem Kampf für eine sozialistische Gesellschaft.

So hätten wir in Schottland natürlich einfach die Kampagne der SNP unterstützen können. Stattdessen haben wir eine Kampagne für ein unabhängiges sozialistisches Schottland geführt. Wir haben argumentiert, dass es nicht ausreicht die schottische Flagge am Holyrood (dem Parlament) zu hissen, sondern dass wir einen grundlegenden gesellschaftlichen Wandel brauchen.

Unsere Schwesterorganisation in Katalonien verteidigt das Recht der KatalanInnen über ihre Zukunft zu entscheiden und fordert ein sozialistisches Katalonien in Verbindung mit einer sozialistischen Konföderation aller Teile des Spanischen Staats. Dazu unterstützen wir alle Proteste gegen die Herrschenden und ihre Handlanger in der Zentralregierung.

Peter Hadden fasste in dem schon erwähnten Buch die sozialistische Herangehensweise an Unabhängigkeitsbewegungen sehr gut zusammen: “Sozialismus bedeutet […] eine internationale Einheit der Arbeiterklasse zu schaffen. Eine Einheit, die auf der Achtung der Unterschiede beruht und in der alle nationalen und Minderheitenrechte garantiert sind. Es ist die Einheit der Arbeiterklasse, die im Kampf für eine solche Gesellschaft geschaffen wird, die die nationale Frage lösen wird.”