Portugal 15 Oktober: Die Demokratie geht auf die Straße

von den Acampadas zur 15O Bewegung


 

von Anne Engelhardt, derzeit in Lissabon

Genau wie in Spanien, Griechenland und Israel gab es auch in Portugal in einigen Städten „acampadas“ – Protestcamps in den Innenstädten. Zwar erreichten sie nicht die Größe und breite Unterstützung aus der Gesellschaft, wie das in anderen Ländern zu sehen war. Trotzdem war die Wirkung, die die Bewegung auf eine neue Schicht von AktivistInnen ausübte, enorm. In Lissabon wuchs das Protestcamp im Sommer innerhalb weniger Tage von 12 auf immerhin 500 TeilnehmerInnen an.

Viele der AktivistInnen waren am 12. März bei der „Geração a Rasca“ („Generation am Abgrund“ oder „in der Klemme“) Demo von 200.000 Menschen in Lissabon gewesen, die von vier Leuten über Facebook organisiert worden war. Sie waren seit der Demo inspiriert, wollten „das System verändern“. Nachdem jedoch die Regierung Ende März zurückgetreten war, ließen die Proteste schlagartig nach.

Erst im Mai/Juni, kam es angestiftet von SpanierInnen, die in Portugal Urlaub machten oder studierten, erneut zu Protesten und Demos vor der spanischen Botschaft in Solidarität mit den Brüdern und Schwestern der Indignados Bewegungen. Schnell wurde auch in Portugal beschlossen Plätze zu besetzen. Die Infrastruktur der Besetzung in Lissabon beinhaltete eine Küche und eine Bibliothek für alle. Es wurde viel diskutiert und unterschiedliche Überlegungen angestellt, wie sich die Bewegung ausweiten ließe.

Eine Aktivistin berichtete, dass sie in den 12 Tagen in denen sie auf dem Rossio (Platz im Zentrum Lissabons) übernachtete, so viel geredet habe, wie sonst in ihrem ganzen Leben nicht. Viele hatten zufällig von der Besetzung erfahren. Beim Vorbeigehen waren sie auf das kleine Camp gestoßen, sofort wurden Schlafsack und Isomatte besorgt, es wurde dageblieben und mitdiskutiert.

Was all die unabhängigen AktivistInnen eint, ist der seit den Acampadas ungebrochene Wille zu handeln, das System abzuschaffen, eine Revolution herbeizuführen. Ein Acampadas Aktivist schrieb dazu in einer Mail auf der Liste der 15O OrganisatorInnen: „Ich träumte vom Anfang des Endes dieses Frankensteins, welcher sich Kapitalismus nennt.“

Was sie ebenfalls eint, ist die scharfe, erbarmungslos kritische Auseinandersetzung mit allen Ideen der ArbeiterInnenbewegung: von der Frage „links“ zu sein über die Infragestellung von Parteien und Strukturen bis zum Sozialismus. Obwohl sie im Kern ihrer Vorstellungen genau diesen Sozialismus herbeisehnen: Eine demokratische Gesellschaft, von unten nach oben organisiert, in welcher die Menschen und nicht die Profite im Mittelpunkt stehen und weder Habgier, noch Selbstsucht, noch Intoleranz akzeptiert werden. Zudem eint sie, dass sie sich von einigen Organisierten geprellt fühlen, wütend sind auf einige Organisationen und Parteien wie Linksblock die auf den Camps versuchten demokratische Entscheidungen zu untergraben und antikapitalistische Positionen zu verwässern.

Als sich das Camp im August auflöste, bedeutete das für viele nicht den Abschied für immer, sondern sie warten ab bis der Zeitpunkt kommt den öffentlichen Raum für Protest, Demokratie und Systemkritik erneut zu erobern. Die Demonstrationen am 15. Oktober (15O) in mehreren Städten Portugals und die geplanten Aktionen danach, bieten diese Möglichkeit. Die „acampadas“ sind wieder aktiv geworden. Nächtliche Plakatieraktionen werden begleitet von intensiven Diskussionen über die russische Revolution, den Spanischen Bürgerkrieg, die Rolle Durrutis, die Rolle der Frau in der Gesellschaft, konkrete Formen direkter Demokratie, Frankreich 68, Parteien ja oder nein und so weiter. Bis morgens um 6 wird jede Nacht in und um Lissabon mobilisiert und diskutiert, immer wieder durchzogen von neuen Nachrichten zu Wall Street, Israel, Griechenland …

Die Versammlung der 15O Bewegung in Lissabon sind ebenfalls gut besucht. Bei der letzten ganztägigen Debatte zu Forderungen und zur Demonstration selbst, waren über 50 Leute anwesend.

Doch die Diskussionen sind durchzogen von Streitigkeiten zwischen einigen der langjährigen AktivistInnen und „Neuen“. Die ersteren können und wollen die Ablehnung von Gewerkschaften und Parteien nicht nachvollziehen, sind aber auch nicht bereit die unterschiedlichen Positionen geduldig zu diskutieren und reagieren oft mit Arroganz und Überheblichkeit. Gleichzeitig sind es auch die Leute von Linksblock und anderen eher unklar antikapitalistischen Kräften, die immer wieder versuchen in den Medien das Gesicht der Bewegung zu prägen, Absprachen aus den Treffen zu torpedieren und den Rhythmus der Bewegung auszubremsen, um diese leichter kontrollieren zu können.

Nichts zu verlieren außer die Perspektivlosigkeit

Viele von den neuen AktivistInnen sind prekär beschäftigt oder arbeitslos. Eine beeindruckende Aktivistin erzählt mir, dass sie in ihrem letzten Job immerhin 700 Euro verdient hatte. 2,50 Euro die Stunde. Ich kann das nicht fassen und frage entsetzt die anderen wie viel sie verdienen – reihum nur bestätigendes Nicken: 2,60 Euro im Zooladen, 3,50 Euro im Café, 1,20 Euro im Call Center. Oder gar keinen Job finden und das dringende Bedürfnis auszuwandern und wenigstens irgendwo anders all das Wissen, dass man sich in der Uni angeeignet hat, die einige von ihnen mit hohen Auszeichnungen verlassen haben, anwenden zu können und die hohen Schulden, die sie durch die Studiengebühren aufgetürmt haben, abzahlen zu können.

Fast alle sind sie gezwungen, noch bei ihren Eltern zu leben und sich von ihnen aushalten zu lassen. Viele sind depressiv, zu oft höre ich den Satz „manchmal wache ich auf und denke: Oh Gott ich bin immer noch da“. Zu diesen Arbeits- und Lebensbedingungen kommen die massiven Angriffe der Regierung, die sie im Namen der Troika (IWF – Internationalem Währungsfond, WTO – Welthandelsorganisation und EZB – Europäische Zentralbank) durchzieht, doch vor allem nutzt, um selbst die Ausbeutungsbedingungen für die portugiesische herrschende Klasse zu verbessern. Schulen werden geschlossen, die Preise für öffentlichen Personennahverkehr sind im September um 15 % gestiegen und sollen im neuen Jahr erneut massiv steigen. Der Kündigungsschutz und das Recht auf Abfindungen ist beschnitten worden, Renten um 5% gekürzt, die Mehrwertsteuer auf Wasser, Gas und Strom im Oktober von 6% auf 23% gestiegen, die Liste ist noch weitaus länger.

Die Blockade der Gewerkschaftsbürokratie aufbrechen

Der Gewerkschaftsdachverband CGTP reagiert ohnmächtig. Bis auf eine nationale Demo am 1. Oktober, die mehr einem Trauermarsch als einer kämpferischen Protestdemo glich und ein paar symbolischen Miniprotesten haben die Gewerkschaften bisher keinen Widerstand organisiert.

Für die Woche vom 20-27. Oktober ist immerhin eine Streik- und Protestwoche angekündigt. Viele der 15O AktivistInnen in Lissabon wollen die Zeit nutzen, die Brücke zu GewerkschaftsaktivistInnen zu schlagen und sie – sollte es am 15 Oktober wieder längere Besetzungen geben – zu den Camps einzuladen und sie bei den öffentlichen Versammlungen auf denen jeder und jede das Recht hat seine / ihre Meinung zu sagen und Vorschläge zu unterbreiten, reden zu lassen und den Protest gemeinsam auszuweiten. Die Überlegung ist auch an die CGTP zu appellieren zu einem weiteren Generalstreik aufzurufen.

Doch im Moment setzt die CGTP Führung alles daran, die 15O Bewegung entweder zu ignorieren oder sie schlecht zu reden. Auch sie wissen: die 15O Bewegung kann genau der Initialzünder sein, der die bürokratischen und verstaubten Führungsschichten der Gewerkschaften, die derzeit ein enormes Hindernis zur Entwicklung von Massenprotesten darstellen, wegzuschieben und für unabhängige und demokratische Strukturen auch unter den Beschäftigten und GewerkschaftsaktivistInnen zu kämpfen.

Ein klares antikapitalistisches Programm ist notwendig

Die SAV-Schwesterorganisation Socialismo Revolutionário spielt derzeit eine entscheidende Rolle diese Brücke zwischen 15O und den Gewerkschaften zu schlagen und auch darum zu kämpfen, dass das Vertrauen der AktivistInnen in demokratische, politische Strukturen wieder hergestellt wird, indem wir mit ihnen gemeinsam in der Bewegung darum kämpfen.

Trotz unserer geringen Kräfte gelingt es uns, die Erfahrungen unserer Internationale und den Traditionen der revolutionären Arbeiterbewegung für die Bewegung in Portugal nutzbar zu machen.

Denn auch im Moment ist die Gefahr erneut groß, dass der Protest von einigen Kräften nur als Profilierungssprungbrett genutzt wird. Gerade nachdem Linksblock (Bloco Esquerda) in den letzten Wahlen die Hälfte der Stimmen verloren hat, setzt die Führung massiv daran, den Protest als ihren eignen auszugeben und als Tribüne zur eigenen Profilierung zu missbrauchen. Ihre Ideen sind jedoch enorm begrenzt. So fordern die Kräfte mit verwässtertem antikapitalistischen Profil in Lissabon „Weg mit der Troika“ und ignorieren dabei, dass auch in Portugal die landeseigene kapitalistische Klasse ein Interesse daran hat, die Lohnabhängigen auszupressen. Wir fordern gemeinsam mit unabhängigen AktivistInnen: „Schluss mit der Diktatur der Märkte“ und „Wir sind keine Spielzeuge in der Hand der Märkte“.

Sie fordern eine „Neuverhandlung der Schulden“, wir fordern: „Wir zahlen die Schulden nicht! – Verstaatlichung der Banken!“ In dem Manifest zur Demo in Porto, der zweitgrößten Stadt Portugals, wo die politisch nicht eindeutig antikapitalistischen Kräfte nicht so stark sind, ist genau diese weitgehende Forderung auch Teil des Aufrufs geworden. In Lissabon weigern sich die verwaschenen SystemkritikerInnen, das Manifest für weitergehende Vorschläge bis zum 15. Oktober zu öffnen, man könne ja „danach weiter diskutieren“.

Wenn es nach ihnen ginge, würde nach dem 15. Oktober erst am 3. Dezember die nächste Demo stattfinden. Wir fordern, dass sofort nach der Demo die Besetzungen beginnen und die Woche danach genutzt wird um für eine weitere große Besetzung am Wochenende zu mobilisieren. Für den Tag, an dem die Gewerkschaftsaktionen beginnen, rufen wir zu einem Flasmob vor der portugiesischen Börse auf. Die kommenden Wochen müssen genutzt werden, um die Brücke zu den Gewerkschaften zu schlagen und mit den Beschäftigten gemeinsam eine neue Demonstration auf die Beine zu stellen. All unsere Vorschläge wurden bei den Vorbereitungstreffen mehrheitlich angenommen und werden am 15. Oktober auf der öffentlichen Versammlung nach der Demonstration vorgestellt und von allen Anwesenden, demokratisch diskutiert und abgestimmt werden. Darüber hinaus wurde auch der Vorschlag angenommen, für einen Generalstreik zu appellieren. Und natürlich sind wir gespannt auf die Vorschläge, die neue AktivistInnen auf der Versammlung unterbreiten werden.

Die neu entstehende Bewegung hat großes Potential, die Kräfte, die versuchen die Bewegung zu kontrollieren und zu blockieren, wegzuspülen. Wir werden gemeinsam mit anderen darum kämpfen, dass alle „alten“ und „neuen“ AntikapitalistInnen, RevolutionärInnen und SozialistInnen der Raum haben, gemeinsam gegen den Kapitalismus und für eine demokratische Gesellschaft frei von Unterdrückung und Ausbeutung zu kämpfen. Viva 15 O!