„Wir haben die Fragen, ihr die Antworten“

– Woher kommt der Piratenhype?


 

Sie holten bei den Abgeordnetenhauswahlen in Berlin spektakuläre 8,9%, laut Umfragen könnten sie bundesweit auf zehn Prozent kommen. Auch wenn ein Teil der WählerInnen tatsächlich jung und internetbeflissen ist, erklärt das allein noch nicht hinreichend den plötzlichen Aufstieg der Piraten. Was ist da los, und was ist dran an den Piraten?

von Anna Shadrova, Berlin

In den Medien werden sie zu „Senkrechtstartern“ und „neuen Politstars“ stilisiert. Mit ihrem jugendlich-naiven Auftreten für persönliche (Netz-)freiheit und einer Reihe sozialer Forderungen, die eigentlich die LINKE besetzen sollte, fangen sie grüne und LINKE-Stimmen ab; Mit ihrer Besinnung auf liberale Grundwerte sprechen sie auch WählerInnen der untergegangenen FDP an. Seit der Berliner Wahl nehmen die Piraten wöchentlich im Schnitt 1000 Neumitglieder auf. Sie sind jung, dynamisch, demokratisch und engagiert, sie verstehen das Internet und sie tun nicht so, als hätten sie Antworten, wo es keine gibt – oder? Sicherlich werden die Piraten von einer breiten Schicht ihrer WählerInnen als das allerkleinste Übel wahrgenommen, oder als diejenigen, die am wenigsten Schaden anrichten können (allein, weil sie ehrlich und ahnungslos wirken und noch keine starken Bande der Korruption entwickeln konnten).

Ein Potential links von der LINKEN? Sind die Piraten überhaupt links?

Die Piraten verorten sich selbst nicht einheitlich, obwohl einzelne Sprecher zunehmend von einer „Mitte-Links“-Verortung reden. Sie grenzen sich nicht klar nach rechts ab: So wurde vor Kurzem bekannt, dass zwei Vorstandsmitglieder der Piratenpartei aus Bayern und Mecklenburg-Vorpommern wenige Jahre zuvor führende NPD-Mitglieder waren. Sie wurden erst jetzt durch das Interesse der Presse an den Piraten aufgefordert, ihren politischen Hintergrund zu erklären. Sicherlich kann JedeR Fehler einsehen und seine politischen Positionen überdenken und grundlegend verändern. Wer aber im Vorstand einer rassistischen Partei sitzt und zwei Jahre später behauptet, das sei nie seine Absicht gewesen, erscheint unglaubwürdig. Bei den Piraten scheint das über längere Zeit keine Fragen aufgeworfen zu haben, was eine Offenheit nach rechts zumindest nicht ausschließt.

Allerdings ist die Piratenpartei bundesweit nicht einheitlich. Die Berliner Piraten beziehen in ihrem Wahlprogramm Stellung zu Migrationspolitik und Asylrecht, fordern eine Abschaffung der Residenzpflicht, Abschiebestopp und Wahlrecht für alle, die ihren Lebensmittelpunkt in Berlin haben. Im bundesweiten Programmwiki hingegen finden sich dazu keine Punkte.

So oder so sammelt die Piratenpartei ohne Zweifel (linke) Proteststimmen. Sie tritt gegen Diskriminierung auf Grundlage von Geschlecht oder sexueller Orientierung ein, für kostenlosen öffentlichen Nahverkehr und bessere Bildungschancen. Sie will eine Welt, in der JedeR die Freiheit hat, sich nach eigenen Interessen und Fähigkeiten zu entwickeln, ohne dabei an Geldfragen gebunden zu sein. Das sind potentiell linke Forderungen – potentiell, weil die Piraten in ihrem Programm nur Grundsätze und keine konkreten Handlungs- oder Finanzierungsvorschläge machen und ihr Programm weit auslegbar ist. Dort, wo sie konkrete Vorschläge machen, wie bei der Finanzierung von „kostenlosem“ öffentlichem Nahverkehr, kommt man eher ins Schlucken: Durch eine Kommunalabgabe würden sogar noch mehr Leute zur Kasse gebeten werden, der Nahverkehr wäre nicht kostenlos, und die Umlage würde AutofahrerInnen und Menschen, die den ÖPNV aus Kostengründen nicht nutzen, sogar zusätzlich zum Zahlen zwingen. Dennoch drückt die positive Reaktion auf die Piratenpartei eine Zustimmung zu linken Grundideen aus.

Idealismus vs. Materialismus

Die Piraten legen großen Wert auf Individualität, Selbstentfaltung, Freiheit, Vernunft und Chancengleichheit. Diese Grundsätze sind durch und durch idealistisch. Der philosophische Idealismus geht davon aus, dass die Wahrnehmung, und auch die Veränderung, der Welt im Geist beginnt: Eine gute Gesellschaft beginnt beim Einzelnen, durch gutes Verhalten, geleitet von moralisch hochwertigen Prinzipien wie Vernunft und Güte. Das vernünftige Individuum ist der Ausgangspunkt allen Handelns, in der Erweiterung entsteht eine funktionierende Gesellschaft, wenn sich alle an die idealen Prinzipien halten. Gesetze dürfen Maßlosigkeit, aber nicht persönliche Freiheit einschränken – der „informierte Bürger“ steht im Zentrum. Die Umgebung ist so zu schaffen, dass der Einzelne die Möglichkeit hat, gehört zu werden.

Dem gegenüber steht das Konzept des Materialismus, das oft falsch verstanden (und vermittelt) wird als Gier oder Konsumabhängigkeit. Der philosophische Materialismus geht davon aus, dass die materiellen Bedingungen in engerem und weiterem Sinn – wie viel Geld steht mir zur Verfügung, wie viele Bücher hat meine Familie, aber auch: welche Stellung nehme ich im Produktionsprozess ein, über welche Technologien verfügt meine Generation und so weiter – entscheidend sind für die meisten Entwicklungen der Gesellschaft. Das bedeutet, dass jemand, der unter schlechteren materiellen Bedingungen aufwächst, im Schnitt schlechtere Möglichkeiten haben wird, auch wenn er oder sie sich anstrengt und sich gut informiert. Gesellschaft setzt sich hier nicht aus den Gedanken und Ideen Einzelner zusammen, sondern wird bestimmt von den wirtschaftlichen und technischen Möglichkeiten. Individueller Ausdruck ist immer, bewusst oder unbewusst, auch Ausdruck der materiellen Grundlagen des eigenen Daseins. Gesellschaft kann schwer durch Ideen, aber leicht durch Veränderung der materiellen Grundlagen verändert werden.

Das Konzept des Idealismus wird von Bürgerlichen als erstrebenswert, wenngleich etwas naiv, propagiert. In Wahrheit verschleiert es bestehende Widersprüche, denn Chancengleichheit ist eine Illusion, solange nicht alle Zugang zu denselben Quellen von Wissen, Macht oder Reichtum haben. Dazu zählen auch kulturelle Aspekte wie der Habitus – das gesamte soziale Sein einer Gruppe von Menschen (nach Bourdieu) – der auf materiell-kultureller Grundlage entsteht und nicht oder nur schwer individuell abgelegt werden kann und ein Grund dafür ist, dass abgestiegene Bürgerliche bessere (Wieder-)Aufstiegschancen haben als Arbeiterkinder.

Zwei Klassen

Die materiellen Bedingungen der Menschen sind ungleich, weil es in der Gesellschaft im Wesentlichen zwei Klassen gibt – die herrschende Klasse, die Produktionsmittel und Kapital besitzt, und die Arbeiterklasse. Letztere besteht aus denen, die arbeiten müssen, um zu überleben, und im weiteren Sinne aus Arbeitslosen, den meisten SchülerInnen, RentnerInnen und vielen Studierenden. Die Arbeiterklasse kann nicht frei sein, weil sie von der Kapitalistenklasse abhängig ist, solange ihr nicht die Produktionsmittel gehören. Zum Beispiel kann sie im Gegensatz zur Kapitalistenklasse nicht darüber entscheiden, wovon wieviel und zu welchen Bedingungen produziert wird. Diese Unfreiheit gilt auch für höherbezahlte FacharbeiterInnen oder DienstleisterInnen, selbst wenn diese nicht in die klassische Vorstellung vom Proletariat passen. Die Unterteilung in Klassen ist sinnvoll, weil sie erklärt, warum bei allem guten Willen nicht „vernünftig“ oder „im Sinne von Allen“ gehandelt wird. Kapitalisten haben ein Interesse daran, dass profitorientiert gehandelt wird, und nicht im Sinne „von Allen“ – Dass Politik nicht verbindlich durch Mehrheitsentscheidungen durch die Bevölkerung betrieben wird, liegt nicht so sehr an den etablierten Parteien. Es liegt daran, dass Kapitalisten kein Interesse daran haben, dass ihre Projekte (S21, Spreemedia, A100…) von der Bevölkerung gestoppt werden. Sie haben auch ein Interesse daran, die Spaltung in der Bevölkerung durch nationale Grenzen aufrecht zu erhalten, sei es durch rassistische Gesetze oder durch Medienhetze gegen MigrantInnen.

Der unüberbrückbare Gegensatz ist materiell, nicht ideologisch: Alles Kapital stammt ursprünglich daraus, dass der Gesellschaft der Arbeitenden nicht der gesamte geschaffene Wert ihrer Arbeit (ausgedrückt in Geld) ausgezahlt wurde, sondern die Kapitalistenklasse einen Anteil als Profit behalten hat. Dieser Anteil kann unterschiedlich weiterentwickelt werden – durch Investitionen in neue Technologien, Erweiterung der eigenen Bestände, Finanzspekulation, Konsum etc. In jedem Fall gibt der Profit den Kapitalisten Möglichkeiten, die die Arbeiterklasse nicht hat. Die Kapitalistenklasse hat ein Interesse daran, möglichst wenig Geld an die Arbeiterklasse abzugeben, die Arbeiterklasse das gegenseitige. Dabei kommt es nicht darauf an, wie gutherzig der einzelne Kapitalist ist, weil an dieser Stelle das Konkurrenzprinzip greift. Ein „gesundes Gleichgewicht“ zwischen den Klassen kann es daher überhaupt nicht geben.

Die Piratenpartei verschleiert den Gegensatz der Interessen, indem sie ihn nicht benennt und die Kapitalistenklasse nicht in die Verantwortung für bestehende Probleme zieht. Stattdessen konzentriert sie ihre Kritik auf die etablierten Parteien und deren Vertreter – und übergeht deren systematisches Vorgehen im Sinne der Kapitalistenklasse.

Der neutrale Staat?

Alle Rechte der Arbeiterklasse wurden in harten Auseinandersetzungen in den vergangenen zweihundert Jahren erkämpft. Nie hat der bürgerliche Staat ohne politische Notwendigkeit oder gewaltigen ökonomischen Druck von sich aus Zugeständnisse gemacht. Schon daraus wird deutlich, dass er nie neutral war, sondern eine herrschaftserhaltende Funktion hat.

Die Piratenpartei verlangt eine Stärkung der Judikative, der Rechtsprechung im Staat, und vertraut darauf, dass dadurch die Freiheit des Einzelnen geschützt würde. Die Freiheit des Einzelnen ist aber auch die Freiheit des einzelnen Kapitalisten. Spätestens an dieser Stelle verkommt das „linke“ Piratenprogamm zur neoliberalen Farce: Um die Vorschläge der Piraten zu finanzieren müsste man das Geld irgendwoher holen. Zusätzliche LehrerInnen für Klassen mit höchstens 15 SchülerInnen, die Schaffung von Strukturen für persönliche Betreuung und Information auf verschiedenen Verwaltungsebenen, Drogenaufklärung, die Schaffung von Möglichkeiten zum Deutschlernen (alles aus dem Berliner Wahlprogramm), das alles kostet Geld. Dass diese Angebote nicht bestehen, ist nicht bloß auf Ignoranz oder Desinteresse der kommunalen Verwaltungen zurückzuführen, sondern auf deren systematische Ausbeutung und die Umverteilung des Reichtums an die Kapitalistenklasse, zum Beispiel durch Privatisierungen. Die Berliner Piraten sprechen sich immerhin gegen weitere Privatisierungen aus, bieten aber keine Vorschläge zur Rekommunalisierung – kauft man die Betriebe zurück? Woher soll das Geld dafür kommen? Enteignet man die jetzigen Besitzer? In jedem Fall wird klar: Wenn das, was wir brauchen, den anderen gehört, müssen wir es zurückholen. Das werden die nicht wollen. Wenn man das Geld nicht von Banken und Konzernen holt, bleibt das Programm ein schöner, ferner Traum. Diesen Widerspruch umgeht die Partei, indem sie einfach keine Stellung bezieht – der Staat erscheint als eine Art Schatzkammer, dessen Reichtümer man nur sinnvoller verteilen müsste. Damit bleibt die Piratenpartei sogar hinter der spätsozialdemokratischen Idee der Solidargemeinschaft, wie sie von den Bürgerlichen propagiert wird, zurück.

Chancengleichheit, Recht und persönliche Freiheit: Kleinbürgerliche Ideale

Der oben beschriebene Widerspruch zwischen „Linkssein“ und „Niemandem etwas wegnehmen wollen“ ist darauf zurückzuführen, dass die Piratenpartei Ausdruck kleinbürgerlicher Ideen ist. Das Kleinbürgertum ist eine Zwischenklasse, die materielle und ideologische Aspekte beider Klassen vereint. Der klassische Kleinbürger ist der kleine Ladenbesitzer oder Handwerker, der „sein eigener Chef ist“, also seine eigene Arbeitskraft ausbeutet. Zwar besitzt er seine eigenen Produktionsmittel und kann über seinen Tagesablauf entscheiden, jedoch muss er arbeiten (selbst wenn er einige wenige Angestellte hat) und verfügt nicht ansatzweise über die Mittel und die damit verbundenen Freiheiten des „echten“, größeren Kapitals. Er verkauft sich praktisch an sich selbst. Das Kleinbürgertum ist um Aufstieg bzw. Klassenerhalt bemüht, durch die kapitalistische Konkurrenz und die Tendenz zur Monopolisierung jedoch stets von einem Abstieg in die Arbeiterklasse bedroht. Heute gehören zum Kleinbürgertum auch viele Selbstständige und Menschen, die so viel verdienen, dass sie sich für eine Zeit vom Zwang, ihre Arbeitskraft zu verkaufen, befreien können. Genau zu fassen ist das Kleinbürgertum aufgrund seiner schwankenden Position und der stark ausgeprägten Ideologie, die auch Teile der Arbeiterklasse umfasst, nicht so leicht. Die starke Betonung von Individualität und persönlicher Freiheit ist im materiellen Status des Kleinbürgers verwurzelt, der hofft, sich durch Engagement, spezielles Können oder Wissen gemessen an seinen gesellschaftlichen Möglichkeiten oben halten zu können oder noch weiter aufzusteigen. Die Tellerwäscher-Millionärs-Idee ist der klassisch kleinbürgerliche Aufstiegstraum. Gerade die Unis, und insbesondere die Geisteswissenschaften, sind historisch eine Quelle kleinbürgerlicher Ideologie – akademische Bildung steht für Aufstieg, aber auch gerade die Lehrenden sind beeinflusst von der Tatsache, für kluge Gedanken und Selbstentfaltung vom gesellschaftlichen Produktionsprozess freigestellt zu sein, weil sie für wichtig genug befunden werden. Es ist daher nicht verwunderlich, wenn gerade StudentInnen von idealistischen, kleinbürgerlichen Ideen angesprochen werden.

Individualität

An der Individualität als solche ist nichts einzuwenden. Dass Menschen unterschiedliche Interessen und Fähigkeiten haben, ist unstrittig. Echte Individualität basiert jedoch auf echter Gleichheit in der Frage von Rechten und Möglichkeiten. Diese Gleichheit kann nicht unter der Bedingung eintreten, dass eine Minderheit von Besitztenden über eine Mehrheit von abhängigen Arbeitenden und deren Familien herrscht. Sie kann nur eintreten, wenn Jede und Jeder, der oder die Lust hat, Sport, Musik, Kunst oder Literatur zu machen, zu programmieren, Roboter oder Häuser zu bauen, an Entscheidungen teilzunehmen, Städte zu entwickeln oder am Bildungsplan mitzuarbeiten, dazu die gleiche Möglichkeit, gleich viel Zeit und keine existenziellen Ängste hat, die Kraft und Konzentration rauben. Nur dann kann das menschliche Potential Aller voll entfaltet werden. Das ist selbst für Deutschland im Kapitalismus illusorisch, und für die ganze Welt völlig undenkbar. Die herrschende Klasse bietet Förderung für Einzelne, aber täglich verhungern und verdursten Menschen oder sterben an heilbaren Krankheiten, weil kein Interesse besteht, ihre Leben zu retten. Von echter Individualität kann nicht einmal geträumt werden, wenn man den Kapitalismus als System akzeptiert.

Chancengleichheit

Die Idee von Chancengleichheit klingt schön, ist aber an nichts messbar. Wann hat jemand die gleichen Chancen? Ist z.B. Konzentrationsfähigkeit oder Ausdauer eine Frage von Wollen oder eine Frage von Können, und sind Wollen und Können überhaupt unterscheidbar? Wenn man unterschiedliche Menschen mit unterschiedlichen materiellen, körperlichen, geistigen, kulturellen und sozialen Möglichkeiten mit derselben Aufgabe betraut, und ihnen gleiche Betreuung vorsetzt und sie darum bittet, das Beste daraus zu machen, hat man noch keine Gleichheit hergestellt. Das Problem an der „Chancengleichheit“ ist die Akzeptanz des Oben und Unten in der Gesellschaft gepaart mit der Idee, dass die eigene Zugehörigkeit persönlich zu verantworten ist. Natürlich gibt es notwendigerweise VerliererInnen der Chancengleichheit. Damit ist sie eine nahe Verwandte des Sozialdarwinismus („Die Besten setzen sich durch, jedeR muss nach Kräften fleißig und innovativ sein. Wer nicht durchkommt war zu schwach/zu dumm/zu faul und ist gerechtermaßen auf der Strecke geblieben“). Dieser wiederum ist die Übertragung nicht nur des evolutionären Prozesses, der auf Überlebensfähigkeit fußt, sondern auch des kapitalistischen Konkurrenzprinzips, auf die soziale Ebene. Auch das ist eine direkte Folge des kleinbürgerlichen Bemühens um soziale und ideologische Stabilität, selbst die Ideen von den anderen Klassen übernommen werden. Das Ideal des Kleinbürgertums ist eine durchlässige Gesellschaft, in der diejenigen aufsteigen, die individuell Großes leisten. Weil Aufstieg mit Besitzstandserweiterung oder zumindest -wahrung einhergeht und nur durch persönliche Leistung erreichbar ist, ist jede Einschränkung persönlicher Freiheit – zum Beispiel durch Enteignung und Vergesellschaftung oder das Aufbürden von Steuern – unattraktiv für das Kleinbürgertum. Die Einschränkung von Monopolisierung und Kartellbildung hingegen dient dem Schutz des Kleinbürgertums. Mit wem sich das Kleinbürgertum politisch zusammentut, hängt von der spezifischen politischen Lage ab. Die Piratenpartei ist eine eher linke kleinbürgerliche Strömung, so wie große Teile der Grünen das lange waren. Allerdings ist auch die Massenbasis des Faschismus das Kleinbürgertum in Sorge um seine soziale Stellung. Das bedeutet nicht, dass es nicht „ehrliche“ Linke unter KleinbürgerInnen geben kann, oder dass das gesamte Kleinbürgertum eine einheitliche Strömung wäre. Das bedeutet auch nicht, dass der einzelne Kleinbürger nicht in der Lage wäre, sich ein eigenes politisches Bild zu machen. Dennoch sind die eigenen Interessen prägend für die politische Positionierung, so dass in der gegebenen historischen Situation bestimmte Tendenzen zu Tage treten.

Piraten und ArbeiterInnen

Das Verhältnis zwischen Arbeiterklasse und Kleinbürgertum ist nicht unveränderlich. Es gibt Momente, in denen das Kleinbürgertum Bündnisse mit der Arbeiterklasse eingeht und deren Forderungen unterstützt, um die eigene Position zu verbessern (das funktioniert auch andersrum). Es gibt andere Momente, in denen große Teile des Kleinbürgertums einen arbeiterfeindlichen Kurs fahren, z.B. indem sie neoliberale Politik unterstützen. Es ist nicht ausgeschlossen, dass ein Bündnis von Linken mit der Piratenpartei unter gegebenen Umständen Sinn macht. Eine hypothetische Möglichkeit wäre, dass sich in Deutschland Teile der #Occupy- und Empörtenbewegungen um die Piraten herum organisieren. Eine solche Entwicklung würde die Piratenpartei für breite Schichten von radikalisierten Jugendlichen attraktiv machen, und in der Situation wäre ein Bündnis denkbar. Es ist auch möglich, dass sich breitere Schichten von unzufriedenen Jugendlichen und auch ArbeiterInnen an den Piraten orientieren und die Partei für einige Zeit an politischem Gewicht zunimmt. Das ist ein Ausdruck der Schwäche der politischen Vertretung der Arbeiterklasse – die LINKE nimmt nicht die Position ein, die sie sollte. Sie ist keine Anlaufstelle für das Protestpotential der Arbeiterklasse und betreibt keine konsequente Politik in ihrem Sinne, stattdessen tritt sie sehr parlamentsorientiert auf. Allerdings gibt es im Moment auch nur wenige Kämpfe der Arbeiterklasse. Sobald es wieder zu mehr Auseinandersetzungen kommt, wird sich die Organisationsfrage neu stellen. Die Piratenpartei kann die Position der notwendigen Massenpartei der Arbeiterklasse nicht übernehmen, außer sie wird von der Arbeiterklasse für die Vertretung ihrer Interessen vereinnahmt und zu einer grundsätzlich anderen Partei hin verändert und. Diese Perspektive erscheint derzeit angesichts des geringen Organisationsinteresses, des mangelnden Klassenbewusstseins und der politischen Verwirrung der Gesellschaft unwahrscheinlich. Diese Verwirrung ist es aber gerade, die eine lose Organisation mit geringem politischen Anpassungsdruck wie die Piratenpartei für eine gewisse Zeit attraktiv machen kann.

Mehr Demokratie wagen?

Gerade die Forderung nach Bürgerbeteiligung und direkter Demokratie wirkt ansprechend auf Viele: Endlich will mal jemand hören, was man für richtig hält. Das Gefühl, dass über den eigenen Kopf entschieden wird, ist im Kapitalismus allgegenwärtig, denn erstens wird über den eigenen Kopf hinweg entschieden, und zweitens geschieht das nach Profitinteressen und nicht nach gesellschaftlichem oder individuellem Bedarf, so dass der Lebensstandard weiter Teile der Bevölkerung ständig sinkt.

Die Piraten sehen das zentrale Problem darin, dass die etablierten Parteien sich nicht dafür interessieren, was die Wählerschaft will. Auch das ist eine verständliche Reaktion mit viel Identifikationspotential.Als Gegenmittel fordern sie mehr Bürgerbeteiligung zum Beispiel durch bindende Volksabstimmungen über wichtige Entscheidungen. Zur Durchführung bieten sich ihrer Ansicht vor Allem internetbasierte Lösungen an. In den vergangenen Jahren ist anhand von Großprojekten, Privatisierungen und Kürzungspaketen immer wieder deutlich geworden, dass nicht im Interesse der Menschen entschieden wird, sondern darüber hinweg. Demokratisch wird das Land von direkten Abstimmungsmechanismen allein jedoch nicht, wenn auch der Wunsch verständlich ist: Erstens sind Onlineabstimmungen nicht fälschungssicher, außer man führt Kontrollmechanismen wie elektronisch lesbare Personalausweise ein (und auch dann ist die freie Wahl nicht gewährleistet). Zweitens geschieht Meinungsfindung nicht objektiv und unabhängig, sondern wird am stärksten von denjenigen beeinflusst, die die größte Präsenz oder Autorität haben und die meiste Werbung und Aufklärung in ihrem Sinne machen können. Zwar hat das Internet einen Beitrag zur Demokratisierung der Meinungsfindung geleistet. Trotzdem haben bürgerliche Medien – z.B. die Zeitungswebseiten – eine höhere Autorität gegenüber kleineren Seiten und Blogs. Bürgerliche Medien werden mit viel Geld im Interesse der Herrschenden gemacht. Wer am lautesten schreien kann, wird am ehesten gehört. Auch wenn die Piraten die Förderung der internetbasierten Selbstbestimmung fordern, wird das nicht die Macht der großen Medien brechen. Eine Demokratisierung erreicht man nur durch Einbeziehung in den Diskussionsprozess, nicht durch die Einladung zur Abstimmung allein. Der Bedarf nach Demokratisierung, den die Partei ausdrückt, ist im Kapitalismus aber auch nicht zu decken. Wertungsfreie Information ist nicht vor dem Hintergrund von Kapitalinteressen denkbar. Whistleblowing allein kann dem wenig entgegensetzen, denn es sind nicht einzelne „böse“ Kapitalisten, die Probleme durch Fehl- oder Unterinformationen oder blanke Lügen versursachen. Es ist ein System, das nicht auf gesellschaftliche, sondern auf Profitinteressen setzt.

Das Ding mit der eigenen Nase

Die Struktur der Piraten ist nicht demokratischer als die jeder anderen Partei, mit dem einzigen Unterschied, dass keine Delegierten gewählt werden, sondern jedes Mitglied bei Parteitagen stimmberechtigt ist. In innerparteilichen Online-Debatten darf Jede und Jeder kommentieren und „liken“. Dass sie darin den Inbegriff der Demokratie entdeckt haben wollen, ist angesichts der sonstigen Satzung erstaunlich: Es ist kein Fraktionsrecht vorgesehen, Bundesvorstandsmitglieder bleiben ein Jahr im Amt und sind nicht zuvor abwählbar. Ein Bundesparteitag kann nicht auf Wunsch eines Anteils der Mitglieder einberufen werden. Mandatsträger erhalten keine Auflagen wie etwa Rechenschaftspflicht oder eine Beschränkung ihres Gehalts auf eine bestimmte Summe, was ein Abheben von der Basis verhindern könnte. Es dürfte den Bürgerlichen im Parlament leicht fallen, PiratInnen einzukaufen und sie von ihrer Basis zu entfernen, denn was sie Demokratie nennen ist bestenfalls Transparenz durch nachträgliche Dokumentation – aber selbst dann hätte der einzelne Pirat vier oder fünf Jahre pro Legislaturperiode Zeit, (transparente) Entscheidungen gegen den Willen seiner Wählerschaft zu fällen, zumal Videoschaltungen und Onlineabstimmungen bei Parlamentssitzungen rechtlich ausgeschlossen sind.

Politik wird immer noch auf der Straße gemacht

Was die Piratenpartei nicht versteht ist die Welt außerhalb des Internets. Politik ist ein Machtkampf zwischen verschiedenen Interessen, nicht der Versuch, die Gesellschaft möglichst effizient zu verwalten. Ein solches System, basierend auf geplanter Wirtschaft, unter Kontrolle über die Produktionsmittel mit Mehrheits- und Delegiertenabstimmungen auf allen Ebenen, beispielsweise in Stadtteil-, Betriebs-, Schulräten und so weiter, wäre eine sozialistische Demokratie. Politiker der etablierten Parteien sind nicht einfach die falschen Fachleute auf ihrem Gebiet, deren Wissen man sich nur ergoogeln muss, damit man es besser machen kann – sie sind Vertreter der Kapitalinteressen. Entweder, weil sie selbst zur Klasse gehören, oder weil sie eingekauft wurden, oder weil sie darauf hoffen, den Klassensprung zu schaffen. Wenn man nicht genauso zum Vertreter der Kapitalinteressen werden will, muss man sich eindeutig gegen Korrumpierungsversuche positionieren. Dafür ist ein Klassenstandpunkt nötig, denn das eigene Korrumpiert-Werden ist leicht mit Aufstieg durch persönliches Engagement zu verwechseln. Wenn man sich nicht von Anfang an gegen das Losreißen von der Gruppe, die man vertritt, wehrt, indem man nur ein durchschnittliches Gehalt annimmt und Boni und kleine Geschenke wie kostenlose Flüge oder Einladungen in Edelhotels nicht annimmt. Wer keinen Klassenstandpunkt bezieht, kann nicht argumentieren, warum er oder sie anders werden soll, als die, die schon oben sind.

Parteien wurden als Instrumente zur Vertretung der Interessen der eigenen Gruppe entwickelt, nicht als lose Ansammlung möglichst individueller Individuen, die jederzeit ihre Meinung und Position ändern können. Das ganze Konzept von Organisation basiert auf der Einsicht, dass man als Einzelner weniger erreicht als in einer Gruppe, die geschlossen die eigene Position vertritt. Das müssten auch diejenigen verstehen, die in die Piratenpartei eingetreten sind. Was nützt eine Onlineabstimmung über die Erhöhung von Löhnen oder die Verkürzung von Arbeitszeit? Welcher Arbeitgeber fügt sich dem Willen seiner Beschäftigten, nur, weil sie eine Mehrheit sind? Ein bindendes Abstimmungssystem sehen die Piraten nur auf kommunal-verwaltender oder stadtpolitischer Ebene vor. Auch dort schon wird es auf keinen Fall widerstandsfrei durchgesetzt werden. Auf der privaten Wirtschaftsebene ist die Einführung eines bindenden Systems dieser Art nicht möglich, ohne dass enormer politischer Druck durch massive Kämpfe und Kampfbereitschaft der Arbeiterklasse aufgebaut wird. In einer solchen Situation wären aber nicht die Piraten das Zentrum, sondern eine Massenpartei mit antikapitalistischem Programm.

Der Kapitalismus ist ein System der Unterdrückung der Mehrheit durch eine besitzende Minderheit, die kein Interesse an den Entscheidungen der Mehrheit hat. Das bedeutet notwendigerweise, dass diese Minderheit dem Willen der Mehrheit zuwider handelt, solange kein starker politischer oder ökonomischer Druck sie zum Gegenteil zwingt. Zwar können Bewegungen die neuen technischen Möglichkeiten nutzen, Proteste und Revolutionen finden dennoch auf echten Straßen mit echter Repression statt.

Wir haben die Fragen…

Wer will, dass alle Menschen frei, gleich und von Profitinteressen befreit unter open-source-Bedingungen leben, muss für die Abschaffung des Kapitalismus kämpfen. Er oder sie muss kämpfen, weil der Kapitalismus sich nicht einfach totläuft und die herrschende Klasse an ihrer Position festhält. Um sie zu stürzen braucht es kampfstarker und massenbasierter Organisationen: Sozialistischer, demokratischer Arbeiterparteien weltweit und kämpferischer Gewerkschaften, die die Interessen der Arbeiterklasse gegen die Kapitalistenklasse durchsetzen. Die Suche der Piraten nach Antworten auf die drängenden Fragen der Menschheit ist historisch längst beendet: Die Geschichte der Arbeiterbewegung hätte sie ihnen geben können. Jedoch ist der Innovationszwang des Kleinbürgertums und sein Versuch, sich nicht anti- oder prokapitalistisch zu positionieren klassenbedingt und damit natürlich – Sie werden daher nicht auf diese Antworten zurückgreifen können. Sie versuchen, eine Abkürzung zu nehmen, indem sie die Einbeziehung Aller fordern, ohne den Konflikt mit der herrschenden Klasse einzugehen. Diese Abkürzung führt leider ins Leere.

Die Piratenpartei saugt ein gewisses Protestpotential auf, sie zeigt, dass die Arroganz der hochbezahlten Politiker nicht mehr als selbstverständlich hingenommen wird, und dass Teilhabe und Mitsprache gerade von Menschen unter 45 eingefordert wird. Das Erstarken der Piraten ist aber vor Allem ein Ausdruck der Schwäche der Organisationen der Arbeiterklasse. Weil die LINKE und die Gewerkschaftsführungen nicht den Protestkurs fahren, der notwendig wäre, weil es keine starke Kraft gibt, die gegen Überwachungsstaat und für persönliche Freiheit auf Basis der materiellen Gleichstellung – also gegen Kapitalismus – auftritt, sammelt sich bei den Piraten Potential, das eigentlich dort nicht hingehört. Charakter und Wahrnehmung der Partei sind dabei sehr verschieden. Ihr jugendliches Image und die Internetfrage sind dabei nur eine Teilerklärung des Phänomens.

Ihr Aufstieg ist aber keine positive Entwicklung im Sinne des Klassenkampfes. Es ist gut möglich, dass die Partei für eine gewisse Zeit ein Sammelbecken für Leute bleibt, die frustriert und genervt sind von den Auswirkungen des krisendurchschüttelten Kapitalismus. Sie hat jedoch kein Potential, echte Veränderungen zu erkämpfen. Sie verwirrt mehr, als sie aufklärt, indem sie das alte Lied von der Individualität singt, statt ein neues von der Solidarität der „99%“ der Bevölkerung anzustimmen.