In Italien verschärft sich die soziale und politische Krise

Große Chance zum Aufbau einer neuen Arbeiterpartei

Dieser Artikel erschien am 26. Juli auf englischer Sprache auf der Webseite socialistworld.net

von Giuliano Brunetti, „Controcorrente“ (Schwesterorganisation der SAV und Sektion des CWI in Italien)

Hinsichtlich der Schwere der ökonomischen, sozialen und politischen Krise ist das Jahr 2012 ein Wendepunkt in Italien. Nach Griechenland ist Italien eines der am stärksten betroffenen Länder in der Eurozone. Der „Internationale Währungsfonds“ (IWF) schätzt, dass es dieses Jahr zu einem Rückgang des Bruttoinlandsprodukts (BIP) um 2,2 Prozent kommen wird.

Die Arbeitslosigkeit ist auf den höchsten Stand seit 2001 angestiegen und offiziellen Angaben zufolge ist einer von drei jungen Menschen erwerbslos. Im ersten Quartal dieses Jahres machten 150.000 Betriebe dicht, 1.600 pro Tag.

Das Statistik-Amt des Landes spricht von 8,3 Millionen EinwohnerInnen (12 Prozent der Bevölkerung), die unterhalb der Armutsgrenze leben und fünf Prozent der ItalienerInnen leben in absoluter Armut.

Unterdessen hat die Regierung für den Fiskalpakt gestimmt und eine erneute „Überprüfung der Ausgaben“ beschlossen. Diese beiden Maßnahmen bedeuten die umgehende und drastische Reduzierung des öffentlichen Gesundheitsfonds und die Entlassung von 130.000 Beschäftigten im öffentlichen Dienst. Bereits jetzt sind 35 Prozent der jungen Leute ohne Erwerbsarbeit und abhängig von ihren Familien, um überleben zu kommen.

Jetzt, da in der Verfassung ein ausgeglichener Haushalt mit dem Ziel festgeschrieben ist, die Staatsschulden (derzeitiger Stand: 123,8 Prozent des BIP) jährlich um fünf Prozent zu senken, bedeutet dies, dass die Regierungen von heute an und bis 2023 jedes Jahr Einsparungen von rund 45 Milliarden Euro durchführen werden.

Diese Fakten sind ein eindeutiger Hinweis auf die Schwere der Krise, die enormen Folgen, die diese für die „einfachen“ Menschen hat, und den Abgrund, in den der Kapitalismus die Gesellschaft stößt.

Krise des politischen Systems

Die wirtschaftliche Krise hat sich selbst in eine politische Krise verwandelt. In Wirklichkeit können wir sagen, dass das ganze System von schweren Beben heimgesucht wurde. Die herrschende Klasse ist nun mit Aufruhr in den eigenen Reihen konfrontiert. Nicht eine einzige Einrichtung wurde von dieser Krise ausgelassen. Der Arbeitgeberverband, die katholische Kirche und sogar der Fußballbund: Sie alle wurden durch Korruptionsskandale, Bestechung und Spaltung geschwächt.

Beim jüngsten Kongress des Arbeitgeberverbands „Confindustria“ erhielt der neu gewählte Vorsitzende eine Mehrheit von nur elf Stimmen. Zum ersten Mal in der Geschichte dieser Institution wurde ein Vorsitzender mit einer so dünnen Mehrheit gewählt. Diese Spaltungen sind Ausdruck der Spannungen, die innerhalb der herrschenden Klasse vor allem unter den Industriellen bestehen. Unter diesen Umständen wäre es korrekt festzustellen, dass ihre einzige Stärke eigentlich in der Schwäche der Arbeiterorganisationen und vor allem ihrer politischen Führung besteht.

Die technische Regierung unter der Führung des Bankiers Mario Monti, der auch einige der „edlen Strategen“ der italienischen Kapitalistenklasse angehören, steht von der Gesellschaft isoliert da und wird von weniger als einem Drittel der ItalienerInnen unterstützt. Lediglich vier Prozent haben Vertrauen in die politischen Parteien!

Alle wesentlichen politischen Parteien von der „Lega Nord“ über die rechts-konservative PDL von Berlusconi bis hin zur „Partito Democratico“ (PD) verlieren zur Zeit stark an Zustimmung. Die Hälfte der Bevölkerung hat sich an den letzten Wahlen nicht mehr beteiligt.

Die „Lega Nord“, die als Oppositionspartei und gegenüber den korrupten Eliten aus den römischen Salons über Jahre hinweg ein gewisses Maß an Beliebtheit erringen konnte, ist von Korruptionsskandalen heimgesucht worden. Dazu gehörte auch, dass sich der Sohn des ehemaligen Vorsitzenden Bossi Ehrengrade erkauft hat und Wahlkampfkostenerstattungen für den Kauf von Diamanten und Besitztümern in Tansania ausgegeben wurden.

Mit der Wut ihrer Mitgliedschaft konfrontiert entschied sich die Parteiführung schließlich dafür, ihren großen Vorsitzenden seit den ersten Tagen der Partei fallen zu lassen und stattdessen Roberto Maroni zu wählen, der Innenminister in der Regierung Berlusconi war.

Die PDL, die sich bis vor ein paar Monaten damit brüstete, die stärkste Partei in Italien zu sein und von sich behauptete, eine Million Mitglieder zu haben, erlitt bei den Kommunalwahlen eine sehr schwere Niederlage. Sie verlor hunderte Bürgermeisterposten und landete in einigen Städten nur auf Rang drei oder vier. Häufig erreichte sie nicht einmal 10 Prozent der Stimmen.

Bei der möglichen Rückkehr Berlusconis auf die politische Bühne handelt es sich um den jüngsten, verzweifelten und grotesken Versuch eines Kapitäns, sein sinkendes Schiff irgendwie noch zu retten.

Auch die PD hat zehntausende Stimmen verloren, sogar in einigen ihrer jahrzehntelangen Hochburgen. Dabei war ihr Ergebnis allerdings noch besser als das der PDL.

Beppe Grillo und die „5-Sterne-Bewegung“

Was die politische Situation derzeit ausmacht, spiegelt sich auch durch den erstaunlichen und beispiellosen Erfolg der „5-Sterne-Bewegung“ unter der Führung des milliardenschweren Comedians Beppe Grillo wider. Hierbei handelt es sich nicht um eine politische Partei oder ein Wahlbündnis. Die 5-Sterne-Bewegung ist auch keine soziale Bewegung, wie wir sie verstehen. Gegründet wurde sie im und um das Medium Internet. Alles drehte sich um eine Webseite und sehr allgemein gehaltene politische Punkte, mit denen sowohl rechte wie linke Politikansätze abgelehnt wurden. Die Bewegung von Beppe Grillo hat keine wirkliche Mitgliedschaft, keine Strukturen, Ortsgruppen oder eine gewählte Führung.

Grillos Autorität gründet auf seiner Behauptung, seine Bewegung sei anders als die korrupte politische Elite und grundverschieden gegenüber den „alten Ansätzen“, mit denen die althergebrachten Politiker Politik machen.

Er hat seine Kräfte auf den Ruinen der traditionellen Linken aufgebaut, wozu auch der politische und organisatorische Zusammenbruch der „Partei der Kommunistischen Neugründung“ (PRC) gehört. Indem er auf eine radikal Rhetorik zurückgreift, war es ihm möglich, eine neue Schicht in der Gesellschaft für seine Bewegung anzusprechen: junge Leute, die einen allgemein linken Hintergrund haben, aber auch aus dem rechteren Spektrum bis hin zur „Lega Nord“.

Grillos Bewegung erreicht in Umfragen 20 Prozent, was sie zur zweitstärksten politischen Partei Italiens macht. Die „5-Sterne-Bewegung“ hat bereits hunderte Stadträte und stellt in verschiedenen Städten (darunter das relativ große Parma) den Bürgermeister.

Der Erfolg von Beppe Grillo muss als Ausdruck der Ablehnung der alten Parteien und der großen Möglichkeiten verstanden werden, die für eine oppositionelle und alternative Kraft in der Gesellschaft bestehen. Aufbauen tut sie vielmehr auf dem Gefühl von Misstrauen und Empörung gegenüber den traditionellen Politikern als auf echter Begeisterung für seine Bewegung. Grillos Erfolg hat einen extrem unbeständigen Charakter. Von daher wäre es richtiger, von einer Unterstützung gegen andere zu sprechen, als von Unterstützung für ihn.

In der bevorstehenden Phase kann es sein, dass die „5-Sterne-Bewegung“ noch mehr Unterstützung erhält. Aber die Unfähigkeit, mit einem klaren Programm auf die Bedürfnisse der „einfachen“ Leute zu reagieren, könnte – in Verbindung mit dem Fehlen eine realen sozialen Basis in der Gesellschaft – bedeuten, dass das erstaunliche Wachstum sich bald schon in Niedergang umwandelt. Dann werden tausenden von AktivistInnen der Bewegung enttäuscht dastehen und entmutigt nach einer politischen Lösung suchen. Die Linke und die Arbeiterbewegung werden etlichen jungen Menschen und den ArbeiterInnen eine Lösung vorschlagen müssen, die kurzzeitig von der „systemkritischen“ Rhetorik eines Grillo verführt worden sind.

ALBA, der „Schulden-Ausschuss“ und der Kampf für eine neue Arbeiterpartei

Wie durch den Aufstieg des „Grillismus“ aufgezeigt, leben wir derzeit in einer außergewöhnlichen Situation, in einer Zeit, die durch eine eindeutige Beschleunigung der sozialen und historischen Prozesse gekennzeichnet ist. Es ist eine Zeit, die vom raschen Auf- und Abbau des gesamten politischen Rahmenwerks charakterisiert ist.

Selten zuvor war der Bedarf an einer neuen politischen Einheit so stark spürbar wie jetzt. Nötig ist eine Waffe in den Händen all jener, die kämpfen und den frontalen Angriffen der herrschenden Klasse auf die Rechte und Lebensbedingungen der Menschen aus der Arbeiterklasse Widerstand entgegensetzen wollen.

Es hat heute eine Debatte über diesen Aspekt eingesetzt, die nicht länger verhindert oder herausgezögert werden kann. Der Versuch der Führung der Metallarbeitergewerkschaft FIOM, den politischen Parteien ein „Ultimatum“ zu stellen, zeigt, den Willen bestimmter AktivistInnen aus der Arbeiterschaft, einen Weg, eine Art Megafon zu finden, um den Kampf organisieren zu können und die zusammen zu bringen, die sich gegen das System organisieren wollen.

Am 1. Oktober des vergangenen Jahres reagierten eintausend AktivistInnen, GewerkschaftsführerInnen und im Kampf befindlich ArbeiterInnen positiv auf den Aufruf des ehemaligen FIOM-Vorsitzenden Giorgio Cremaschi und einiger Gliederungen der Basisgewerkschaften (USB), die die Idee beinhaltete, eine Organisation für den Kampf und für Diskussionen rund um ein politisches Programm gegen die Krise zu schaffen.

Das politische „Manifest“, das bei der Gründungsversammlung des „Komitees gegen die Schulden“ beschlossen wurde, drehte sich um das Bedürfnis, die Schlinge der öffentlichen Schulden zurückzuweisen und für die Verstaatlichung des Banken- und Finanzsektors unter demokratischer Kontrolle der Bevölkerung einzutreten. Als Ziel wurde vereinbart, diejenigen für die Krise des Kapitalismus zahlen zu lassen, die dafür auch die Verantwortung tragen.

Eine Reihe von Faktoren haben die Stärkung und Konsolidierung des „Komitee gegen die Schulden“ und ihrer regionalen Ableger abgewürgt. Dazu zählt das Gefühl der Entmutigung und Resignation, die allgemeine Frustration über die politische Situation, der Aufruf zu einem Generalstreik, der vom Gewerkschaftsbund CGIL zuerst herausgezögert, dann verworfen wurde. Außerdem sind sie unfähig das alles in konkrete politische Vorschläge zu übersetzen und die korrekte Forderung nach Nicht-Bezahlung der Schulden aufzustellen. Auch der Opportunismus einzelner Kräfte, wie der „Sinistra Critica“ (4. Internationale) und „Falcemartello“ („Der Funke“ in Deutschland), die in dem Komitee mitgearbeitet haben, spielte eine Rolle. Trotzdem ist es möglich, dass dieses Komitee im Falle einer weiteren Zuspitzung der Euro- und Schuldenkrise es schafft, die eigene Krise wieder zu überwinden.

Parallel zu diesen Entwicklungen ist anlässlich eines Vorschlags, der linken Zeitung „Il Manifesto“ eine neue Debatte entbrannt. Bekannt ist dieser Ansatz als „ALBA“: eine Allianz für Arbeit (lavoro) mit Kampagnen zum Schutz des öffentlichen Eigentums und der Umwelt. ALBA hat bereits eine erste Landeskonferenz in Florenz abgehalten, an der AktivistInnen aus den sozialen Bewegungen, GewerkschafterInnen und „einfache“ BürgerInnen teilnahmen. Das politische Programm von ALBA muss erst noch definiert werden. Im Moment scheint es aber noch reichlich verwirrt zu sein. Dennoch können wir nicht ausschließen, dass diese Initiative die Unterstützung von denen bekommen könnte, die von den traditionellen Politikern desillusioniert sind und nach einem neuen „politischen Zuhause“ suchen.

Der Erfolg der „5-Sterne-Bewegung“ gibt Aufschluss über das Potenzial, dass besteht, und auch, dass eine politische Lücke nicht dauerhaft bestehen kann. Es kann zu enormen Möglichkeiten und Chancen kommen. Doch ohne eine wirkliche linke Alternative können andere Kräfte (auch von rechts) diesen Raum besetzen, der durch den Zusammenbruch der Linken frei geworden ist.

In der bevorstehenden Periode wird „Controcorrente“ damit fortfahren, in den Gewerkschaften zu arbeiten, Kampagnen für eine kämpferische Führung zu führen und die Forderung nach einem 24-stündigen Generalstreik als erstem Schritt gegen die Regierung Monti und ihre Angriffe verbreiten. Gleichzeitig werden wir weiterhin mit dem „Komitee gegen die Schulden“ kooperieren und die weitere Entwicklung von ALBA verfolgen. Wir bleiben für jede neue Initiative offen, die aufkommen mag; so zum Beispiel solche rund um die FIOM.