Nach den Parlamentswahlen in der Türkei

Fast 50 Prozent für die AKP. Überraschunsgerfolg für die kurdische BDP.


 

Vorbemerkung:

Nach Abgabe dieses Artikels hat der hohe Wahlrat der Türkei, YSK, dem führenden kurdischen Abgeordnete Hatip Dicle sein Mandat aberkannt. Die Abgeordneten des Wahlblocks der kurdischen BDP und einiger SozialistInnen haben sich daraufhin für einen Parlamentsboykott entschieden. Dies führt jetzt zu einer größeren Auseinandersetzung. Einen Bericht dazu gibt es in der jungen Welt .

Bei den türkischen Parlamentswahlen am 12. Juni bekam die konservativ-islamische AKP fast 50 Prozent der abgegebenen Stimmen. Damit wurde der stärksten Vertreterin der neoliberalen Politik zum dritten Mal in Folge eine Alleinregierung ermöglicht. Ein Bündnis rund um die kurdische Partei BDP und einigen türkischen SozialistInnen hatte unabhängige KandidatInnen aufgestellt und einen sehr gutes Wahlergebnis erreicht. 36 KandidatInnen gelang der Sprung ins türkische Parlament. Sechs von ihnen sind sogar noch im Gefängnis und müssen nun freigelassen werden.

von Nihat Boyraz, Bremen

Die AKP kam das erste Mal vor neun Jahren in einer wirtschaftlichen Aufschwungphase an die Macht. Damals wollten die Kapitalisten ihre Krise von 2001 auf Kosten der Arbeiterklasse überwinden. Der einseitige Waffenstillstand seitens der PKK sowie eine relative Stabilität im Land begünstigten die AKP. Die Diskussionen um EU –Beitritt, die Haltung gegen die Militärbürokratie und die kleinen Reformen, bei der kurdischen Frage, hatten der AKP ein fortschrittliches Image in den Augen großer Teile der Bevölkerung verliehen. Die kemalistische Oppositionspartei CHP, die als Status-Quo- Partei gesehen wird, stellte sich ganz offen auf die Seite des Militärs.

Wie sieht die Türkei heute aus?

Auf der einen Seite sieht man die Entstehung eine neuen sich schnell bereichernden Bourgeoisie. Auf der anderen Seite sieht man Arbeitslosigkeit, schlechte und unsichere Arbeitsbedingungen, Leiharbeit, Hungerlöhne; Jugendliche ohne Perspektiven und Arme, die immer ärmer werden.

Als die türkische Wirtschaft in Folge der Finanzkrise enorm geschrumpft war (2002-2007: +7%; 2008: + 0,7 %; 2009: -4,7%), hatte die AKP bei den Kommunalwahlen 2009 nur noch 39% bekommen (2007: 47%). Folge der Krise war nicht nur, dass Erdoğans Partei acht Punkte bei den Wahlen verloren hatte; es entwickelten sich auch Arbeitskämpfe, wie der bedeutsame Tekel-Streik.

Weil es keine sichtbare politische Kraft mit einem klaren Programm gibt, mit dem die Interessen der ArbeiterInnen und Erwerbslosen verteidigt werden und keine Alternative zu den bestehenden Verhältnissen aufgezeigt wird, wählt ein großer Teil der Menschen weiterhin die AKP. Das ist verbunden mit der Hoffnung, dass vielleicht durch den jetzigen Aufschwung (2010: + 8,9%) die Probleme gelöst werden könnten.

Das Ziel von Erdoğan

Dass Erdoğans AKP die Wahlen haushoch gewinnen würde, war schon von Anfang an unumstritten. Die AKP hat ihre Macht mit einer Verfassungsänderung im letzten Jahr weiter ausgebaut. Dadurch verfügt sie heute über mehr Einfluss auf die Gerichte und andere Institutionen. Die AKP will ihre Macht mit einer neuen Verfassung weiter festigen. Erdoğan strebt ein Präsidialsystem an. Im Wahlkampf versuchte die AKP alles, um die für eine Verfassungsänderung notwendigen 330 Sitze im Parlament zu erreichen. Vor allem versuchte Erdoğan, mit einer nationalistischen Rhetorik die Stimmen von der ultranationalistischen Partei MHP zu bekommen. Wäre die MHP an der Zehn-Prozent-Wahlhürde gescheitert, wäre es für die AKP leichter geworden. Sie hat jetzt nur 326 Sitze in Parlament und ruft nach Versöhnung und Zusammenarbeit aller Parteien an der neuen Verfassung. Es ist aber nicht ausgeschlossen, das sie weiterhin versucht, die fehlende vier, fünf Sitze dadurch zu bekommen, dass sie Abgeordnete der MHP abwirbt und für die AKP gewinnt. Das würde weitere Spannungen zwischen beiden Parteien bedeuten und gleichzeitig die nationalistische Haltung der AKP verstärken.

Die CHP und ihre Niederlage

Die kemalistische CHP gilt als sozialdemokratische Partei und ist auch Mitglied in der s.g. Sozialistischen Internationale (SI). Ihre chauvinistisch und pro-militärische Politik in den letzten Jahren ging so weit, dass sogar die SI darüber nachgedacht hatte sie auszuschließen. Vor einem Jahr folgte auf skandalöse Sex-Enthüllungen auf Youtube ein Führungswechsel in der Partei. Der neue Vorsitzende Kemal Kılıçdaroğlu sollte der Partei wieder ein neues Image geben. Seit einem Jahr versucht sich die CHP als Partei für soziale Gerechtigkeit zu profilieren. Aber ihr pro-kapitalistisches Programm und ihre Politik überzeugte die Menschen nicht. Es gibt keinen Grund für die Leute, die CHP zu wählen. Wenn es um die Verwaltung des System geht, ist man bei der AKP genauso gut aufgehoben. Daher das schlechte Wahlergebnis von 26 Prozent. Für eine Partei, die den türkischen Staat jahrzehntelang beherrschte, ist das eine schwere Niederlage. Trotzdem ist zu erwarten, dass ein Teil der Kapitalistenklasse weiterhin die CHP unterstützt, um ein zweites Standbein und Gegengewicht gegenüber der AKP aufrecht zu erhalten.

Wahlblock für Arbeit, Demokratie und Freiheit

Die Zehn-Prozent-Hürde in der Türkei wurde nach dem Militärputsch von 1980 in die Verfassung aufgenommen. Diese wurde bis jetzt nicht geändert, vor allem um den Einzug der kurdischen Parteien ins Parlament unmöglich zu machen. Weil die kurdische Partei BDP im Westen der Türkei keine Chance hat, kann sie Türkei-weit die zehn Prozent nicht erreichen. Deshalb ist sie schon bei den vorigen Parlamentswahlen mit einzelnen „unabhängigen“ KandidatInnen angetreten. Trotz dieser sehr mühsamen und schwierigen Methode konnten sie während der letzten Legislaturperiode mit zwanzig Abgeordneten eine Fraktion bilden. Dieses Mal ist es der BDP und linken Kräften gelungen, mit türkischen SozialistInnen ein breiteres Wahlbündnis zu bilden. So hat es der Block geschafft mit 36 Gewählten ein gutes Ergebnis zu erreichen. Hinter diesem großen Erfolg steht zweifellos die großartige Entschlossenheit und das hohe politische Bewusstsein bei kurdischen Jugendlichen, Frauen und Männern. Es war nicht nur die passive Unterstützung mit Stimmabgabe, sondern eine politische Bewegung mit Demos, Aktionen, Protesten. Schon vor den Wahlen, als die Wahlbehörde versuchte, die Kandidatur vieler prominenter kurdischer Politiker nicht zuzulassen, gingen die Menschen massenhaft auf die Straße. Nach heftigem Widerstand musste die Wahlbehörde ihre (zuvor noch „endgültige“!) Endscheidung zurücknehmen.

Wie weiter zu einer neuen linken Arbeiterpartei?

Während sich die Bewegung in Kurdistan in den letzten zehn Jahren verbreitert und einen Massencharakter bekommen hat, ist die Linke im Westen der Türkei sehr zersplittert und klein. Seit langem wird unter machen Linken und KurdInnen über die Einheit der kurdischen Bewegung mit verschiedenen türkischen sozialistischen Kräften diskutiert. Der Streik der Tekel-Arbeiter war ein sehr gutes Beispiel für Klasseneinheit und hat gezeigt, was für eine enorme Kraft entstehen könnte. In dem Zusammenhang wird jetzt die Frage aufgeworfen, ob es auf der der Basis dieses Wahlerfolges möglich ist, die Idee eine Dachpartei zu konkretisieren. Bist jetzt gibt es Gespräche über die Zusammenarbeit verschiedener linker Gruppen mit der BDP. Da zwanzig Abgeordnete für eine Fraktion ausreichen, wird über die Gründung eines sozialistischen Abgeordnetenblocks nachgedacht. Nach den großen Streiks der letzten Jahre und den machtvollen Demonstrationen am 1. Mai drängt sich die Frage einer neuen linken Arbeiterpartei auf. Jeder Schritt in diese Richtung ist begrüßenswert! Eine solche Partei muss aber mehr sein, als nur ein Dach für Kooperation oder Verschmelzung verschiedener linker Gruppen. Dieses Modell ist in Form der ÖDP bereits gescheitert und kaum attraktiv für kurdische und türkische ArbeitnehmerInnen. Neben einer konkreten Absprache ist eine Orientierung auf die bestehenden Klassenkämpfe und die Integration kämpferischer GewerkschafterInnen besonders wichtig. Die neu gewonnenen Mandate im Parlament können dafür genutzt werden und eine wichtige Rolle spielen.

Klar ist: Neue Angriffe der Erdoğan-Regierung im Interesse des Kapitals auf die Arbeiter und Jugendliche werden kommen. Der Wahlerfolg der BDP wird außerdem viele kurdische AktivistInnen beflügeln.

Eine neue Partei mit einem klarem sozialistischen Programm, und der Verteidigung aller demokratischen und kulturellen Rechte der Kurden – inklusive dem Selbstbestimmungsrecht bis hin zu einem eigenständigen Staat – wäre da ein großer Fortschritt. Wenn darüber hinaus sicher gestellt ist, dass sich diese neue Kraft auf Kämpfe wie den Tekel-Streik stützt, und sie versucht, mit Massendemonstrationen und Streiks die Rechte der ArbeiterInnen und Jugendlichen zu verteidigen, könnte sich in den nächsten Monaten eine neue linke Alternative entwickeln. Neben den Gesprächen zur Zusammenarbeit sollte eine offene Konferenz für eine neue Arbeiterpartei, bei der die nächsten Schritte beratschlagt werden, einberufen werden. Aufgrund der Kämpfe der letzten Jahre würde der Vorschlag für eine solche Konferenz großen Widerhall unter türkischen und kurdischen ArbeiterInnen, GewerkschafterInnen und sozialen AktivistInnen finden.