Generalstreik erschüttert Tunesien

Foto: http://www.flickr.com/photos/79536904@N03/ CC BY-NC-ND
Foto: http://www.flickr.com/photos/79536904@N03/ CC BY-NC-ND

Das Vorgehen der Kräfte der Konterrevolution muss dazu führen, dass der Kampf gegen die gesellschaftlichen und ökonomischen Probleme neu aufgerollt wird

Der folgende Artikel basiert auf einem Interview mit Dali Malik, einem tunesischen Sympathisanten des CWI („Committee for a Workers´ International“ / „Komitee für eine Arbeiterinternationale“, dessen Sektion in Deutschland die SAV ist) Er erschien am 13. Februar in englischer Sprache auf socialistworld.net.

Wie das folgende Interview zeigt, hat der Mord an dem linken Oppositionsführer Chokri Belaïd zu einem Wendepunkt im Prozess aus Revolution und Konterrevolution geführt, der sich in den letzten zwei Jahren in Tunesien abspielt. Das hat zu einer neuen Qualität der Konfrontation im andauernden Kampf zwischen der Masse der ArbeiterInnen, der verarmten Bevölkerung und der jungen Leute in Tunesien mit der größtenteils in Misskredit geratenen Regierung unter Führung der islamistischen „Ennahdha“-Partei geführt. Die politische Krise hat dadurch Ausmaße angenommen, die zuvor niemand erahnt hätte.

Zahlreiche KommentatorInnen beschreiben die jüngsten Ereignisse als „säkular motivierten Aufstand gegen die Islamisten“. Selbst wenn man berücksichtigt, dass es von Seiten der regierenden „Ennahdha“-Partei und anderen islamistischen Gruppierungen (vor allem den aufwieglerischen salafistischen Banden) Versuche gibt, die langen säkularistischen Traditionen in Tunesien zurück zu drängen, und dass diese Versuche sicherlich eine Rolle dabei gespielt haben, die allgemeine Wut noch einmal anzuheizen, so kann eine derart vereinfachende Betrachtungsweise kaum dabei helfen, die derzeitige Lage in Gänze zu erklären. Fakt ist, dass der Hintergrund für diese massenhaft zutage tretende Empörung aus Massenarbeitslosigkeit, explodierenden Preisen, dem breiteten sozialen Elend und einer Marginalisierung der Regionen im Landesinneren besteht. Diese Empörung richtet sich gegen die momentanen Herrschenden, deren neoliberale Wirtschaftspolitik exakt derselben Zielsetzung unterliegt und haargenau dieselben Folgen für die Bevölkerungsmehrheit hat, wie schon unter der Clique, die vor zwei Jahren aus dem Amt gejagt wurde.

Seit vergangenem Mittwoch fokussieren sich die wütenden Proteste, die sich überall im Land Bahn brechen, auf die regierende Partei. Die Forderungen dabei lauten: Sturz der Regierung und eine neue Revolution. In vielen Regionen ist es zu tagelang anhaltenden Zusammenstößen zwischen Protestierenden und Polizeikräften gekommen. Dies trifft vor allem für die kämpferischen Gebiete im Zentrum des Landes wie etwa die Städte Gafsa (ca. 85.000 EinwohnerInnen; Anm. d. Übers.) und Sidi Bouzid (rund 40.000 EinwohnerInnen) zu. Bei dem Generalstreik vom Freitag handelte es sich um den ersten in Tunesien seit 1978. Er hat die Wirtschaft des Landes vollkommen zum Erliegen gebracht und war mit einer als historisch zu bezeichnenden Massenmobilisierung auf der Straße verbunden, die im Zeichen des Gedenkens an den ermordeten Chokri Belaïd vonstatten ging. Der Sprechchor „Chokri, du darfst ruhen, wir werden deinen Kampf weiterführen!“ brachte die Gefühlslage zum Ausdruck, die bei vielen TunesierInen vorherrscht. Es war in der Tat eine äußerst politische Trauerprozession, und die Stimmung in den Straßen zeichnete sich durch Trotz und massenhafte Opposition gegen das Regime aus. Am Montag dann protestierten abermals hunderte TunesierInnen vor der Nationalversammlung und forderten den Rücktritt der Regierung.

Die Führungsriege des politischen Establishments berät seit Tagen hinter verschlossenen Türen, um eine neue Regierung der sogenannten „nationalen Einheit“ zu bilden. Wie schon so oft seit dem Sturz von Ben Ali sucht die herrschende Klasse aus Angst davor, dass sich die Schleusentore der Revolution erneut öffnen, eine Regierung zusammen zu schustern, mit der man die Führung über den Staatsapparat beibehalten kann. Und damit meinen sie natürlich „ihren“ Staat, einen Staat, in dem die momentanen Entscheidungsträger im Amt bleiben, die Forderungen der Massen zurückgewiesen und ihre Versuche, die Dinge in die eigenen Hände zu nehmen, abgeblockt werden.

Die Linke und der Gewerkschaftsbund UGTT dürfen sich an diesem durchsichtigen Treiben nicht beteiligen und die Hände schmutzig machen! Wie Dali im Interview unten erklärt, sollte das „Volksfront“-Bündnis „jede Vereinbarung mit jedweden Kräften ablehnen, die den ArbeiterInnen und dem revolutionären Lager feindlich gegenüber stehen“. Im Moment tritt die „Volksfront“ für einen „Nationalen Kongress des Dialogs“ ein und ruft dazu auf, eine „Notstands-“ oder „Krisenregierung“ zu bilden. Sowohl die „Arbeiterpartei“ als auch Belaïds Partei „Bewegung der Demokratischen Patrioten“ wünschen sich eine Regierung der „National Kompetenz“. Das sind – gelinde gesagt – alles sehr vage Formulierungen, die der Möglichkeit Tür und Tor öffnen, dass es zwischen Teilen der Führung der Arbeiterbewegung und der Linken zu Regierungsabsprachen mit pro-kapitalistischen Elementen kommt. Die Idee, zu nationaler Einheit kommen zu wollen, birgt das ernste Problem, dass dabei nicht klar wird, wer Freund und wer Feind der Revolution ist.

Das CWI ist der Überzeugung, dass es nur eine mögliche Einheit geben kann: die Einheit der Arbeiterklasse, der Jugend und der in Armut lebenden Menschen. Mit dieser Einheit kann die eigene Revolution fortgesetzt werden, bis eine Regierung zustande gekommen ist, die aus dem eigenen massenhaften Kampf hervorgegangen ist. Möglich ist dies durch den Aufbau spontan eingerichteter Strukturen wie z.B. Streikkomitees, Nachbarschaftskomitees u.ä., um sich regional und landesweit vernetzen zu können.

Die „Volksfront“ könnte sich gegenüber der breiten Masse erklären und sagen, dass sie sich nur dann an einer Regierung beteiligt, wenn bestimmte Bedingungen erfüllt sind. Dazu muss gehören, dass alle privatisierten Unternehmen wieder in öffentliches Eigentum übergehen, die Schulden in vollem Umfang gestrichen werden, ein umfassender Plan für öffentliche Investitionen aufgelegt wird, um Infrastruktur und gesellschaftlich sinnvolle Arbeitsplätze zu sichern bzw. zu schaffen. Außerdem muss der Außenhandel unter ein Staatsmonopol gestellt werden und die Schlüsselindustrien müssen den ArbeiterInnen übergeben werden, die mittels gewählter VertreterInnen die demokratische Kontrolle übernehmen. In der Praxis kann ein solches Programm nur umgesetzt werden, wenn dies unabhängig von all den Parteien geschieht, die den Kapitalismus verteidigen und die nur daran interessiert sind, über die Verteilung von Ministerposten in einer zukünftigen Regierung zu verhandeln, zu der dann auch RepräsentantInnen und VerteidigerInnen der Konzerne gehören.

In den vergangenen Tagen sind in der Hauptstadt und anderen Städten wichtige Armeeeinheiten aufgezogen. Es gilt noch immer der Ausnahmezustand, und der Polizeiapparat setzt sein schmutziges Geschäft fort, das aus Repression, systematischen Misshandlungen und Gewalt gegen Protestierende besteht. Die Massen sollten die Straße nicht den staatlichen Einheiten überlassen, sondern massenweise den Anspruch auf den öffentlichen Raum geltend machen. Dies muss einhergehen mit dem Aufbau revolutionärer Verteidigungskomitees, in denen sich die Massen zusammentun und die von unten, von den „einfachen“ Leuten organisiert werden, um die Gewalt der reaktionären Kräfte einzudämmen und zurückschlagen zu können. Zu diesem Zweck sollte an die unteren Grade in der Armee appelliert werden, sich vom Staat loszusagen, auf Grundlage der Klassen-Zugehörigkeit zu organisieren und gegen die Gefahr der militärischen Provokateure zu kämpfen.

Die „Volksfront“ sollte einen klaren Aktionsplan vorlegen, der darauf abzielt, die Revolution zu stärken und gegen Versuche zu verteidigen, sie wieder zurückzudrängen. Dabei ist es ganz gleich, ob dies durch die Polizei oder andere reaktionäre Milizen geschieht. Es muss ein Aufruf her, in dem vorgeschlagen wird, in den Betrieben, den Wohnvierteln, Hochschulen und öffentlichen Einrichtungen, den Schulen und in ganzen Kommunen Massenversammlungen abzuhalten, um miteinander in Diskussion zu treten und Entscheidungen zu treffen. Dies muss so demokratisch wie irgend möglich geschehen und auf gegenseitigem Respekt basieren. Geklärt werden muss, wie die nächsten Schritte aussehen müssen und wie man die eigenen Kräfte flächendeckend gegen die Konterrevolution organisieren kann. So könnte nach der Lahmlegung vom letzten Freitag ein neuer Generalstreik vorbereitet werden, um nochmals die Stärke der Revolution und der organisierten Arbeiterklasse zu bestärken und sich der momentan herrschenden Clique zu entledigen, die in den Augen der Mehrheit schon längst keine Legitimität mehr besitzt.

In einigen Orten haben die Ereignisse der letzten Zeit die Massen ermutigt, einige althergebrachte Formen der Selbst-Organisation wieder aufzugreifen. In einigen Arbeitervierteln von Tunis, in Le Kef und einigen anderen Gegenden sind Nachbarschaftskomitees wie Pilze aus dem Boden geschossen. Diese Beispiele sollten aufgegriffen und verbreitet werden, und man sollte dabei auch nicht vor den Betrieben und Fabriken Halt machen, die als Sprungbrett dienen können, um die Wirtschaftsprozesse der demokratischen Kontrolle und Geschäftsführung der ArbeiterInnen zu unterstellen.

Der Ruf nach einem „Nationalkongress“ würde erst dann voll zur Geltung kommen, wenn er an die revolutionären Massen selbst gerichtet wird. Dieser Vorschlag sollte mit der Feststellung verknüpft werden, dass die Entwicklung und Vernetzung von Aktionskomitees auf lokaler, regionaler und Landesebene nötig ist. Aus diesesn Komitees heraus müssen dann VertreterInnen gewählt werden, die rechenschaftspflichtig sind und unmittelbar aus der revolutionären Bewegung, den kämpfenden und aktiven Schichten der UGTT, der Arbeiterbewegung und der Jugend kommen.

Solche Komitees würden die Arbeiterklasse und die verarmten Schichten darauf vorbereiten, die Gesellschaft zu übernehmen und sie auf der Grundlage eines demokratisch organisierten, sozialistischen Produktionsplans neu aufzubauen. Ein derart mutiger Vorstoß hin zu einem demokratischen und sozialistischen Tunesien würde die ArbeiterInnen und die jungen Menschen in der Regierung und weltweit anstecken und hätte eine überaus motivierende Wirkung auf sie. Das würde die Verbindung zur revolutionären Arbeiterbewegung in Ägypten und anderen Ländern der Region herstellen, die die ersten Schritte machen auf dem Weg zum Aufbau einer freien sozialistischen Föderation Nordafrikas und des Nahen Ostens.

Kannst du uns kurz den Hintergrund erklären, vor dem der Mord an Chokri Belaïd stattfand und welche Auswirkungen das hatte?

Chokri Belaïds Tod ist ein einschneidendes Ereignis und ein Wendepunkt im revolutionären Prozess in Tunesien. Es ist aber wichtig zu verstehen, dass sich schon seit Monaten eine unglaubliche Wut auf die Regierung angestaut hat. Zu Belaïds Tod ist es dann gekommen, als sich das politische Establishment, die Regierung und die „Verfassunggebende Nationalversammlung“ bereits in einer beispiellosen Krise befanden. Darin kommt die Unfähigkeit der herrschenden Klassen zum Tragen, ihre konterrevolutonären Pläne mittels ministeriellem Prozedere umzusetzen und dabei ausreichend Unterstützung in der Bevölkerung zu akquirieren. Das ist ein unhaltbarer Zustand geworden.

Es ist nun sieben Monate her, dass man uns erzählt hat, das Regierungskabinett würde neu besetzt. An der Spitze des Staates können sie sich aber immer noch nicht einigen. Der Grund dafür ist die unheimliche gesellschaftliche Wut, die sich täglich auf den Straßen des Landes ausdrückt. Schon bevor Chokri Belaïd ermordet wurde, hat der Hass auf die Regierung ein beträchtliches Ausmaß angenommen. Dieser Mord brachte das Fass zum Überlaufen. Belaïd war nicht die „beliebteste“ Führungsfigur der Revolution, aber er war ein Aktivist, der ein gewisses Ansehen genoss, der vor allem nach der Revolution in aller Munde war.

Schon bald nach Bekanntwerden seines Todes ist es überall zu Massenmobilisierungen gekommen. In einigen Fällen hatte das den Charakter eines Aufstands. In den vergangenen Tagen sind 72 lokale Büros der regierenden „Ennahdha“-Partei niedergebrannt worden! Eine halbe Stunde nach der Nachricht von Belaïds Tod kam es bereits zu riesigen Demonstrationen, Sit-ins, Streiks, Zusammenstößen mit der Polizei etc. Und am Tag, als das Begräbnis stattfand, durchzog eine „menschliche Lawine“ die Hauptstadt und in vielen Städten kam es zu Massendemonstrationen. Einige BeobachterInnen gehen davon aus, dass am Freitag mehr als eine Million Menschen durch die Straßen von Tunis strömten. Es ist unmöglich mit Worten die Atmosphäre zu beschreiben, die dabei herrschte. In Sprechchören wurde zum Sturz der Regierung aufgerufen, einen neue Revolution gefordert und Rached Ghannouchi (der Vorsitzende der „Ennahdha“-Partei) als Mörder beschimpft.

Welche Auswirkungen hatte der Generalstreik vom Freitag?

Beim Generalstreik waren die Reihen fest geschlossen. Es gab eine massive und umfassende Unterstützung dafür. Selbst in Betrieben, in denen es keine Gewerkschaft gibt und in denen es normalerweise nicht zu Streiks kommt, wurde diesmal die Arbeit niedergelegt. Dasselbe gilt für viele Cafés, kleine Fachbetriebe, EinzelhändlerInnen, die angeblich „Ennahdha“-freundlich sein sollen. Sie alle beteiligten sich am Ausstand. Das ganze Land kam zum Erliegen, was in der Geschichte Tunesiens so noch nicht vorgekommen sein dürfte. Der Streik und die dazugehörige Mobilisierung haben der Revolution neuen Schwung gegeben und den Massen Zuversicht gegeben. Das war ein schwerer Schlag für die Regierung, die jetzt in ihren Grundfesten erschüttert ist.

Im Versuch, das Gesicht der herrschenden Clique zu retten, führt der Premierminister Jebali nun endlose Gespräche. Er bemüht sich um eine Umstrukturierung des Regierungsapparats, damit dieser weiterarbeiten kann. Doch die Wut auf die „Ennahdha“-Partei erreicht ihren Höhepunkt. Das geht so weit, dass die Partei sich am Rande des Zusammenbruchs befindet. Der radikale Flügel der Partei versuchte am Samstag, seine Kräfte zu mobilisieren, aber das wurde zum Flop: Selbst das Bezahlen von Leuten hat nicht geholfen, um im Zentrum von Tunis mehr als 3.000 Menschen zusammenzubekommen!

Die Institutionen stecken in einer schwerwiegenden Krise. Aus der Verfassunggebenden Versammlung haben sich sämtliche Oppositionsparteien zurückgezogen, und das Regime ist ernstlich destabilisiert. Auch in den Beziehungen des politischen Personals mit den imperialistischen Mächten sind erste Risse aufgetaucht, die sich auszuweiten drohen. Aus Sicht der herrschenden Klassen, ist keine Lösung in Sicht. Vor zwei Wochen liefen immer noch die Gespräche mit den internationalen Finanzinstitutionen, um ein Programm „struktureller Reformen“ aufzulegen. Was für ein Euphemismus für Pläne, neoliberale Attacken durchzuführen. So sollen zum Beispiel bestimmte Subventionen auf Grundbedarfsgüter aufgehoben werden, weitere Privatisierungen durchgeführt und Löhne gekürzt werden etc.

Aber der Tod von Belaïd und dessen Folgen haben diese Pläne in Gefahr gebracht. Die „Realos“ unter den führenden „Ennahdha“-Politikern um Premier Jebali, aber auch die imperialistischen Kräfte scheinen die Option einer „Technokraten“-Regierung zu favorisieren. Aber selbst diese Möglichkeit ist für sie nur schwierig durchsetzbar, und selbst wenn es klappen sollte, so ist nicht sicher, ob sie lange Bestand haben wird. Unter diesen Bedingungen müssen wir auf dem Posten sein, weil auch ein Putsch nicht mehr im Bereich des Unmöglichen liegt; auch, wenn das derzeit nicht die wahrscheinlichste aller Möglichkeiten ist.

Was kannst du uns über das linke Bündnis der „Volksfront“ erzählen?

Seit ihrer Gründung im vergangenen Oktober war die „Volksfront“ sehr stark einbezogen in die Kämpfe und sozialen Bewegungen. Bei der Mobilisierung spielt sie eine zentrale Rolle und ihre AktivistInnen sind bei fast allen Mobilisierungskampagnen, die im Land zu verzeichnen sind, eine treibende Kraft. So spielte die „Volksfront“ bei dem regionalen Streik in Siliana im vergangenen Dezember eine entscheidende Rolle. Dasselbe gilt für den jüngsten regional begrenzten Streik, der in Le Kef stattfand. In diesem Sinne wird die „Volksfront“ weitestgehend als eine politische Kraft wahrgenommen, die auf der Seite des revolutionären Kampfes steht. Ihre Basis besteht hauptsächlich aus jungen RevolutionärInnen, aus GewerkschafterInnen und Erwerbslosen. Der Sprecher der „Volksfront“ war Chokri Belaïd und auch wegen ihm stehen die Arbeit der „Volksfront“ und ihre Mitglieder und SympathisantInnen in der Schusslinie.

Was ihre Analyse der momentanen Lage angeht, weist die „Volksfront“ allerdings ein Defizit auf. Ihre konkreten Handlungsvorschläge bleiben begrenzt, und dasselbe gilt für die Wirkung, die ihre Strukturen auszuüben imstande sind. Obwohl sie auf eine breite Basis zurückgreifen kann, haben deren Aktionen nur wenig Gewicht. Es gibt kaum Einflussmöglichkeiten, um von unten auf die Entscheidungen der Führung einwirken zu können. Man kann sagen, dass die „Volksfront“ nicht besonders integrativ organisiert ist.

Über allem steht, dass die „Volksfront“ bei der wichtigsten Frage der Revolution, die viele andere Aspekte bedingt, äußerst vage bleibt: Die Frage, wer im Land die Macht hat. Die „Volksfront“ ist nicht homogen und einige ihrer Mitgliedsorganisationen stehen immer noch unter dem starken Einfluss der Idee von der „stufenartigen Revolution“. Gemeint ist damit, dass wir erst die Demokratie festigen und die Freiheiten etablieren müssen, bevor wie den Kapitalismus herausfordern können. Diese Logik bringt sie dazu, sich der Frage der „Demokratie“ in einem Rahmen zu nähern, der die bestehenden Institutionen nicht grundlegend infrage stellt. Auch wird damit nicht ins Auge gefasst, die Macht auf einem anderen Wege zu übernehmen, als über den klassischen Parlamentarismus.

Natürlich wollen wir so viel Demokratie wie irgend möglich. Und wir kämpfen für die Freiheit. Wir glauben aber, dass wir diese Fragen nicht isoliert angehen können, ohne die soziale Frage mit einzubeziehen. Oder, wie MarxistInnen häufig anmerken: „Im Kapitalismus endet die Demokratie am Fabriktor!“. In der Tat sind wir der Meinung, dass wirkliche Demokratie nur erreicht werden kann, wenn die ArbeiterInnen die direkte Kontrolle darüber haben, was mit ihrer Hände Arbeit produziert wurde. Wir kämpfen für echte Demokratie, die für alle Bereiche der Gesellschaft gilt. Dazu gehört auch, dass auf allen Ebenen die Massen selbst die Macht ausüben: in den Betrieben, den Wohnvierteln, Schulen. Innerhalb der „Volksfront“ setzten wir uns für genau diese Punkte ein, damit die „Volksfront“ ein Programm formuliert, dass eindeutig ist und Klassencharakter hat, um auf dieser Grundlage die Macht zu übernehmen und jedes Abkommen mit irgendwelchen Kräften, die den ArbeiterInnen und dem revolutionären Lager gegenüber feindlich eingestellt sind, abzulehnen.

Die „Volksfront“ spricht heute von der Notwendigkeit einer „Krisenregierung“. Alles hängt aber davon ab, welche Inhalte damit verbunden sind. Aus unserer Sicht kann es keinen Ausweg aus der Krise geben, ohne die Perspektive, ein Gesellschafts- und Wirtschaftssystem zu überwinden, das sich selbst in einer originären Krise befindet. Dieses System zwingt die Massen, jeden Tag erneut für die anarchische Funktionsweise den Geldbeutel aufzumachen.

Von daher sind wir der Meinung, dass sämtliche Schulden gestrichen werden müssen. Das ist ein Punkt, der innerhalb der „Volksfront“ zu Konflikten führt. Einige fordern lediglich, dass die Schulden eine Zeit lang „eingefroren“ werden sollen. Demnach bestünde auch die Möglichkeit, eine Prüfungskommission einzurichten, die eruiert, welcher Teil der Gesamtschulden „abzulehnen“, weil inakzeptabel, ist. Nach dieser Logik ist wenigstens ein Teil der Schulden nicht in Frage zu stellen, obwohl sie aus der Zeit der alten herrschenden Mafia stammen und die Folge deren Plünderungszüge sind. Unterstützt wurden sie dabei von den internationalen kapitalistischen Institutionen. Wir treten auch für die Verstaatlichung aller Unternehmen ein, die ArbeiterInnen entlassen. Die Verstaatlichung muss unter der Kontrolle der Beschäftigten selbst stehen und darf gerade auch vor den Banken und multinationalen Konzernen nicht Halt machen. Deren Aktivitäten sind ausschließlich darauf ausgerichtet, den Massen das Blut auszusaugen, um eine Handvoll Parasiten immer reicher werden zu lassen.

Wir sind bereit, mit anderen Kräften zusammenzuarbeiten, um diese Möglichkeiten anzugehen. Deshalb sind wir auch dazu bereit, ein gewisses Maß an Flexibilität an den Tag zu legen. Es gibt aber eine Sache, zu der es keine Kompromisse gibt: Die Krise des Kapitalismus ist an einem Punkt angelangt, wo es kein Zurück mehr gibt. Deshalb ist eine klare Strategie nötig, um da wieder rauszukommen. Nur so kann es eine Zukunft geben und nur so bieten sich der Mehrheit der tunesischen Bevölkerung Möglichkeiten. Schließlich sind Millionen von Menschen in diesem Land ohne Erwerbsarbeit. Wenn die ArbeiterInnen selbst entscheiden können, wo und wie viel investiert wird, wenn sie die Wirtschaft auf Grundlage eines allgemeinen Plans neu organisieren, der sich an den Bedürfnissen jeder und jedes einzelnen orientiert, dann könnten die Produktionsmittel weiterentwickelt werden, um jeder und jedem einen angemessenen und gesellschaftlich sinnvollen Job anzubieten. Heute sind wir noch in der Minderheit, wenn wir ein solches Programm vorschlagen. Aber zur Logik der Ereignisse gehört auch, dass diese Ansätze eines Tages von der Mehrheit übernommen werden.