Debatte: Zur Erklärung „Europa neu begründen“

Aufruf von Gewerkschaftsführern zur Eurokrise


 

Ein Echo auf die Polarisierung in den Gewerkschaften

Vor einigen Wochen haben sich mit Michael Sommer (DGB), Frank Bsirske (ver.di), Klaus Wiesehügel (IG BAU) und Ulrich Thöne (GEW) gleich mehrere deutsche Gewerkschaftsvorsitzende zusammen mit dem Wirtschaftswissenschaftler Rudolf Hickel und anderen zu dem europäischen Kürzungsdiktat geäußert, durch das die Bevölkerung von Griechenland und anderer Länder Europas die Zeche für die Rettung der Banken bezahlen soll.

Europa neu begründen! Den Marsch in den Ruin stoppen! Die Krise durch Solidarität und Demokratie bewältigen! (Auszüge)

So kann, so darf es nicht weitergehen. Das Projekt Europa steht auf der Kippe. Europa befindet sich in einer Existenzkrise. Schon vor Ausbruch der Krise wurden die Weichen falsch gestellt: durch die einseitig auf Geldwertstabilität fixierte Euro-Konstruktion und verfehlte Schulden- und Defizitkriterien, durch falsche wirtschaftspolitische Koordinierung und die sträfliche Vernachlässigung der Sozialunion. Forciert wurde die Krise durch neoliberale Deregulierungspolitik und gewissenlose Gier der Finanzeliten, die gegen Krisenländer spekulieren und eine finanzmarktkonforme Politik erzwingen wollen. Mit dem neoliberalen Leitbild der Unterordnung unter die Dominanz der (Finanz-)Märkte trägt die EU nicht zur Lösung, sondern zur Verschärfung der Krise bei. […] Als wirtschaftlich und politisch stärkster Mitgliedstaat trägt Deutschland eine besondere Verantwortung. Wir fordern eine deutsche Politik, die nicht als Treiber der destruktiven Krisenpolitik sondern als Lotse des überfälligen Pfadwechsels agiert! Wirtschaftspolitisch vordringlich sind folgende Maßnahmen: Finanztransaktionen müssen drastisch besteuert werden. Die Finanzmarktakteure müssen als Krisenverursacher zur Finanzierung der Krisenlösung wirksam herangezogen, die Finanzmärkte reguliert sowie der Bankensektor neu geordnet werden. Für Staatsanleihen muss die Eurozone gemeinsam bürgen und die Staatsfinanzen müssen von den Kapitalmärkten entkoppelt werden. Die europäische Geldpolitik ist neben dem Ziel der Geldwertstabilität auf wachstums- und beschäftigungspolitische Ziele zu verpflichten. Auch die Gewerkschaften und die Politik in Deutschland sind gefordert. In Deutschland müssen die Löhne wieder stärker steigen als in den vergangenen Jahren, um die ständige Umverteilung zugunsten der Gewinneinkommen zu beenden, den Binnenmarkt zu stärken und Ungleichgewichten in der EU entgegenzuwirken. Ebenfalls unverzichtbar sind eine umfassende Reregulierung des Arbeitsmarktes und eine Zurückdrängung des Niedriglohnsektors und der prekären Arbeit. Doch diese Maßnahmen reichen nicht aus. Ein Pfadwechsel setzt grundlegendere Veränderungen voraus: Um eine Kooperation unterschiedlich produktiver Wirtschaften unter dem gemeinsamen Euro-Dach zu ermöglichen, ist es erforderlich, dass sich die EU zu einer Transferunion weiterentwickelt. Ausgleichszahlungen helfen, die wirtschaftlichen Ungleichgewichte innerhalb des Euro-Raums abzubauen. Dabei müssen Pflichten und Rechte von Geber- und Nehmerstaaten gemeinsam vereinbart werden. Den Staaten mit hohen Schulden müssen durch Hilfen neue Entwicklungsperspektiven eröffnet werden. Europa braucht eine Demokratieoffensive. Als abgehobenes Elite-Projekt hat die EU keine gute Zukunft. Politische Weichenstellungen dürfen nur unter strikter Beachtung europäischer Verträge und Institutionen getroffen werden. Die Regierungen haben kein Mandat, Krisenpolitik an den Parlamenten vorbei zu betreiben. In Kernfragen Europas müssen die Bevölkerungen befragt werden. Europa muss sich neu begründen! Der Einigungsprozess braucht eine neue identitätstiftende Leitidee. Immer mehr Menschen verbinden mit Europa Staatsschulden, Sozialabbau und Bürokratie. Sie entziehen der EU Sympathie und Zustimmung. Soll Europa eine Zukunft haben, muss aktiv um die Zustimmung und Zuneigung der Menschen geworben werden. In einer europäischen Öffentlichkeit müssen sich die Akteure über eine Leitidee für ein soziales und demokratisches Europa verständigen. Wir plädieren für eine europäische soziale Bürgerbewegung, die gegen die desaströse Krisenpolitik und für einen radikalen Politik- und Pfadwechsel antritt. Ein erster Schritt auf diesem Weg muss die Ablehnung des Fiskalpakts in seiner gegenwärtigen Form und eine Neuverhandlung des fiskalpolitischen Rahmens sein. Wir fordern von den politisch Verantwortlichen und appellieren an Gewerkschaften und Zivilgesellschaft: Der Weg Europas in den Ruin muss gestoppt werden – durch mehr wirtschaftliche Vernunft, soziale Gerechtigkeit und demokratischen Mut! Europa braucht eine öffentliche Debatte über eine neue solidarische und demokratische Zukunft!

Taten – nicht nur Worte!

Die Erklärung zeigt vor allem eins: Die Kritik an dem von Merkel und Sarkozy geleiteten Generalangriff auf die Errungenschaften der Arbeiterbewegung wird auch in den Gewerkschaften lauter. Der Aufruf von Bsirske und anderen ist ein wichtiges Echo darauf.

von Heino Berg, Göttingen

Auch wenn sich die obige Erklärung „Europa neu begründen!“ auf Kurskorrekturen im Rahmen des Systems beschränkt und der Verantwortung der Gewerkschaftsführung für die Organisierung europaweiten Widerstands ausweicht: Die Wut darüber, dass die Reichen mit Milliarden gefüttert werden, während die KollegInnen sogar im „Aufschwung“ immer weniger verdienen, erzeugt Konflikte auch innerhalb der Gewerkschaften, die in dieser Erklärung zum Ausdruck kommt. Diese Polarisierung hat sich zuletzt beim Tarifabschluss im Öffentlichen Dienst gezeigt, wo fast die Hälfte der Tarifkommission gegen dessen Annahme stimmte. Auffallend ist, dass die Vorsitzenden der IG Metall und der IG Chemie in der Unterzeichnerliste für den Aufruf fehlen: Sie setzen noch stärker als Bsirske, Wiesehügel und andere auf „Standortvorteile“ für das deutsche Kapital – auch wenn diese mit Reallohnverlusten in Deutschland und Massenelend in Griechenland bezahlt werden müssen. Noch im September 2011 hatten alle Vorsitzenden der Einzelgewerkschaften im DGB eine Erklärung abgegeben, in der es hieß: „Europa braucht Deutschland und Deutschland braucht Europa. Deshalb werben wir für die Zustimmung zum Rettungsschirm EFSF.“ Auch Sommer und Bsirske hatten zu dem Zeitpunkt die Bankenrettungsprogramme der Bundesregierung unterstützt. Mit ihrer Grundsatzerklärung gehen sie nun vorsichtig auf Distanz zu dieser Politik des bürgerlichen Parteienkartells im Bundestag. Ihr hat dort bisher nur die LINKE widersprochen, weil ESM, EFSF und Fiskalpakt die Krise weiter verschärfen und demokratische Rechte aushebeln. Doch die systemischen Ursachen für die „Existenzkrise der EU“ werden in diesem Aufruf nicht beim Namen genannt, sondern als Folge der „gewissenlosen Gier der Finanzeliten“ sowie von „falschen Weichenstellungen“ und „neoliberalen Leitbildern“ in der Wirtschaftspolitik beschrieben. Solche Anklagen wirken zwar auf den ersten Blick radikal, lenken aber von den eigentlichen Ursachen und Klassenfronten ab. Denn nicht nur die „gewissenlose Gier“ von irgendwelchen „Eliten“, sondern das Grundprinzip der bestehenden Gesellschaftordnung, also die Unterordnung der Bedürfnisse der Mehrheit der Bevölkerung unter das Profitstreben von privaten Kapitalbesitzern begründet den „Marsch in den Ruin“. Die Unklarheiten in der Analyse haben Auswirkungen auf die politischen Konsequenzen: Ein klares Nein zu den Bankenrettungssprogrammen ist in diesem Text nicht zu finden. Der Fiskalpakt soll „in seiner gegenwärtigen Form“ abgelehnt und der fiskalpolitische Rahmen neu verhandelt werden. Dem Aufruf fehlt zudem ein klarer Aufruf zur Solidarität mit den Lohnabhängigen und Erwerbslosen in Griechenland, Spanien und Portugal sowie die Forderung, durch eine Streichung ihrer Schulden endlich die Krisenverursacher zur Kasse zu bitten. Von der Unterstützung der Generalstreiks, an denen sich Hunderttausende in diesen Ländern beteiligt haben, ganz zu schweigen. Die politische und praktische Solidarität mit den Streikenden international ist jedoch dringend nötig, um zu einem gemeinsamen Widerstand europaweit zu gelangen. Denn das Motto der Herrschenden wird sein: Heute die Lohnabhängigen in Griechenland, morgen in Spanien und Portugal und übermorgen in Deutschland. Als ersten Schritt sollte die Gewerkschaftsführung zu den Protesttagen gegen die europaweite Verarmungspolitik im Mai in Frankfurt aufrufen und die Notwendigkeit von Solidarität in den laufenden Tarifrunden thematisieren. Die GEW ist die erste Gewerkschaft, die den Fiskalpakt klar abgelehnt und die Aktionstage in Frankfurt unterstützt. Die Erklärung „Europa neu begründen“ fordert die Besteuerung von Kapitaltransaktionen zur Regulierung des Finanzsektors, gemeinsame Staatsanleihen, Lohnerhöhungen sowie die „Zurückdrängung des Niedriglohnsektors und der prekären Arbeit“. Die Formulierungen sind jedoch so allgemein und zahm, dass sich in dieser Form auch manche Vertreter des bürgerlichen Parteienkartells in den laufenden Wahlkämpfen damit schmücken könnten. Richtige Forderungen wie höhere Löhne und Umverteilung von oben nach unten sind zudem nur auf Kosten der Banken- und Konzernprofite durchsetzbar. Und solange diese durch das Privateigentum an den Hebeln der wirtschaftlichen und politischen Macht sitzen, werden sie mit der einen Hand nehmen, was sie mit der anderen zu geben gezwungen sind. Wer den „Marsch in den Ruin stoppen“ will, darf den System- und Eigentumsfragen in Europa nicht ausweichen. Die durch und durch parasitäre Finanzindustrie ist zum Beispiel nicht durch ein paar Auflagen „regulierbar“, sondern sie muss vollständig in Gemeineigentum überführt und der Kontrolle und Verwaltung der arbeitenden Bevölkerung unterstellt werden. Ja, eine Neuordnung des Bankensektors ist richtig – im Sinne der Verstaatlichung aller Banken und Zusammenfassung zu einer Bank. Im Sinne des Verbots aller Spekulationsgeschäfte und der Abschaffung von Schattenbanken. Im Aufruf heißt es, Europa brauche eine Demokratieoffensive. Die EU als Institu-tion wird jedoch nicht grundlegend infrage gestellt. Festzuhalten bleibt aber, dass die Kürzungsorgie in Griechenland und anderen Ländern von EU-Kommissaren, EZB-Bankern und IWF-Vertretern diktiert wird, die keinem gewählten Parlament gegenüber verantwortlich sind. Die Forderung der Streikenden in Griechenland nach einem „Raus mit der Troika“ ist richtig. Die undemokratischen Technokratenregierungen müssen durch Regierungen im Interesse der ArbeiterInnen und verarmten Volksmassen ersetzt werden. Wer den Rückfall in den Nationalismus der Vorkriegszeit verhindern und reaktionären Strömungen in Europa entgegentreten will, muss die bestehenden Institutionen der EU bekämpfen, anstatt sie reformieren zu wollen. Die EU ist das Europa der Banken und Konzerne – und die Gewerkschaftsbewegung daher nicht der Rettung der Europäischen Union in Brüssel, sondern allein den Interessen der Lohnabhängigen in Europa verpflichtet. Doch unabhängig von dieser notwendigen Kritik an der Erklärung von Bsirske, Sommer und anderen Gewerkschaftsvorsitzenden bleibt die Erklärung eine Absage an den „Marsch in den Ruin“, an der oppositionelle GewerkschafterInnen anknüpfen und aus der sie im Sinne des Aufrufs der GEW praktische Konsequenzen für die Unterstützung der Frankfurter Aktionstage ableiten können.

Aufruf von Gewerkschaftsführern zur Eurokrise