Das Wahlprogramm der LINKEN

DIE LINKE hat auf ihrem Bundesparteitag in Dresden im Juni diesen Jahres mit wenigen Gegenstimmen ein Wahlprogramm verabschiedet, mit dem sie sich deutlich von den anderen für den neuen Bundestag kandidierenden Parteien unterscheidet und einen antikapitalistischen Anspruch formuliert, auch wenn der Titel „100 Prozent sozial“ keine Systemveränderung in Aussicht stellt. Im Gegensatz zu den ersten Entwürfen des Wahlprogramms, die antikapitalistische Positionen des Erfurter Programms stark verwässert und die Konturen der LINKEN im Sinne einer unverbindlichen „Erzählung“ verwischt hatten, sind viele Forderungen in Dresden durch die Parteilinke präzisiert worden. Diese sind im Kern unvereinbar mit dem, was das Großkapital und seine Parteien (SPD und Grüne eingeschlossen) akzeptieren können. Die erneute Absage von Rot-Grün an eine Regierungszusammenarbeit mit der LINKEN auf Bundesebene folgte dann auch prompt, während sie diese mit der CDU ausdrücklich offen lassen.

Von Heino Berg

DIE LINKE bleibt also – trotz vieler Schwächen – eine Organisation, die sich fundamental von allen anderen Parlamentsparteien unterscheidet. Allerdings bestehen die Widersprüche zwischen dem vor allem aus der PDS gekommenen Flügel, der auf eine Kooperation mit SPD und Grünen zur Verwaltung des kapitalistischen Systems setzt und den stärker auf Klassenkampf und einer antikapitalistischen Perspektive orientierten Kräften fort, auch wenn beide Flügel vor den Bundestagswahlen nicht mehr so offen wie beim Göttinger Parteitag im letzten Jahr aufeinander prallen.

Nach der Entscheidung im September werden die unter den Teppich gekehrten Gegensätze und vertagten Schlüsselfragen linker Strategie erneut auf die Tagesordnung drängen. SozialistInnen müssen sich auf diese Zerreißproben vorbereiten und geduldig um Mehrheiten für eine antikapitalistische Alternative kämpfen. Eine grundsätzliche Auseinandersetzung mit dem LINKE-Wahlprogramm aus marxistischer Sicht kann bei dieser Vorbereitung dienlich sein. Dazu ist dieser Artikel ein Beitrag.

Teil- und Systemforderungen

Das verabschiedete Wahlprogramm enthält wichtige Forderungen, auf die sich der Widerstand gegen die von SPD und Grünen mitgetragene Kriegs- und Kürzungspolitik der Regierung Merkel stützen kann. Dazu gehören vor allem die Absage an Bankenrettungspakete, das Nein zu Auslandseinsätzen der Bundeswehr, drastische Arbeitszeitverkürzungen bei vollem Lohnausgleich, das Verbot von Leiharbeit, ein Mindestlohn von zehn Euro als erstem Schritt zu zwölf Euro sowie eine sanktionsfreie Mindestsicherung in Höhe von 1.050 Euro, welche die Hartz-Gesetze ablösen soll.

Der linke Parteiflügel hat bereits im Vorfeld des Dresdener Parteitags durchgesetzt, dass diese Kernaussagen des Erfurter Programms Bestandteil des Wahlprogramms bleiben, ohne allerdings zu klären, in welchem Verhältnis die gleichzeitig aufgestellten „Sofortforderungen“ (darunter die Anhebung der Regelsätze für ALG II und der Leiharbeiterlöhne) dazu stehen sollen. Solche auf gewerkschaftlicher, betrieblicher und kommunaler Ebene durchaus sinnvollen Forderungen können von den Betroffenen als Abrücken von den programmatischen Zielen der Partei wahr genommen werden, wenn letztere nicht mehr das Zentrum der Wahlplakate und KandidatInneaussagen bilden. Was in einem fast hundertseitigen Wahlprogramm steht, ist für die Kursbestimmung der Partei und ihre Mitglieder sehr wichtig. Für die Bevölkerung und potenziellen WählerInnen zählt jedoch viel mehr, was von diesen Positionen über die Medien und die Statements der Parteiführung sowie in den praktischen Auseinandersetzungen vor Ort nach außen getragen wird. Leider gibt es viele Erfahrungen damit, dass in diesen Fällen die eher moderaten Positionen betont werden.

In Zeiten, wo die kapitalistische Krise keinen systemimmanenten Spielraum für soziale Fortschritte übrig lässt, ist ein reines Reformprogramm, dass keine Verbindung zum Kampf für die Überwindung des Kapitalismus nachvollziehbar aufzeigt, nicht ausreichend. Denn jeder ernsthafte Kampf für diese Forderungen wird an die Grenzen der Macht- und Eigentumsverhältnisse im Kapitalismus stoßen. Eine sozialistische Partei muss dann aber Maßnahmen vorschlagen, wie diese Grenzen auch überschritten werden können. Allgemeine Bekenntnisse zu einer sozialistischen Zukunft am Ende von Programmen, die aber von den sonstigen Aussagen abgekoppelt sind, lösen das Problem nicht und erinnern an die Trennung in Minimal- und Maximalprogramm, wie es die alte Sozialdemokratie im 19. Jahrhundert aufgestellt hat (damals jedoch immerhin noch mit einem sehr deutlichen Bekenntnis für eine sozialistische Zukunft). Nötig sind Übergangsforderungen, die vor allem auch die Eigentums- und Machtfrage beantworten. Die Verbindung von Teil- und Sofortforderungen mit dem Kampf für die Überwindung des Profitsystems selbst bleibt damit auch in Wahlkämpfen und in Einzelaktionen die Hauptaufgabe einer linken Partei, die dieses System nicht reparieren, sondern abschaffen will.

Eigentums- und Systemfragen

Bei der Beschreibung der Ursachen für die Krise, die insbesondere in Süd- und Osteuropa katastrophale Ausmaße angenommen hat, verbindet das Wahlprogramm allgemeine kapitalismuskritische Aussagen mit Analyseansätzen, die letztlich sagen, dass die Krise ihre Ursache nicht in der tieferen Funktionsweise des Kapitalismus, sondern in einer bestimmten Wirtschaftspolitik hat: „Maßgebliche Ursache dieser Krise sind Ungleichgewichte in der Außenwirtschaft in Europa. Die übermäßigen Exportüberschüsse der einen führen zur Verschuldung der anderen, die zu viel importieren müssen. Am Anfang jeder Krisenlösung steht: Abbau der Ungleichgewichte, steigende Löhne und sozial-ökologische Investitionsprogramme, die Nachfrage steigern, Finanzmärkte regulieren und Vermögende besteuern.“

Wer aber die Illusion verbreitet, dass die Krise (in) der Eurozone allein durch eine nachfrageorientierte Wirtschaftspolitik, also durch Lohnerhöhungen und die Stärkung der Binnenkaufkraft in exportabhängigen Ländern wie Deutschland überwunden werden könnte, übersieht die „Kleinigkeit“, dass massive Lohnerhöhungen die Profitrate und damit den Brennstoff für die kapitalistische Produktion drosseln würden und eben keine dauerhafte Überwindung von Krisen hervorrufen können. Selbstverständlich ist es richtig und notwendig, dass sich DIE LINKE gerade auch in Tarifkämpfen für die Forderungen der Beschäftigten einsetzt. Der Rücksicht mancher Gewerkschaftsführer auf Standortvorteile des deutschen Kapitals im europäischen Wettbewerb wird DIE LINKE aber nur begegnen können, wenn sie die Logik eines profitorientierten Wirtschaftssystems und die Vorherrschaft des Kapitals in der Gesellschaft grundsätzlich zurückweist.

Das gilt auch für die „Regulierung“ der Finanzmärkte, die im Wahlprogramm zwar an einigen Stellen durch die Forderung nach Vergesellschaftung der Banken ergänzt, aber an vielen Stellen (und vor allem in den Interviews der so genannten. „Finanzexperten“ der Partei wie zum Beispiel Axel Troost) immer noch isoliert erwähnt und häufig als Ersatz für eine Umwälzung der Eigentumsverhältnisse vorgestellt wird.

Verstaatlichungen und Mitbestimmung

Ohne eine Verstaatlichung der Banken und Großkonzerne unter demokratischer Kontrolle gibt es keinen Ausweg aus der Krise. Dennoch beschränkt das Wahlprogramm die allgemeinen Verstaatlichungsforderungen der LINKEN auf die Finanzinstitute, obwohl deren Eigentümer untrennbar mit denen der großen Industriekonzerne verflochten sind, die ihre Profite mangels produktiver Anlagemöglichkeiten immer stärker in die Finanzspekulation investiert haben.

Dort, wo die Privatisierung von großen Unternehmen wie der Telekommunikation und der Post rückgängig gemacht werden soll, fällt das Wahlprogramm hinter das Erfurter Programm zurück. Ein Antrag der Bundesarbeitsgemeinschaft Betrieb und Gewerkschaft für diese Forderung wurde in Dresden mit – allerdings knapper – Mehrheit abgelehnt.

Ansonsten verzichtet das Wahlprogramm weitgehend auf Enteignungsforderungen und begnügt sich damit, für die Beschäftigten mehr Mitbestimmungsrechte zu verlangen. So wichtig solche Rechte zum Schutz der KollegInnen sind: Die Mitbestimmung in den jeweiligen Betrieben ändert nichts an den Rahmenbedingungen des Profitsystems, die auch den „mitbestimmten“ Unternehmen durch die Konkurrenz um die schrumpfenden Märkte aufgezwungen werden.

Dasselbe gilt, wenn staatliche Subventionen in Form von Miteigentumstiteln für die Beschäftigten vergeben werden, oder auch für Genossenschaften, welche DIE LINKE in ihrem Wahlprogramm als Eigentumsform zu favorisieren scheint. Die Lohnabhängigen können in der Regel nicht genügend Eigentum bilden, um der privatkapitalistischen Konkurrenz gewachsen zu sein. Aber vor allem gehorcht die Marktwirtschaft auch dann dem Profitsystem, wenn Genossenschaften sich an ihr beteiligen.

Gerade diejenigen Teile der Linkspartei, die aus der PDS hervor gegangen sind, weichen dem Kampf für demokratisch kontrolliertes und verwaltetes staatliches Eigentum an den großen Betrieben und eine gesellschaftlich kontrollierte Rahmenplanung für die Produktion aus, weil sie die bürokratische Misswirtschaft in den verstaatlichten DDR-Betrieben bzw. die bürokratische Gängelung der Lohnabhängigen als Sozialismus betrachten und letztlich denken, dass eine regulierte Marktwirtschaft sinnvoll ist. Von einer demokratischen Steuerung der Produktion durch die Beschäftigten und ihre gewählten Interessenvertretungen konnte in der DDR aber nicht die Rede sein. Hier ist nicht der Sozialismus, sondern eine bürokratisch-stalinistische Karikatur gescheitert. Wer für sozialistische Alternativen zur privatkapitalistischen Marktwirtschaft eintreten will, muss sich deshalb auch kritisch mit der Unterdrückung von demokratischen Rechten in der DDR auseinander setzen.

Eurodebatte

Auch in der öffentlich umstrittenen Frage, ob sich DIE LINKE auf die Rettung der kriselnden Gemeinschaftswährung festlegen sollte, blieb es im Wahlprogramm bei einem leicht abgeschwächten Euro-Bekenntnis des Parteivorstands: „Auch wenn die Europäische Währungsunion große Konstruktionsfehler enthält, tritt DIE LINKE nicht für ein Ende des Euro ein. Voraussetzung für dessen Fortbestand ist, dass der Kurs der Austerität, der Kürzungspolitik, beendet wird.“ Damit verteidigt DIE LINKE die von ihr zunächst abgelehnte „Gemeinschaftswährung“ ausgerechnet auf dem Höhepunkt ihrer Krise, als ob die Europäische Union und ihre gemeinsame Währung kein Projekt der Herrschenden, sondern das der Bevölkerung selbst wäre. Damit wird zumindest indirekt die Illusion verbreitet, dass eine Überwindung von Nationalstaaten und soziale Fortschritte in Europa auf der Basis kapitalistischer Eigentumsverhältnisse und im Rahmen einer (neu verfassten) EU möglich wäre. Der Euro hat eben nicht nur Konstruktionsmängel, die man korrigieren oder durch eine Rückkehr zu nationalen Währungen beheben könnte, sondern das kapitalistische System selbst ist der „Konstruktionsfehler“, der ganze Volkswirtschaften auf dem Kontinent in den Abgrund reißt.

Regierungsfrage und Rot-Grün

Das Hauptproblem der LINKEN bleibt auch im Bundestagswahlkampf ihr ungeklärtes Verhältnis zur rot-grünen Scheinopposition. Der Dresdner Parteitag hat ungeachtet der Niederlagen vor allem in Niedersachsen, zu denen die Koalitionsangebote der Parteiführung an SPD und Grüne im Widerspruch zum Landeswahlprogramm maßgeblich beigetragen haben, eine Regierungszusammenarbeit mit diesen Kriegs- und Kürzungsparteien erneut offen gelassen. Obwohl sich Rot-Grün zur Fortsetzung der Bankenrettungspolitik, zur Abwälzung der Krisenlasten mittels europaweiter Schuldenbremse auf die Bevölkerung sowie dazu verpflichtet haben, keinesfalls mit der LINKEN, sondern im Zweifel erneut mit Merkel zu koalieren, wollte sich DIE LINKE auch in Dresden nicht eindeutig auf eine Oppositionsrolle im neuen Bundestag festlegen. Führende Vertreter des Regierungsflügels, darunter der Parteivize Axel Troost, konnten deshalb schon wenige Tage danach fordern, dass DIE LINKE die Tür für eine rot-rot-grüne Regierung „offen lassen“ müsse. Die Regierung Merkel verdankt ihre relative Stärke, neben der aktuellen ökonomischen Situation, vor allem dem Umstand, dass Rot-Grün unter Merkels früherem Laufburschen Steinbrück abgesehen von Wahlkampfrhetorik keine politischen Alternativen anzubieten hat. SPD und Grüne wollen die neoliberale Politik ihrer früheren Regierungen in jedem Fall fortsetzen – und treiben die Opfer dieser Politik damit bei den Bundestagswahlen in millionenfache Stimmenthaltung. Was die lohnabhängige und arbeitslose Mehrheit der Bevölkerung in der gegenwärtigen Situation braucht, ist eine wirkliche linke Opposition, die ihren Interessen gegen die Minderheit der Kapitalbesitzer innerhalb und außerhalb der Parlamente eine kraftvolle Stimme verleiht. Nicht als vermeintliche „Volkspartei“, die wie alle anderen den Widerspruch zwischen Kapital und Arbeit leugnet, sondern bewusst als Arbeiterpartei. Solange DIE LINKE diesen Oppositionsauftrag nicht offensiv annimmt und sich immer wieder vergeblich als Regierungspartei im Wartestand anbiedert, wird sie die Schwächen der rot-grünen Scheinopposition teilen, anstatt das riesige Potenzial der unzufriedenen Nichtwähler ausschöpfen zu können.

Im Unterschied zu Griechenland, wo SYRIZA vor dem Hintergrund von Massenkämpfen der Arbeiterklasse und einer klaren Absage an Regierungskoalitionen mit den Kürzungsparteien wie der sozialdemokratischen PASOK zusammen mit anderen antikapitalistischen Parteien für die Bildung einer linke Regierung eintreten kann, wird DIE LINKE in Deutschland nach den Bundestagswahlen bei der Regierungsbildung nicht mitreden können. Das mögen manche bedauern, entspricht aber der Realität des Klassenkampfes hierzulande und der unverändert neoliberalen Politik von SPD und Grünen, die für einen Politik- oder gar Systemwechsel definitiv nicht zur Verfügung stehen. Unter diesen Bedingungen kann es für DIE LINKE im September „nur“ darum gehen, ihren neu eroberten Platz als Fremdkörper im bürgerlichen Parteien- und Parlamentssystem der BRD zu verteidigen und diese Stellung für die kommenden Auseinandersetzungen in den Betrieben und auf der Straße offensiver zu nutzen. Länder wie Italien zeigen, dass linke Parteien auch wieder von der politischen Landkarte verschwinden können, wenn die in sie gesetzten Hoffnungen in der Koalition mit bürgerlichen Kräften verspielt werden. Für den in Südeuropa aufflammenden Widerstand gegen das Kürzungsdiktat der Bundesregierung in der EU wäre ein Wahlerfolg der LINKEN in Deutschland ein wichtiger Stützpunkt, für dessen Verteidigung sich der Kampf lohnt.

Heino Berg lebt in Göttingen. Er ist Mitglied des SAV-Bundesvorstand und aktiv in der Partei DIE LINKE und der Antikapitalistischen Linken (AKL) in Niedersachsen.