Massenbewegung fordert Erdogan-Regierung heraus

Foto: http://commons.wikimedia.org/wiki/User:VikiPicture CC-BY-SA-3.0
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Öffentlich Bedienstete streiken gegen Polizeigewalt – Für einen eintägigen Generalstreik als nächster Schritt um die Regierung zu Fall zu bringen!

Reporter von Sosyalist Alternatif (CWI Türkei)

Die KESK, die Gewerkschaft der öffentlich Bediensteten in der Türkei, hat zu einem bundesweiten Streik gegen Polizeigewalt für den 4. Und 5. Juni aufgerufen. Hunderttausende wurden zu den Demonstrationen erwartet. Und doch setzt die Polizei nach wie vor Tränengas und Gewalt gegen die Demonstrierenden ein.

Die fortgesetzte Polizeigewalt, zuerst im Gezi Park und dann am Taksim Platz in Istanbul, zeigt einmal mehr, worauf die AKP (Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung) sich stützt. Hunderte wurden verletzt, einige schwer. Im Verlauf der Massenbewegung wurden zwei Demonstrierende getötet. Die Polizeigewalt im Gezi Park war der Funke der eine Explosion entfachte. Die Wut die sich über Jahre angestaut hat wird nun sichtbar. Nicht nur in Istanbul finden Proteste statt. Hunderttausende gehen in der Türkei auf die Straße, in Ankara, in Inzmir und in Bodrum. Insgesamt sollen Massendemonstrationen in 67 Städten stattgefunden haben. Es gibt sogar Berichte von Spaltungen im Staatsapparat, dass das Militär Gasmasken verteilt und einige PolizistInnen die Demonstrierenden unterstützen. Es besteht das Potential für eine Bewegung die die kapitalistische Elite in der Türkei herausfordert.

Das ist ein Wendepunkt. Die AKP-Regierung sieht sich mit einer Massenbewegung gegen sie konfrontiert. Zusätzlich hat sich das Wirtschaftswachstum massiv verlangsamt. Der Aufstieg der AKP im letzten Jahrzehnt basiert auf verschiedenen Faktoren. Das beinhaltet die Frustration der Massen über die machtvollen Kräfte der Kemalisten, eine tiefe wirtschaftliche Krise zu Beginn des neuen Jahrtausends, eine Entfremdung vieler Menschen von der staatlichen Bürokratie und eine Geschichte von Interventionen der Armee in das politische Leben – inklusive Militärcoups. Die AKP konnte sich als ‚moderate‘ Islamische ‚Alternative‘ zum alten Establishment präsentieren und hat eine populistische Politik verfolgt und einige populistische Maßnahmen umgesetzt. Aber die Ereignisse der letzten Tage haben die Herrschaft der AKP und von Erdogan tief erschüttert.

Die Massenbewegung war zunächst von frustrierten Elementen der unteren Mittelschicht dominiert. Rasch haben sich ihnen Jugendliche aus den ArbeiterInnenvororten angeschlossen. Nun schaltet sich auch zunehmend die organisierte ArbeiterInnenbewegung ein (obwohl das erst erste Schritte sind). All das weist darauf hin, dass sich immer größere Teile der Gesellschaft der Massenbewegung anschließen. Dies kann ein Vorbote von noch größeren Massenkämpfen sein und sich sogar in Richtung vorrevolutionäre oder revolutionäre Situation entwickeln. An der Spitze des Regimes, innerhalb von Erdogans Partei, beginnen sich bereits Spaltungen aufzutun.

Die Bewegung in der Türkei und der Mut der Protestierenden wurde von ArbeiterInnen und Jugendlichen weltweit begrüßt. Das rechtsgerichtete Regime ist ein Verbündeter der NATO mit seinen eigenen Ambitionen in Richtung Regionalmacht. Nun wird es von einem Aufschrei der Wut und Opposition in Bedrängnis gebracht. Der Alptraum des zunehmend sektiererischen Bürgerkriegs in Syrien, in dem sich imperialistische und lokale Mächte bekriegen, und seine drohende Ausbreitung auf die gesamte Region hat scheinbar die Errungenschaften des „arabischen Frühlings“ – dass die Menschen Massenbewegungen nutzen um Diktatoren loszuwerden – zunichte gemacht. Das türkische Regime hat von Anfang an in den Syrischen Konflikt eingegriffen, um ihn für seine eigenen Interessen zu nutzen. Aber nun gibt ein möglicher „Türkischer Sommer“ neue Hoffnung. Das kann die Bewegungen in der ganzen Region neu beleben und möglicherweise die Kämpfe der Massen für demokratische Rechte und die Notwendigkeit einer grundlegenden Gesellschaftsveränderung im Interesse der arbeitenden Massen wieder auf die Tagesordnung setzen.

“Tayyip istifa” – “Erdogan, tritt zurück!”

Gestartet hat alles mit Protesten von UmweltschützerInnen gegen die Abholzung von Bäumen für ein Bauprojekt eines Konzerns der Premier Erdogan nahesteht. Gebaut werden sollte ein weiteres Shopping Center für Istanbul. Mit voller Polizeigewalt hat die Regierung versucht dieses Bauprojekt zugunsten der Profite dieses Konzerns durchzuboxen. In den Augen von Millionen hat dies das Programm der neoliberalen AKP-Regierung auf den Punkt gebracht.

“Tayyip istifa” – “Erdogan, tritt zurück!” wurde der Slogan der die Bewegung einte. Teile der CHP (Republikanische Volkspartei), die größte prokapitalistische Opposition und sogar die faschistische MHP haben versucht die Bewegung zu instrumentalisieren. Bis jetzt hat der radikale Charakter der Massenbewegung der CHP nicht erlaubt, sie zu dominieren.

Allerdings ist eine Debatte innerhalb der Bewegung über die nächsten Schritte und ein „wie weiter“ essentiell. Wie kann eine politische Massenkraft aufgebaut werden, die die Interessen der ArbeiterInnen, Jugend und Armen vertritt, und die fähig ist die Erdoganregierung zu stürzen und eine Alternative anzubieten? Diese Bewegung kann nichts mit der alten CHP Elite gemeinsam haben. Eine neue Kraft ist notwendig, um ArbeiterInnen und Jugend zu vereinen. Dazu braucht es auch ein politisches Programm, das die demokratischen Rechte und den Kampf für Jobs, Wohnen, höhere Löhne und soziale Sicherheit nach vorne stellt; ein sozialistisches Programm, das nicht davor zurückschreckt, die Interessen der kapitalistischen Eliten und Multinationalen Konzerne herauszufordern.

Verletzung demokratischer Rechte durch die AKP stoppen!

Genug ist genug! Die Regierung hat lange genug demokratische Rechte und die Rechte von ArbeiterInnen, GewerkschafterInnen und Minderheiten verletzt. Die Gewalt in Gezi Park war nur die Spitze des Eisbergs. Rund 8000 GewerkschafterInnen, linke AktivistInnen, JournalistInnen und kurdische PolitikerInnen sind im Gefängnis. Und die türkischen Medien senden – angeblich auf Erdogans Anordnung – Kochshows während die Menschen versuchen, über die Auslandsmedien und das Internet herauszufinden, was in ihrem Land los ist.

Wir fordern:

  • Sofortige Freilassung aller politischer Gefangener inklusive jener die während der Proteste inhaftiert wurden
  • Eine unabhängige Kommission der ArbeiterInnenklasse durch die Gewerkschaften und demokratisch gewählte VertreterInnen der Bewegung, um die Polizeigewalt zu untersuchen und die Verantwortlichen zur Rechenschaft zu ziehen
  • Volle demokratische Rechte, inklusive dem Recht auf Demonstrationsfreiheit und auf die Bildung von Gewerkschaften und politischen Parteien
  • Abschaffung der Anti-Terror Gesetze, Spezial-Gerichtshöfe sowie Abschaffung aller repressiven und reaktionären Gesetze der AKP-Regierung
  • Schluss mit der Repression gegen KurdInnen

Die Regierung greift ebenfalls ArbeiterInnen des öffentlichen Sektors an. Sie plant ihre Jobs zu streichen, den Kündigungsschutz aufzuweichen und Löhne zu kürzen. Die wichtigste Gewerkschaft des öffentlichen Dienstes, die KESK, hatte bereits Streiks gegen diese Maßnahmen geplant, bevor die Massenproteste begonnen hatten.

Gleichzeitig wird gerade eine breite Privatisierungswelle von der Erdogan-Regierung durchgesetzt. Korruption und Vetternwirtschaft, sowie die Bereicherung von wenigen dominieren die Gesellschaft.

Wir sagen:

  • Nein zu allen – auch abgeänderten – Plänen der Regierung den Taksim Platz zu „entwickeln“
  • Schluss mit Privatisierungen – für eine Wiederverstaatlichung des privatisierten öffentlichen Eigentums!
  • Höhere Mindestlöhne, um die Bedürfnisse der Menschen abzudecken!
  • Schluss mit Angriffen auf den öffentlichen Dienst!
  • Schluss mit der Politik im Interesse der großen Banken und Konzerne!

„Teile und Herrsche“

Der Teil der türkischen Unternehmen und internationalen Konzerne, der Erdogan nahe steht, durfte sich jahrelang bereichern. Die Politik der Privatisierung und der neoliberalen Angriffe, die Repressionen gegen die Proteste dienen nur der Bereicherung einiger weniger. Wir brauchen als Antwort den geeinten Widerstand der ArbeiterInnen, der Jugend und der Armen.

Um diese Maßnahmen umzusetzen, versucht die AKP sich als eine Kraft zu präsentieren, die Islamistische Werte verteidigt. Das steht hinter ihrer Teile-und-Herrsche-Politik und hinter Maßnahmen wie der Ausweitung der Gegenden wo Alkohol nicht legal verkauft werden kann sowie den Sanktionen gegen Menschen die sich in der Öffentlichkeit küssen. Mit diesen Maßnahmen und ähnlichem, versucht die AKP Unterstützung in den konservativeren Teilen der Bevölkerung zu bekommen. Es ist ein Versuch die wirkliche Politik der Regierung und ihre Angriffe zu verschleiern – und unglaublich zynisch.

Durch den Neustart der Debatte über eine Mosche am Taksim Platz setzt Erdogan eine Provokation gegen sekulär orientierte Menschen. Erdogans Regierung versucht die Bevölkerung entlang religiöser und ethnischer Linien zu spalten. Letzte Woche wurde angekündigt, dass eine dritte Brücke über den Bosporus nach Sultan Selim I, einem Massenmörder an der Alevitischen Minderheit in der Türkei vor 500 Jahren, benannt werden soll. Diese Provokationen sowie der Paternalismus durch den Staat bezüglich der Formen von persönlichen und kulturellen Äußerungen müssen sofort gestoppt werden.

Erdogan hat verschleierte Drohungen gemacht, um die konservativen Schichten der Bevölkerung auf die Straße zu mobilisieren. Er verweist auf seine Parlamentsmehrheit und hofft, dass die AKP Unterstützung in der Bevölkerung finden kann. Die Massenbewegung muss Maßnahmen befürworten, die die ländlichen Massen und verarmten Schichten in den Städten ihre Seite ziehen können. ArbeiterInnen und Jugendliche können nicht zulassen, dass sie gespalten werden. Sie müssen sich neoliberalen Attacken widersetzen und einen Kampf für gut bezahlte Jobs, gute Wohnungen für alle und für volle demokratische Rechte führen.

Die Aufgaben der ArbeiterInnenbewegung und der Linken

Der Aufruf der Gewerkschaft des öffentlichen Diensts, der KESK, für einen bundesweiten Streik gegen Polizeigewalt ist die richtige Entscheidung. Die anderen Gewerkschaften sollten diesem Beispiel folgen und den Streik ausweiten. Ein eintägiger Generalstreik in der gesamten Türkei könnte der nächste Schritt sein, um die Massenbewegung zu entwickeln und die stärksten Kräfte gegen Erdogan zu mobilisieren – die organisierte ArbeiterInnenbewegung.

Die Gewerkschaften und die Linken Parteien und Gruppen wie die HDK (Demokratischer Volkskongress – eine Art Bündnis, das kurdische und linke Gruppen umfasst), Halk Evleri (Häuser der Menschen) und andere können auf allen Ebenen dazu beitragen, dass so viele Menschen wie möglich an diesem Streik teilnehmen: ArbeiterInnen, Jugendliche und Menschen aus den Nachbarschaften. Es braucht Komitees auf allen Ebenen, die sich auf Massenversammlungen in den Betrieben und Nachbarschaften stützen, um sich gegen die Polizeigewalt zu verteidigen, Solidarität für den Streik zu organisieren und politische Debatten zu führen. Indem gewählte VertreterInnen dieser Versammlungen lokal, in den Städten und Regionen, wie auch auf bundesweiter Ebene zusammengebracht werden, kann die Bewegung demokratisch aufgebaut werden, mit Rechenschaftspflicht und Wähl/Abwählbarkeit aller VertreterInnen. Das kann die Basis für eine Regierung der ArbeiterInnen und Armen bilden. Auf dieser Basis wäre eine Bewegung möglich, die nicht nur die Erdogan Regierung stürzen, sondern für eine Alternative im Interesse der ArbeiterInnenklasse und der Jugend kämpfen kann. Eine Massenpartei der ArbeiterInnenklasse mit einem sozialistischen Programm ist nötig.

Wir sagen:

  • Nieder mit der AKP-Regierung – für eine Regierung der ArbeiterInnen und Armen!
  • Schluss mit der Diktatur der Banken und Konzerne und ihrer PolitikerInnen!
  • Verstaatlichung der Schlüsselbetriebe unter demokratischer ArbeiterInnenkontrolle und –verwaltung!
  • Für einen demokratischen, sozialistischen Plan um die Wirtschaft im Interesse der Masse der Bevölkerung zu organisieren und zu entwickeln!

 

 

(Update: DISK, der Dachverband der revolutionären Gewerkschaften der Türkei, eine Gewerkschaft mit rund 350.000 Mitgliedern, rief für den 5. Juni ebenfalls zu einem Streik gegen die Polizeigewalt auf)