Geschichte und Alltag der „Unberührbaren“ in Indien

Der ständige Kampf gegen das Kastensystem

von Clare Doyle, CWI („Komitee für eine Arbeiterinternationale“, deren Sektion in Deutschland die SAV ist)

Rezension des Buches „Bhimayana: experiences of untouchability“ (zu deutsch: „Bhimayana – Erfahrungen eines Unberührbaren“), das aber noch nicht in deutscher Übersetzung vorliegt

Bei „Bhimayana“ handelt es sich um eine wunderschön illustrierte, einfache und an manchen Stellen auch amüsante Darstellung des wohl hässlichsten und grausamsten Kapitels der indischen Gesellschaft: das hinduistische Kastensystem. Zur am meisten unterdrückten Kaste der Dalit zählen im heutigen Indien etwa 170 Millionen Menschen, die als „Unberührbare“ bezeichnet werden. Im Schnitt werden jeden Tag zwei von ihnen ermordet, und drei weibliche Dalits werden täglich vergewaltigt. In jeder Stunde werden statistisch gesehen zwei Dalits Opfer von körperlicher Gewalt, und jeden Tag werden zwei Dalit-Wohnhäuser niedergebrannt.

Für den vor 120 Jahren geborenen Vorkämpfer der Rechte der Dalits, Bhimrao Ramji Ambedkar, wurden mehr Gedenkmäler errichtet als für Mahatma Gandhi oder Pandit Nehru, Indiens ersten Premierminister nach der Unabhängigkeit. Mit dem Erstgenannten stritt er sich öffentlich über Maßnahmen, mit denen die Notlage der unteren Kasten zu beheben seien. Und unter dem zuletzt Genannten war er der erste Justizminister und Vorsitzender der verfassunggebenden Versammlung. Seine Vorschläge für ein „Hindu-Gesetz“ zur rechtlichen Gleichstellung des Individuums wurden letztlich wieder abgeändert und am Ende stand sein Rücktritt. Ursprünglich wollte er im „neuen Indien“ die Chancengleichheit für alle und Frauenrechte sicherstellen.

Ambedkar wurde – im Gegensatz zu der überwältigen Mehrheit der Dalits – die Möglichkeit zu Teil, in den USA und Großbritannien zu studieren. Auch heute wird den Dalits trotz entsprechender Qualifikation und „Quotierungen für die rückständigen und regulären Kasten“, die ihnen eigentlich gleiche Chancen ermöglichen sollen, der Zugang zu höherer Bildung verwehrt.

Auf den ersten Seiten des Buches „Bhimayana“ (das noch nicht auf deutsch vorliegt; Anm. d. Übers.) befindet man sich im 21. Jahrhundert, und ein junger Mann beklagt sich bei einem Freund darüber, dass die Quotenregelung über die Verteilung von Arbeitsplätzen seine eigenen Möglichkeiten einschränkt. Daraufhin zählt sein Freund einige der erniedrigendsten Aspekte des Kastensystems auf, mit denen auch Ambedkar in Berührung gekommen war, und zeigt auf Zeitungsausschnitte, aus denen hervorgeht, wie wenig sich doch geändert hat.

Das hinduistische Kastensystem stammt aus der antiken und vorkapitalistischen Gesellschaft. Es handelte sich hierbei um ein rigides und auf Vererbung basierendes Ständesystem. Ganz im Gegensatz zu den gesellschaftlichen Klassen geht die Kaste nicht auf eine bestimmte berufliche Tätigkeit oder die Beziehungen zu Landbesitzern bzw. Dienstherren zurück. Brahmanen, die ursprünglich Priester waren, wurden in erster Linie zu Gelehrten, Lehrern, Rechtsprechenden usw. und genossen eine hohe gesellschaftliche Stellung. Sogenannte „Ausgestoßene“ oder „Unberührbare“ erhielten grundsätzlich keinen Zugang zu Bildung und Ausbildung. Auch blieben ihnen viele öffentliche Aktivitäten und Veranstaltungen verwehrt. Sie waren verdammt zu einem Leben als verarmte ArbeiterInnen und beschäftigt mit sogenannter „unreiner“ Arbeit am unteren Ende der gesellschaftlichen Rangfolge. Während einzelne von ihnen in der Lage waren, bestimmte Zugeständnisse zu erringen, setzten sich diese archaischen und grundlegenden Unterscheidungen selbst im „modernen“ Kapitalismus fort.

Durch die Seiten dieses einzigartigen Buches ziehen sich Geschichten aus Ambedkars Kindheit und Jugend. Illustriert ist es mit Bildern des Künstlerpaares Durghabai und Subash Vyam, die der Volksgruppe der Adivasi, sozusagen den UreinwohnerInnen Indiens, angehören. Konzipiert und geschrieben wurde es von Srividya Natarajan und S Anand, doch die Zeichnerin und der Zeichner haben ihre ganz eigene Note dazu beigetragen: sowohl in Form von Bildern als auch als Einladung zum Dialog. Es lassen sich dabei Parallelen zum Comic „Persepolis“ von Marjane Satrapi feststellen, der von einem aufbegehrenden Mädchen im Iran handelt und auch als Zeichentrickfilm in die Kinos kam.

Ganz unerwartet können die einfach gestalteten Bilder und die damit verbundenen direkten Botschaften die Leserin bzw. den Leser zu Tränen rühren, in Rage versetzen oder Freude und Vergnügen bereiten. Das jeweils Gesagte erscheint in Sprechblasen, die – je nach Charakter – in Gestalt eines Vogels (so auch im Falle von Ambedkar, der sanftmütig und behutsam auftritt) dargestellt sind oder aber – wie im Falle der Gemeinen und Hartherzigen – von in sich verwickelten und giftigen Spindeln umwoben sind. Die Seiten sind mit Darstellungen von Vögeln, Schlangen, Fischen und allerlei anderem Getier übersät. Die Geschichte fließt in Form eines Wasserlaufs in unterschiedlicher Ausgestaltung buchstäblich von Seite zu Seite. Einmal hat man es mit einem Bach, dann mit einem See, einem Teich oder Wasserspeicher zu tun.

Der Kampf um Zugang zu Trinkwasser

Das Wasser ist es dann auch, über das die Diskriminierung auf ihre krasseste Art und Weise ausgeübt wird. Den Dalits wird das Wasser verwehrt, das von allen anderen hinduistischen Kasten, MoslemInnen, ParsInnen und selbst Tieren genutzt wird. Allein der Titel „Bhimayana“ ist eine Parodie auf das heilige Buch der Hindus, das „Ramayana“, und bei dem es sich um die epische Geschichte eines der Hauptgötter, Rams bzw. Ramas, handelt.

Sein ganzes Leben lang kämpfte Bhim (wie Ambedkar auch genannt wurde und worauf der Buchtitel zurückgeht) gegen die Geißel des Kastensystems. In einer der ersten Szenen des Buches sitzt er 1918 im Zug und liest „Demokratie und Erziehung“ von John Dewey, einer seiner Dozenten an der Columbia University in New York. Dewey war ein bedeutender US-amerikanischer Philosoph und saß 1937 einer Kommission zur Überprüfung der Anschuldigungen gegen Leo Trotzki und dessen AnhängerInnen bei den unsäglichen Moskauer Prozessen vor.

1920 gründete Ambedkar eine sehr kritische und gegen das Kastensystem gerichtete Zeitung. Drei Jahre später begann damit, eine Massenrebellion zu organisieren, um den Zugang zu Wasser zu gewährleisten. Die daraus entstandene Bewegung nannte sich „Mahad Satyagraha“, und es dauerte vier Jahre bis er einen „Massen-Übertritt“ mit 3.000 Unberührbaren vorbereitet hatte, um sich aus dem Chavadar-Reservoir in der Region um Bombay Wasser entnehmen zu können. Es wurde damit lediglich festgeschriebenes Recht praktiziert, das in der Praxis bis dahin allerdings nicht gegolten hatte. Die Dalit-AktivistInnen bezeichneten dieses Ereignis als „Unabhängigkeitserklärung“, bei dem herausfordernde Reden gehalten wurden, in denen z.B. Folgendes festgestellt wurde: „Die Dalits sind dem Ruf der Französischen Revolution gefolgt: ‘Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit’. Zwanzig Menschen sind bei einem gewaltsamen Angriff auf die Demonstration verletzt worden“.

Ambedkar wurde auf seine Art als Revolutionär gesehen. Auch wenn er nie Marxist war, so zog er doch die Schlussfolgerung, dass keine herrschende Klasse den Weg freiräumt, ohne dass es dabei zu Auseinandersetzungen kommt. Er erklärte denen, die mit ihm zusammen den Kampf aufgenommen hatten: „Wenn es zu keinem Widerstand von Seiten der Herrschenden kommen würde, dann wäre eine gewaltsame Revolution nicht nötig!“.

Weil sich die Brahmanen in der Stadt Mahad aber genau dafür entschieden, verschmutzten sie das Wasser aus dem Chavadar-Reservoir u.a. lieber mit Kuhdung anstatt die Dalits davon trinken zu lassen. So wurde für den 25. Dezember 1927 eine zweite „Mahad Satyagraha“ organisiert. Diesmal kamen 10.000 Protestierende. Während einer Zeremonie wurde eine Abbildung des „Manusmriti“, dem „heiligen“ hinduistischen Rechtsbuch, in dem das Kastensystem und die Versklavung der Frau im Familienhaus niedergelegt sind, auf einem Scheiterhaufen verbrannt.

Ein Zeitungsartikel vom Januar 2008, der in „Bhimayana“ abgedruckt ist, zeigt, dass sich bis heute nichts geändert hat. Als Dalits mit Hilfe von Menschenrechtsorganisationen das Heft in die Hand nahmen und sich in einer direkten Aktion freien Zugang zum Wasser in einem Rückhaltebecken in Chakwara in der Nähe von Jaipur verschafften und darin badeten, wurden sie darin festgesetzt. Hiesige Hindus bewarfen sie mit Steinen. Die Polizei setzte Tränengas und scharfe Munition ein. „Die einer Kaste zugehörigen Hindus“, so berichtete die Zeitung „Tehelka“ über den Vorfall, „begannen, Kot und Müll in das Rückhaltebecken zu werfen. Kurz darauf gruben einige Männer das Abwasserrohr des Dorfes aus und leiteten es in das Wasserbassin ein“. Das Recht auf Zugang zu Wasser wurde gewährt, aber das Wasser war ungenießbar!

Ein kämpferisches Leben

Oft in seinem Leben erlebte Ambedkar die Demütigungen und Entbehrungen, von denen die Dalits bis heute betroffen sind: Diskriminierung in der Schule, auf dem Nachhauseweg, im Krankenhaus und sogar beim Friseur. Das einzige Mal, da er das Gefühl hatte gleich zu sein und gleich behandelt zu werden, war, als er im Ausland studierte. In seinem Heimatland wurde ihm sogar als angesehenem Rechtsanwalt aufgrund seiner Herkunft Unterkunft und Logis verweigert. Und dies nicht nur von hinduistischen Freunden und Bekannten, sondern auch von ParsInnen und ChristInnen. Ein hinduistischer „Freund“ sagte einmal zu ihm, dass seine Hausbediensteten gehen würden, wenn er ihn bei sich übernachten ließe! Im Anschluss an diese Episode folgt ein Bericht aus der Zeitung „The Hindu“ vom 5. Mai 2008. Darin geht es um Studierende in Neu Delhi, die sich auf die Staatslaufbahn vorbereiten und – als rauskam, dass sie Darlits sind – von einem Großgrundbesitzer und dessen Familie zusammengeschlagen wurden.

In dem Buch zeigt Ambedkar, wie selbst MoslemInnen, die auch von der Hindu-Mehrheit misshandelt, ja sogar verfolgt werden, ihr eigenes hierarchisches System ausüben. Und dazu gehört demnach auch, auf die Dalits herabzusehen und sie zu diskriminieren. Er beklagt, dass sie zwar „Gleichheit predigen aber das Kastensystem praktizieren“.

Seine kämpferische Haltung gegenüber dem Kastensystem brachte Ambedkar schließlich auch in Konflikt mit Mahatma Gandhi. Es machte ihn wütend, dass Gandhi die Diskriminierung nur sah, als er in den 1930er Jahren im vom Apartheid-System beherrschten Südafrika weilte und von außen auf Indien blickte. Ghandi sah die Lösung dort zu jener Zeit übrigens nicht im Kampf für die Abschaffung der Apartheid. Er wollte vielmehr eine Kampagne führen, um eine zusätzlich einzuführende Kategorie für AsiatInnen zu erhalten, da diese schließlich mehr Wert wären als die Dunkelhäutigen. Letztlich wurde das auch so eingeführt. Dem pazifistische Kampagnenführer gegen die britische Herrschaft in Indien war die dem Kastensystem innewohnende Brutalität in seinem eigenen Land weit weniger bewusst.

Dahingegen war der gegen die Ungerechtigkeit gerichtete Ansatz Ambedkars in mehrfacher Hinsicht revolutionär und verknüpft mit dem allgemeinen Kampf aller ArbeiterInnen und Armen gegen Ungleichheit und Ausbeutung. Dieses Sprachrohr der Dalits griff förmlich den Satz von Karl Marx auf, der einmal zu seiner Tochter gesagt hatte: „Es ist ein Glück zu kämpfen“. Ambedkar konstatierte: „Für mich ist der Kampf ein wahre Freude“. „Erziehe, agitiere und organisiere: Habe Vertrauen in dich selbst“, mahnte er. Seine Lösungsansätze blieben allerdings beschränkt. So trat er beispielsweise dafür ein, dass Dalits ausschließlich von Dalits politisch repräsentiert werden und nur in einer exklusiv von Dalits durchgeführten Wahl bestimmt werden sollten. Das jedoch hätte den Separatismus und die Ausgrenzung nur weiter gefestigt statt beidem entgegen zu wirken. Es handelte sich dabei aber um den verständlichen Versuch, den Belangen der in der Gesellschaft am meisten Unterdrückten mehr Gehör zu verschaffen. Zudem beabsichtigte er darüber, eine gewisse politische Unabhängigkeit von den Politikern zu erreichen, die aus anderen Kasten stammten und die miserable Lage der Dalits beständig ignorierten.

Ambedkar sah im Klassenkampf nicht den Weg zur Vereinigung der Unterdrückten gegen ihre Unterdrücker. Auch nahm er nicht die Ideen des Sozialismus für sich an. Am Ende seines Lebens legte er allerdings endgültig den Hinduismus ab. „Es war nicht mein Fehler. Ich wurde als Unberührbarer geboren“, sagte er, „aber ich bin fest entschlossen, nicht als Hindu zu sterben“. Unfassbar, dass er sich stattdessen einem anderen mystischen Erklärungsversuch dieser Welt zuwandte: dem Buddhismus. 1956, ein paar Monate vor seinem Tod konvertierten eine halbe Million Menschen mit ihm gemeinsam. Das war die größte bekannte Massen-Konversion in der Geschichte. Unglücklicherweise wurde ausgerechnet der Buddhismus, der Ambedkar viel ehrlicher und egalitärer erschien, in Sri Lanka benutzt, um dort gegen den tamilisch-sprachigen Teil der Bevölkerung vorzugehen. In Sri Lanka ist der Buddhismus Staatsreligion und dient dort als Deckmantel für einen der blutigsten Kämpfe gegen eine nationale Minderheit überhaupt.

Jedes Kapitel in diesem Buch zeigt, dass die schlimmsten Formen der Diskriminierung gegenüber den Dalits lange noch nicht Geschichte sind in der indischen Gesellschaft. Der Ausschluss vom Gesundheitswesen hält bis heute an. Auch existiert weiterhin eine besondere Form der sogenannten Ehrenmorde: Frauen und ihre männlichen Verwandten werden verfolgt, geschlagen und ermordet, nur weil sie Dalits sind.

Die Tatsache, dass einige prominente Dalits in hohe Ämter gewählt wurden, hat nicht zu einem Ende der Diskriminierung gegenüber den „Unberührbaren“ geführt. Ein Wahlbündnis aus BrahmanInnen und Dalits brachte im Bundesstaat Uttar Pradesh im Mai 2007 die „Bahujan Samaj Partei“ an die Macht. Ihre Vorsitzende, Mayawati, ist selbst eine Dalit und wurde zur Ministerpräsidentin gewählt. Mit Gold und Juwelen behangen ist sie genauso reich und korrupt wie jeder andere Politiker einer höher stehenden Kaste und in vergleichbarer Position auch. In ihrem Bundesstaat leben nahezu 80 Millionen Menschen unterhalb der Armutsrate. Das sind 40 Prozent der Gesamtbevölkerung.

Das vorliegende Buch „Die Bhimayana“ wartet mit einem Bericht aus dem Jahr 2007 auf, in dem es um zwei Dalit-Frauen in Kanpur (Uttar Pradesh) geht, die starben, nachdem man sie sofort nach ihrer Niederkunft aus dem Krankenhaus geworfen hatte. Wegen ihrer „Unberührbarkeit“ sind die Ärzte nicht angehalten, lebensrettende Maßnahmen an Dalit-PatientInnen durchzuführen. Diskriminierungen dieser Art lassen die Erinnerung an das wach werden, was in den Südstaaten der USA passierte, als die große Jazzsängerin Bessie Smith bei einem Autounfall verletzt wurde. Wegen der zu jener Zeit geltenden „Rasse“-Schranken war es den Ärzten nicht „erlaubt“, sie zu behandeln, bevor nicht alle Hellhäutigen untersucht waren. In dieser Zeit war sie ihren behandelbaren Verletzungen erlegen.

Das Versagen der Stalinisten

Die Kasten-Problematik ist tief in der Gesellschaft verwurzelt und kompliziert. Aber wie es die sogenannten kommunistischen Parteien in Indien handhaben, ist es unzureichend. Sie erklären, dass das Kastensystem solange nicht aufgehoben werden kann, wie die Klassen nicht eliminiert sind. Und das wäre erst in einer kommunistischen Gesellschaft der Fall. Deswegen nehmen sie auch nicht den Kampf gegen Kasten-Vorurteile und -Diskriminierung in der kapitalistischen Gesellschaft auf, um darüber den Aufbau der sozialistischen Bewegung voranzutreiben. Viel schlimmer als das ist, dass sie sogar aufgehört haben, den Aufbau eines echten Sozialismus zu versuchen; geschweige denn den Kommunismus. Im Gegenteil waren sie 2007 auf skandalöse Weise in die mörderischen Vorfälle in Nandigram (West Bengalen) verwickelt.

Die „Kommunistische Partei Indiens (Marxisten)“ (CPI(M)) regierte über drei Jahrzehnte in diesem Bundesstaat. Das lag auch an ihren zwar schon länger zurückliegenden aber sehr populären Maßnahmen zur Landreform. Dennoch hat das nicht einen kompromisslosen Kampf gegen den Kapitalismus und das Großgrundbesitzertum in diesem Bundesstaat hervorgebracht oder gar den Anspruch verfolgt, sich auf ganz Indien auszuweiten. Es war die CPI(M)-Administration, die bewaffnete Banden innerhalb der Polizei und Schlägertrupps der Partei damit beauftragte, gegen arme Bäuerinnen und Bauern in Nandigram vorzugehen und sie von ihrem Land zu vertreiben. Es sollte Platz geschaffen werden für multinationale Unternehmen. Vierzehn Menschen wurden dabei getötet, etliche verletzt, hunderte obdachlos und ihrer Lebensgrundlage beraubt. Dieses Beispiel und weitere, gegen die Arbeiterklasse und die Armen gerichtete politische Entscheidungen und Vorgehensweisen haben jetzt dazu geführt, dass sie bei den jüngsten Wahlen die politische Kontrolle im von Armut gezeichneten West Bengalen wie auch im Bundesstaat Kerala verloren haben.

Die Stalinisten haben argumentiert, dass es einen gewissen Grad an Industrialisierung in der Gesellschaft geben muss, den es durch die Entwicklung des Kapitalismus zunächst einmal zu erreichen gelte. Erst dann kann demnach die Grundlage für Sozialismus und Kommunismus geschaffen werden.

Das war die Politik der Menschewiki, die 1917 in Russland in Opposition zur Vorgehensweise der BolschewistInnen standen. Letztere verfolgten die Strategie, die Macht in die Hände der ArbeiterInnen, Bäuerinnen und Bauern zu legen, um eine sozialistische Gesellschaft aufzubauen. Aber jetzt scheint es, als seien die Ideen des Sozialismus zur Nebensächlichkeit degradiert, ohne jeden Anspruch, den Kampf gegen die auf dem Kastensystem basierende Diskriminierung überhaupt aufzunehmen. Man war nicht in der Lage ein Programm zu entwickeln, mit dem die ureigenen Forderungen der Dalits und ihr Kampf um Emanzipation verbunden worden wären mit den Forderungen der organisierten ArbeiterInnen, Bäuerinnen, Bauern und anderer armer Leute nach einer Transformation der Gesellschaft im sozialistischen Sinne. Dieses Versagen, zu dem es selbst noch in der Mitte des vergangenen Jahrhunderts kommen konnte, ist mit dafür verantwortlich, dass Ambedkar und andere Dalit-AktivistInnen sich immer weiter von dem entfernten, was sie als „Marxismus“ und „Kommunismus“ ansahen – und was in Wirklichkeit aber einfach Stalinismus war.

Marx’ Idee des Kommunismus ist eine Gesellschaft, in der sich die Großindustrie, Grund und Boden sowie die Banken nicht in Privatbesitz befinden. Unter einem demokratisch aufgestellten Plan für die Wirtschaft und die Gesellschaft soll alles, was produziert und hergestellt wird, auf Grundlage der Bedürfnisse der Menschen und ohne Diskriminierung und Privilegien verteilt werden. Im Übergang zu dieser Art von Gesellschaft muss – selbst, wenn die Arbeiterklasse morgen schon die Macht übernehmen sollte – nicht nur die Wirtschaft auf sozialistischer Grundlage vollkommen umgestaltet werden. Auch viele Überreste der kapitalistischen Gesellschaft würden in Form von reaktionären Ideen, Vorurteilen und chauvinistischen Attitüden und Praktiken weiterhin Bestand haben. Daher müssen Schritte mit dem Ziel unternommen werden, sämtliche Formen von Diskriminierung aufzuheben, ohne die Rechte und Lebensbedingungen anderer dabei im negativen Sinne zu berühren.

Gegen jede Art von Diskriminierung

Selbst im Kapitalismus können in Aufschwungphasen bestimmte Maßnahmen wie Quotenregelungen oder eine „positive Diskriminierung“ dazu führen, dass die Chancen für Frauen, ethnische Minderheiten, Dalits u.a. verbessert werden. Allerdings bleiben derlei Ansätze zwangsläufig begrenzt und Missbrauch ist möglich. Die Abschaffung von Ungleichheit, Ausbeutung und Ungerechtigkeit muss stets in Verbindung stehen mit der Einsicht in die Notwendigkeit, dass auch die sozialistische Umgestaltung der Gesellschaft nötig ist. Doch weit bevor eine wirklich kommunistische Gesellschaft zustande gekommen ist, müssen SozialistInnen bereits den Kampf gegen jede Art von Diskriminierung aufnehmen.

Die Arbeiterbewegung muss sich bei Lohnrunden, im Kampf für bessere Arbeitsbedingungen, für angemessene und bezahlbare Wohnungen und Preise die Einheit aller ArbeiterInnen und Unterdrückten auf die Fahne schreiben. Und das muss vollkommen unabhängig von der Nationalität, Kastenzugehörigkeit, sexuellen Veranlagung oder Religion geschehen. Sie muss sich die gleiche Behandlung aller ArbeiterInnen und Armen zum Ziel setzen: für den fairen und uneingeschränkten Zugang zu Bildung, Gesundheitsversorgung und anderen sozialen Bereichen, Arbeitsplätzen und Wohnungen.

Die Worte Ambedkars über die indische Demokratie klingen immer noch aktuell: Es ist „nur ein Sahnehäubchen auf einer indischen Scholle, die durch und durch undemokratisch ist“. Es können durchaus auch umfassende Errungenschaften erkämpft werden. Nur, dass sie ausschließlich dann von Dauer sein können, wenn alle Naturreserven und menschlichen Ressourcen auf der Basis von Vergesellschaftung und demokratisch kontrollierter Planung und Geschäftsführung durch die gewählten VertreterInnen der ArbeiterInnen und armen Menschen massiv ausgeweitet werden.

Überfluss ist die Grundlage für wirklichen Sozialismus und entscheidend, um alle in die Lage versetzen zu können, zu bekommen, was für ein erfülltes und angemessenes Leben nötig ist. Bis dahin wird es zu vielen und verschiedenen Konflikten um knappe Ressourcen kommen. Das zeigt das Buch „Bhimayana“ immer dann, wenn es um Quotenregelungen für Arbeitsplätze geht. Ein Quotierungssystem kann die Situation für die, die in den Bereichen Arbeit, Bildung, Wohnen und sogar in der Politik und bei den Behörden am meisten unter Diskriminierung zu leiden haben, entschärfen. Es handelt sich dabei um den Versuch, die Tendenzen gegen sie, den Mangel an Möglichkeiten für sie und die nicht angemessene Vertretung durch Politiker ihrer Klagen und Interessen zu beseitigen.

SozialistInnen unterstützen alle Schritte, die in Richtung Gerechtigkeit gehen, aber nicht auf Kosten anderer ausgebeuteter Schichten. Es besteht immer das Risiko, dass es zu einer Art von „positiver Diskriminierung“ kommt. Vor allem, wenn richtige Maßnahmen plötzlich von Einzelpersonen für sich ausgenutzt werden, um ohne Rücksichtnahme auf andere den ganz eigenen Interessen nachzukommen.

Im korrupten und kapitalistischen Indien von heute wurden einige politische Figuren aus der Kaste der Dalit in privilegierte Positionen gehoben, wo sie ihre eigenen Interessen verfolgt haben und beim Kasten-Problem plötzlich wie blind wurden. Sie haben den Lebenswandel und die Herangehensweise der unterdrückenden Kasten angenommen. Das geschah überall da, wo Parteien, die aus einer bestimmten Kaste heraus agierten, Kompromisse mit kapitalistischen Politikern und Konzerninteressen geschlossen haben, um ihrerseits ihre Macht und Einflussnahme zu vergrößern. Und schon wird die neue Position nicht mehr benutzt, um im Sinne der am meisten unterdrückten Menschen einzusetzen. Dann geht es nur noch darum, das eigene Nest weiter auszupolstern.

SozialistInnen werden alle Formen von Unterdrückung, Ausbeutung und Diskriminierung zum Thema machen und diese bekämpfen. Wenn – wie in der „Bhimayana“ beschrieben – den Dalits eine Ressource wie Wasser verwehrt wird, muss ähnlich der Satyagrahas von Ambedkar ein Aufruhr angezettelt und Massenprotest organisiert werden. Allerdings müssen dabei so viele organisierte ArbeiterInnen mit den unterschiedlichsten Hintergründen wie möglich einbezogen werden, um dem Kampf mehr Gewicht und eine bessere Perspektive zu verleihen.

Die Überkommenheit des Kastensystems muss bei jeder Gelegenheit angeprangert werden. Und dabei muss klar werden, dass der Kapitalismus unfähig ist, den Menschen auf dieser Welt auch nur die grundlegendsten Bedürfnisse sicher zur Verfügung zu stellen. Es handelt sich um ein System, das nur eins verdient: Durch Massenwiderstand und den organisierten Kampf der ArbeiterInnen und Armen mit einem sozialistischen Programm hinweggefegt zu werden, damit die Schrecken von Kasten- und Klassenunterdrückung ein für allemal beendet werden.