Wie weiter in Hongkong?

HongkongDie Proteste in Hongkong hängen eng mit den Entwicklungen in ganz China zusammen

Ein Gespräch mit Sally Tang Mei Ching, Aktivistin der Demokratiebewegung in Hongkong.

Das Gespräch führte Aron Amm

Nach den Aufständen der „Empörten“ in Südeuropa und dem „arabischen Frühling“ in Nordafrika ließ in diesem Herbst eine neue Protestbewegung aufhorchen: die sogenannte Regenschirm-Revolution in der Sonderverwaltungsregion Hongkong. Wie brach sich denn diese massenhafte Erhebung Bahn?

In den letzten Jahren kam es immer wieder zu großen Protesten. Tatsächlich fanden mehrmals Demonstrationen von Hunderttausenden statt. Stein des Anstoßes sind die undemokratischen Zustände in Hongkong, dessen Staatshoheit 1997 von Großbritannien an China übergeben wurde. So wird der Regierungschef nach wie vor bloß von einer kleinen Minderheit gewählt.

Dass sich die Ereignisse in diesem Herbst überschlagen haben, ist darauf zurückzuführen, dass Peking der Bewegung vor Jahren Wind aus den Segeln zu nehmen versuchte, in dem auf freie Wahlen 2017 vertröstet wurde. Als das chinesische Regime 2007 dieses Versprechen gab, schien ein Jahrzehnt eine lange Zeit. Doch inzwischen sind die Menschen ungeduldig geworden. Eine freie Nominierung der Kandidaten und demokratische Wahlen sind weiter nicht in Sicht.

Welche Wirkung hatte die „Sonnenblumen-Revolution“ in Taiwan im Frühjahr?

Die Massenproteste in Taipeh und ganz Taiwan bedeuteten eine Ermutigung für uns in Hongkong. Im März wurde dort sogar das Parlament gestürmt.

Die Ereignisse in Taiwan wie in den Vorjahren auch schon „Occupy Wall Street“ und die Besetzung des Tahrir-Platzes in Ägypten führten vielen vor Augen, dass ein paar Demonstrationen nicht ausreichen werden, um unser Anliegen durchzusetzen. Folglich strebte die Pan-Demokratie-Bewegung eine fünftägige Belagerung des Finanzzentrums von Hongkong an. Dazu kam es zwar nicht – immerhin wurden im Herbst jedoch drei Stadtteile über Wochen hinweg besetzt. Zuvor, Ende September, hatten erst die Studierenden, dann 20.000 Schülerinnen und Schüler einen Tag protestiert.

Warum war von einer „Regenschirm-Revolution“ die Rede?

Die Regenschirme dienten uns zum Schutz gegen den Einsatz von Tränengas. Es war das erste Mal seit 30 Jahren, dass von staatlicher Seite überhaupt Tränengas verwendet wurde. Für das Gros der Bevölkerung eine völlig neue Erfahrung.

Bei der Kundgebung am 4. Oktober mit hunderttausend Menschen gehörtest du zu den Rednern. Wie kam es dazu?

Ich war von Anfang an bei den Besetzungsaktionen im Stadtteil von Mongkok aktiv gewesen. Am 3. Oktober hatte sich hier die Lage dramatisch verschärft: Nachdem die Polizei sich zurückziehen musste, waren etwa tausend von der Regierung bezahlte Schläger aufgetaucht. Diese attackierten wiederholt die Demonstranten, es kam auch zu sexuellen Übergriffen.

Die Polizei verschloss davor indes die Augen. Schlimmer noch, sie verhaftete an Stelle dieser Schläger friedfertige Demonstranten.

Am 4. Oktober gab ich einen Augenzeugenbericht von den Szenen, die sich am Vortag in Mongkok abgespielt hatten.

Welche Fragen und Forderungen werden unter den Protestierenden diskutiert?

Die Pan-Demokratie-Bewegung hofft darauf, freie Wahlen zu erreichen, auch wenn sich in China selber nichts ändern sollte. Das halte ich, wie meine Gruppe „Socialist Action“, für eine Illusion. Peking hat viel zu große Sorgen, dass Zugeständnisse in Hongkong Erwartungen auf dem Festland wecken. Sie fürchten, dass im Fall einer „Öffnung“ eine Dynamik einsetzen könnte, die sie nicht mehr zu stoppen vermögen. Dass Prozesse in Gang kommen, die sich nicht kontrollieren lassen.

Ein Thema unter den Aktiven war auch die Frage von Demokratie in der Demokratiebewegung selber. Ich denke, es hätte auf allen Ebenen regelmäßig Versammlungen, Diskussionen, Abstimmungen, Wahlen und die Möglichkeit der Abwahl von Vertretern der Bewegung geben sollen.

Und man hätte eigentlich einen Plan zur Steigerung der Proteste gebraucht, die Frage eines Generalstreiks hätte ernsthaft in Erwägung gezogen werden sollen.

Bei den Protesten sollen sich auch rechte Kräfte unter die Demonstranten gemischt haben.

Das stimmt. Man kann die Rechten bei uns aber nicht mit den Rechtsradikalen in Europa vergleichen. Bei den Akteuren in Hongkong handelt es sich nicht um konsolidierte Gruppen, sie haben keine feste Ideologie. Bislang organisieren sie sich überwiegend über Facebook.

Ein Teil von ihnen wird zu den sogenannten Nativisten gezählt. Diese ersehnen sich eine Rückkehr nach Großbritannien, weil vor 1997 angeblich alles besser war. Außerdem schieben sie einen Hass auf die Festland-Chinesen schlechthin. Was dadurch genährt wird, dass diese beziehungsweise die kleine reiche Elite ein Drittel aller Häuser in Hongkong gekauft haben.

Ist die Bewegung jetzt vorüber?

Mit der ersten Welle der Proteste ist es offensichtlich vorbei. Platzbesetzungen wurden geräumt, Mongkok beispielsweise ist heute fest in der Hand der Polizei. Auch die Unterstützung in der Bevölkerung ist geschwunden. Führende Personen der Pan-Demokratie-Bewegung haben Teilnehmer nach Hause geschickt. Kleine Gruppen von Studierenden versuchten zuletzt, weiter auszuharren – allerdings ohne Programm, ohne Strategie.

Aber es wird weiter brodeln. Auch auf dem Festland. Dort wurde die Hongkonger Demokratiebewegung als antichinesisch dargestellt. Doch auch das zieht nicht mehr bei allen. Bei dortigen Solidaritätsaktionen wurden über 150 Menschen festgenommen.

In China wird zu einem Zeitpunkt die Herrschaft des Marktes durchgesetzt, zu dem es mit dem Kapitalismus weltweit bergab geht. Im Zuge dessen wird es künftig nicht nur um die Frage von mehr demokratischen Rechten gehen. Auch Diskussionen über Alternativen zur globalen Krise des Profitsystems werden zunehmen.

Das Interview wurde in gekürzter Version am 22.12.14 im Neuen Deutschland veröffentlicht.