Kunst, Vandalismus, Protest?

Graffiti und Streetart – Spiegel einer Gesellschaft


 

Es sind Porträts, Silhouetten, Figuren, riesige bunte Schriftzüge. Sie sind auf Hauswänden, Straßen, Zügen, Toiletten. Mal versteckt, mal riesig oder fast schon penetrant. Ich spreche nicht von Werbung, denn es ist illegal, wird hart bestraft und immer wieder als Vorwand benutzt, um Überwachung und Datenspeicherung auszubauen. Ich spreche von Streetart und Graffiti.

von Nico Rother, Berlin

Mit der Behauptung, Streetart sei stets Vandalismus, der unbedingt bekämpft werden müsse, werden steigende Miet- und Fahrkartenpreise begründet. So gab die Bahn 2008 an, allein an Berliner S-Bahnen für sieben Millionen Euro Graffiti entfernt zu haben. Es werden an allen Ecken Kameras angebaut. Und es gibt bei der Polizei sogar eine Sprayer-Kartei, in der jeder Künstler mit Foto und Fingerabdruck gespeichert wird. Diesem Vorwand zur Überwachung der Bevölkerung müssen wir entgegentreten, denn Kameras gegen Sprayer heute sind Kameras gegen kämpfende Arbeiter morgen.

Kunst ohne Leinwand, Sockel oder Rahmen?

Es gibt klare Unterschiede in Form und Charakter zwischen dem klassischen Graffiti und der neueren Streetart, auf die ich hier fast gar nicht eingehen kann. Allgemein behandle ich Streetart hier als das Bemalen, Bekleben und Umgestalten von Stadtmöbeln, Wänden, Zügen oder Mauern mittels Spraydosen, Schablonen, Postern, Figuren oder Installationen. Damit meine ich jede Art von Graffiti oder ähnlichem, die auf der Straße von jeder und jedem gemacht werden kann und für jede und jeden frei zugänglich ist. Sie greift oft kulturelle, soziale oder politische Themen auf. Um zu verstehen, warum Menschen Streetart-Künstler werden, und um zu verstehen, wie wir damit umgehen sollten, ist es wichtig, einen Blick darauf zu werfen, von wem Streetart gemacht wurde und gemacht wird.

Alles ungezogene Kids?

Die meisten Streetart-KünstlerInnen fangen in der Regel mit zwölf bis 13 Jahren an. Circa 95 Prozent aller Maler sind Männer, nur fünf Prozent, und meist wenig bekannt, sind Frauen. Streetart hat sich ungefähr in den letzten zehn Jahren aus dem klassischen Graffiti/Stylewriting (also dem bunten, möglichst aufwendigen Gestalten von Buchstaben) herausgebildet – aus dem Bedürfnis heraus, mehr Intention in die Werke zu bringen. Sie richtet sich gegen sterile Kunst in teuren Ateliers, gegen Gentrifizierung, gegen die Entfremdung vom eigenen Lebensumfeld. Streetart gibt dem Künstler die Möglichkeit, Protest zu äußern und Parolen oder Forderungen pointiert zu manifestieren. Außerdem ist sie weitaus schneller und flexibler auszuüben, was angesichts des stetig gestiegenen Strafmaßes und der enormen Überwachung von größerer Bedeutung wurde.

Schön und gut – aber meine Hauswand?

Im Kunst-Unterricht in der Schule können SchülerInnen sich oft nicht ausleben. Wie in den meisten Fächern können sie sich nicht mit dem beschäftigen, was sie interessiert. Durch ständige Schließungen von Jugendclubs, Skate und Graffiti Halls wird Jugendlichen immer mehr die Möglichkeit genommen, ihren Interessen nachzugehen, sich auszuprobieren und sich mitzuteilen. Jugendkultur wird immer mehr verdrängt, viele werden so auf die Straßen gezwungen, was Frust schafft.

Unter dem Motto "Reclaim your City" kann diesem Frust durch wildes Malen, Skretching (das Zerkratzen von glatten Oberflächen) oder Tagging (Anbringen von Namen) Luft gemacht werden. Der Adrenalinkick und der sportliche Charakter des Malens bieten dazu einen Ausgleich zum schnöden und stupiden Schul-, Uni- oder Arbeitsalltag vieler Menschen. Wer gut oder spektakulär malt, wird in der Szene geschätzt. Ähnlich wie bei Musikern oder anderen Künstlern ist Respekt und Anerkennung der beste Lohn.

Voll Anarcho?!

Woher nehmen sich Streetart-Künstler das Recht, über das Aussehen meines Kiezes oder des S-Bahn-Waggons zu entscheiden? Die wahren Vandalen sind die, die uns Cyber-Bahnhöfe in unsere Parks setzen, unsere Flussufer mit Bürogebäuden verbauen und ein einfarbiges Luxuswohnhaus nach dem anderen irgendwo hinquetschen, die Stadt mit (sexistischer) Werbung bombardieren und gleichzeitig verhindern, dass alte graue Gebäude bemalt, umgestaltet oder bewohnt werden. Wenn niemand das Recht hat, über sein Umfeld zu entscheiden, dann muss sich dieses Recht genommen werden.

Wessen Stadt?

Abgesehen von Pkw und Einfamilienhäusern macht Streetart keinen Halt vor Eigentum. Wenn man sich dessen bewusst ist, wird auch klar, wieso Ersttäter für ein winziges Tag gerne mal 2.000 Euro zahlen müssen. Hausbesuche, DNA-Tests und Computerbeschlagnahmungen sind Normalität. Weil Eigentum Heiligtum im Kapitalismus ist, wird mit aller Macht gegen Streetart vorgegangen.

Wir setzen dem eine demokratische Entscheidung der AnwohnerInnen, ArbeiterInnen und KünstlerInnen darüber, wie der Block, der Kiez und die Stadt auszusehen haben, entgegen. Außerdem ist es wichtig, dass Jugendclubs und Jugendtreffpunkte ausgebaut werden. Unter kostenloser Bereitstellung sämtlicher Materialien sollte jede und jeder dort machen können, was ihr oder ihm gefällt. Egal ob Musik, Sport oder Graffiti. Überwachung und Bespitzelung müssen beendet werden! Und mal ganz ehrlich: Wäre es nicht eine totale Bereicherung des Stadtbildes und Verkehrs, jedes Mal einen anders aussehenden Zug zu sehen?