Rot-rot-grüner Aufbruch oder sozialistische Alternative?

Zum „Strategiepapier“ von Lötzsch, Ernst und Gysi


 

Die beiden Vorsitzenden der Linkspartei, Gesine Lötzsch und Klaus Ernst haben zusammen mit dem Fraktionsvorsitzenden Gregor Gysi im Geschäftsführenden Bundesvorstand ein Strategiepapier „zu den aktuellen Aufgaben der LINKEN und ihrer Bundestagsfraktion“ vorgelegt, das die Partei auf Regierungskoalitionen mit SPD und Grünen festlegen soll. Damit soll kurz vor dem bundesweiten Programmkonvent am 7.11. in Hannover durch die Partei- und Fraktionsspitze eine Regierungsbeteiligung auf Bundesebene ab 2013 zum zentralen strategischen Ziel erklärt werden.

von Heino Berg, Göttingen

Das so genannte Strategie-Papier wurde durch die Medien mit ausgewählten Zitaten verbreitet, vor den Parteimitgliedern und -gremien aber wochenlang unter Verschluss gehalten. Erst nachdem es der stellvertretende Landesvorsitzende der NRW-LINKEN, Thies Gleiss öffentlich kritisiert und dokumentiert hatte, konnten es die Mitglieder auch auf der Partei-Website nachlesen. Eine kritische Diskussion über die Strategie der Partei ist unter solchen Umständen fast unmöglich. dasselbe Verfahren wurde Ende August beim „Strategiepapier“ des niedersächsischen Landesvorsitzenden Dehm praktiziert, das sich – der Presse zufolge – ohne inhaltliche Bedingungen für eine Unterstützung rot-rot-grüner Regierungen als kleinem Übel gegenüber Schwarzgelb aussprach. Die Mitglieder des Landesverbandes kennen es bis heute nicht. Diese „Verhöhnung tausender aktiver Mitglieder“ (Thies Gleiss) durch die Parteiführung ist einer der Gründe, warum sich das wachsende politische Interesse in der Bevölkerung viel zu wenig in der Linkspartei und ihren Kreisverbänden wiederspiegeln kann. Wer strategische Weichenstellungen nicht mehr in der Partei diskutieren, sondern über die bürgerliche Presse kommunizieren und durchsetzen will, degradiert die Mitglieder zu passiven Zuschauern – ausgerechnet in einer Zeit, wo Bewegungen wie die Proteste gegen Stuttgart 21 zeigen, dass Menschen die politischen Angelegenheiten in ihre eigenen Hände nehmen wollen. Auch damit werden künstliche Barrieren zwischen Linkspartei und außerparlamentarischer Bewegung errichtet, anstatt einen lebendigen Austausch zwischen ihnen zu ermöglichen.

Regierungsbeteiligung ohne Bedingungen zu formulieren

Der Kern des Papiers von Lötzsch, Ernst und Gysi ist das „strategische Ziel“ einer rot-rot-grünen Regierung in 2013, ohne eine solche Koalition – wie noch im Programmentwurf – von irgendwelchen Bedingungen abhängig zu machen: „Ohne unseren Druck werden sich SPD und Grüne nicht von ihrer Agenda-Politik verabschieden und Angebote für die Lösung zentraler Probleme der Menschen unterbreiten. (…)In diesem Sinne fungiert die LINKE nicht mehr nur als Korrektiv, sie muss zum Motor werden. (…)

Auf dieser Grundlage kann die LINKE offensiv für die Abwahl von Schwarz-Gelb auch durch ein rot-rot-grünes Regierungsbündnis kämpfen. Denn ohne die Beteiligung der LINKEN – das lehrt die Erfahrung der rot-grünen Regierungsjahre – ist von SPD und Grünen 2013 kein Politikwechsel zu mehr Frieden und sozialer Gerechtigkeit zu erwarten.“

Die Behauptung, dass der Druck der LINKEN ausreiche, um SPD und Grüne zum Bruch mit der Agenda-Politik zu bewegen, ist ein Wunschdenken, das der Realität nicht einmal nach dem Regierungswechsel standgehalten hat. Auch in der Opposition, die ja eine etwas radikalere Rhetorik gestattet, ohne den Herrschenden weh zu tun, halten beide Parteien an der Agenda 2010, also der Bereicherung des Kapitals auf Kosten der Lohnabhängigen und Arbeitslosen, fest. Minikorrekturen (beim Renteneintrittsalter, bei Hartz IV, bei der Leiharbeit oder beim Mindestlohn) beziehen sich auf das Marketing dieser Strategie, nicht auf ihren politischen Inhalt, dessen knallharte Umsetzung nun der schwarz-gelbe Teil des bürgerlichen Parteienkartells übernommen hat. Damit ist auch die Schlussfolgerung des Strategiepapiers, dass eine bloße Beteiligung der LINKEN an rot-grünen Regierungen einen nennenswerten Unterschied zum Sozialkahlschlag der „rot-grünen Regierungsjahre“ ausmachen würde, durch nichts begründet. Die praktische Erfahrung auf Landesebene, also in Mecklenburg, Berlin und Brandenburg, beweist zudem das glatte Gegenteil: Die Beteiligung der LINKEN an solchen Regierungen hat den Sozial- und Stellenabbau nicht gestoppt, sondern nur die LINKE als Partei des Widerstands dagegen massiv geschwächt. So hat sich z.B. durch die Veröffentlichung der (Geheim)verträge zur Privatisierung der Berliner Wasserwerke herausgestellt, dass die LINKE im Berliner Senat die Garantie von Extraprofiten für die privaten Eigentümer auf Kosten der Bevölkerung und hinter ihrem Rücken verlängert hat. Das Regierungsbündnis mit SPD und Grünen hat also keinen Politikwechsel eingeleitet, sondern umgekehrt die Glaubwürdigkeit von programmatischen Aussagen z.B. gegen die Privatisierungen von kommunalen Dienstleistungen untergraben. Diese unsoziale Regierungspraxis bleibt die Hauptursache dafür, dass die LINKE von der wachsenden Kluft zwischen Bevölkerung und Regierenden und der Legitimationskrise des Systems kaum profitieren kann.

Programmfragen

Während der Programmentwurf Regierungsbeteiligungen der LINKEN nur dann für möglich hält, wenn dort Stellen- und Sozialabbau, Privatisierungen sowie Auslandseinsätze der Bundeswehr ausgeschlossen sind, beschreibt das Strategiepapier diese Punkte nicht als Minimalbedingungen für die angestrebte rotrotgrüne Bundesregierung, sondern allgemein als „Markenzeichen“ linker Politik. Dies lässt offen, was davon in Regierungsverhandlungen aufgegeben oder auf den St. Nimmerleinstag vertagt werden kann. Wenn es im Strategiepapier aber um die eigenständigen „Markenzeichen“ der Linkspartei geht, dann fällt auf, dass explizit sozialistische Ziele nicht mehr dazu gehören sollen. Die im Programmentwurf geforderte Vergesellschaftung von „strukturbestimmenden Großbetrieben“ und deren demokratische Kontrolle wird nicht einmal erwähnt, geschweige denn zum Gegenstand von Kampagnen gemacht. Abgesehen von Banken und Energiewirtschaft geht es „in den Großbetrieben“ nur noch um „Mitarbeiterbeteiligung und Ausbau der Mitbestimmung“. Auch die Forderung nach einer radikalen Arbeitszeitverkürzung bei vollem Lohn- und Personalausgleich als Antwort auf den Produktivitätsfortschritt bei gleichzeitiger Massenarbeitslosigkeit gehört nach Meinung der Partei- und Fraktionsvorsitzenden nicht mehr zu den erwähnenswerten „Markenzeichen linker Politik“. Dazu zählt in dieser Auflistung nur noch, was als Verhandlungsmasse mit der Führung von SPD und Grünen in Frage kommt: Unter diesem Gesichtspunkt ist das Strategiepapier der Parteiführung ein indirekter Angriff auf den antikapitalistischen Kern des Programmentwurfs: Es degradiert das Programm zu einem theoretischen Bekenntnis ohne Folgen für die praktische Tages- und Regierungspolitik, anstatt politische Strategie als Umsetzung von sozialistischen Programmzielen ernst zu nehmen.

Die „Linke in der LINKEN“

Leider hat auch der linke Parteiflügel in den letzten Monaten und auf dem Parteitag in Rostock Regierungskoalitionen mit prokapitalistischen Parteien, die Sozialabbau betreiben, nicht grundsätzlich abgelehnt Die Strömungsvertreter der „Antikapitalistischen Linken“ und der „Sozialistischen Linken“ hatten sogar eine (Parteitags)Diskussion darüber mit der Begründung abgelehnt, dass die „Haltelinien“ für eine Regierungsbeteiligung im Programmentwurf ausreichend seien. Mit dem Strategiepapier zeigt sich aber, dass nicht nur das „Forum demokratischer Sozialismus“ und die Führung der ostdeutschen Landesverbände, sondern auch die Partei- und Fraktionsvorsitzenden solche Bedingungen entweder ganz kassieren oder zu einer unverbindlichen Beruhigungspille für die Parteibasis machen wollen. Trotzdem behauptet Sarah Wagenknecht in einem Interview in der Jungen Welt vom 23.10, dass ihre Partei- und Fraktionschefs im o.g. Strategiepapier „Ministerposten nur zu unseren Bedingungen“ anstreben würden, und dass „wir uns auf keine Koalition einlassen können, in der wir inhaltliche Kernpositionen aufgeben müssten“. Wie ihr als Mitglied des Geschäftsführenden Bundesvorstand bekannt war und nun auch jedes Parteimitglied nachlesen kann, steht das exakte Gegenteil in diesem Papier. Gehört die Vergesellschaftung der „strukturbestimmenden Großbetriebe“ etwa nicht zu den inhaltlichen Kernpositionen der LINKEN, die wir keinen Regierungsbündnissen opfern dürfen? Da niemand behaupten wird, dies sei mit SPD und Grünen durchsetzbar, darf die LINKE für ein Bündnis mit diesen Parteien ebenso wenig zur Verfügung stehen wie für eine Koalition mit der CDU oder anderen bürgerlichen Parteien.

Die „Sozialistische Linke“, die mit Christine Buchholz im Geschäftsführenden Bundesvorstand vertreten ist, hat sich bisher weder zum Strategiepapier, noch zu seiner anfänglichen Geheimhaltung geäußert. Das Netzwerk „Marx 21“ kritisiert zwar in seinem neuen Thesenpapier „Ein (rot)rotgrüner Aufbruch?“ die parlamentarische Fixierung, den Verzicht auf die Haltelinien und die vorauseilende Anpassung an SPD und Grüne, hält solche Regierungsbündnisse aber unter anderen gesellschaftlichen Bedingungen (also in Zeiten stärkerer Mobilisierung) für durchaus wünschenswert. Damit würde die deutsche Linkspartei den selbstmörderischen Regierungskurs, der die Linke z.B. in Italien in den Abgrund geführt hat, nicht vermeiden, sondern lediglich etwas später, z.B. unter den aktuell in Frankreich herrschenden Bedingungen einschlagen.

Fazit

Die Partei- und Fraktionsführung reagiert mit ihrem Strategiepapier auf die Krise der schwarz-gelben Regierung, die in Umfragen einen beispiellosen Absturz erlebt hat und vor allem in Stuttgart mit Massenprotesten der Bevölkerung konfrontiert ist. Anstatt diese Chance zu nutzen, um die LINKE als grundlegende Alternative zu bestehenden System zu profilieren und so zum Motor für diesen außerparlamentarischen Widerstand zu werden, suchen Lötzsch, Ernst und Gysi den noch engeren Schulterschluss mit den Parteien, die in rot-grünen Regierungen den sozialen Kahlschlag eingeleitet haben. Mit diesem Kurs droht sich die LINKE überflüssig zu machen: Warum sollte die Bevölkerung auf eine Kopie der rot-grünen Regierungspolitik setzen, wenn das Original dafür bereits zur Verfügung steht?