Von intelligentem Wachstum und flexiblen Gefechtstruppen

Im Europaparlament ohne Illusionen in den Parlamentarismus


 

Ich bin auf dem Weg zu Joe Higgins" Büro. Ich warte auf den Aufzug, der mich in die siebte Etage des Altiero Spinelli Gebäudes bringen soll und studiere die Aushänge, die mit Tesafilm an den Aufzugtüren angebracht wurden. Am 24. März ist scheinbar internationaler "Gelato"-Tag (Eiscreme-Tag). Zu dieser Gelegenheit lädt die europäische Eiscremeliga zu einer Pressekonferenz und anschließendem Eisprobieren ein.

von Tanja Niemeier

Die Vielfalt der Lobbygruppen überrascht mich immer wieder aufs Neue. Ihre offene und verdeckte Präsenz ist nicht wegzudenken aus dem Europäischen Parlament. Aber es hätte schlimmer kommen können als Eiscreme, denke ich mir während mein Auge auf ein anderes Plakat fällt. "Protection of the work-free Sunday" heißt es da; "Schutz des arbeitsfreien Sonntags", eine breite Initiative von Europaparlamentsabgeordneten der Gruppe der "Europäischen Volksparteien" (EVP), der Sozialdemokraten, den Kirchen, dem DGB, dem EGB und vielen anderen. Joëlle Milquet, die belgische Arbeitsministerin und Mitglied der Christendemokraten soll die Eröffnungsrede halten. So weit ist es also gekommen. Mir ist durchaus bewusst, dass Sonntagsarbeit für viele Menschen bereits bittere Realität ist; ich erinnere mich aber noch sehr gut an gewerkschaftliche Kampagnen auf Plakate, auf denen ein kleiner Junge fordert "Samstags gehören Vati und Mutti mir". Wir erleben die tiefste Krise der Nachkriegszeit und statt energisch für eine Verkürzung der Arbeitszeit einzutreten, entscheiden sich die sogenannten politischen Vertreter des Arbeitnehmerflügels in Kollaboration mit der Gewerkschaftsspitze für die Politik der kleinen Schritte. Das macht mich wütend. Der Aufzug kommt.

Joe unterschreibt die Änderungsanträge zur Stellungnahme eines EVP-Abgeordneten zu den Millennium Entwicklungszielen. Fristgerecht werden alle Dokumente an das Ausschuss Sekretariat gefaxt und gemailt.

Ausschussarbeit

Der Entwicklungsausschuss hat den Internationalen Handelsausschuss diesbezüglich um eine Stellungnahme gebeten. Das ist ein fester Bestandteil des Procedere im Europäischen Parlament. Der eine Ausschuss fragt den anderen Ausschuss um seine Meinung zu einem bestimmten Bericht. Dann schreibt ein Mitglied einen Entwurf für eine Stellungnahme, zu der dann die anderen Mitglieder des Ausschusses Änderungsanträge formulieren können. Dann wird alles abgestimmt und dem anderen Ausschuss übermittelt. Der Berichterstatter dieses Ausschusses kann sich dann überlegen, ob und wie er die Änderungsanträge in seinen Bericht aufnehmen will. Irgendwann landet alles zur Abstimmung im Plenum. Und dann?

Er sei sich nicht sicher, was tatsächlich mit all den Stellungnahmen und Papieren passieren würde, sagt Joe. Er sehe nicht, dass sich dadurch die Agenda der Handelspolitik der Europäischen Kommission verändern würde. Ich auch. Es tut gut zu wissen, dass unser Streit für eine sozialistische Welt nicht auf das Parlament beschränkt ist. Diese Gewissheit verleiht mir die notwendige Energie, um den Damen und Herren aus Parlament, Rat und Kommission, die sich so gerne an den "Europäischen Werten" laben, immer wieder die Realität "der Welt da draußen" aufs Butterbrot zu schmieren.

Weltweiter Hunger

Hunger und Armut sollten bis 2015 aus der Welt verschwinden, so das hehre Ziel. Der Generalsekretär der Vereinten Nationen beklagt sich diesbezüglich über mangelndes Engagement der UN Mitgliedsländer.

Die Zahlen sprechen eine andere, sehr grausame Sprache. Laut Weltbank soll allein durch die derzeitige internationale Wirtschafts- und Finanzkrise die Zahl derjenigen, die in extremer Armut leben (d. h. von weniger als 1,25 US-Dollar pro Tag leben) in diesem Jahr um zusätzliche 64 Millionen Menschen ansteigen. Das entspricht in etwa der Bevölkerung Frankreichs.

Die Vereinten Nationen präsentieren in ihrem jüngsten Bericht "Rethinking Poverty" ähnlich schockierende Zahlen. Die Zahl der Hunger leidenden Menschen stieg zwischen 1990/1992 von 842 Millionen auf 873 Millionen im Zeitraum 2004/2006. 2009 stieg dies auf die bisher höchste Anzahl von 1,02 Milliarden Menschen.

Mit anderen Worten: Ein Sechstel der Weltbevölkerung leidet Hunger. Und warum ist das so? Die Vereinten Nationen sagen: Dies sei zum großen Teil der Fall aufgrund des verminderten Zugangs zu Nahrungsmitteln als Resultat der hohen Nahrungsmittelpreise und der globalen Wirtschafts- und Finanzkrise, die zu niedrigeren Einkommen und höherer Arbeitslosigkeit geführt haben.

Das Rezept der Europäischen Kommission und einer Mehrheit des Parlaments ? Mehr Freihandelsabkommen, Verbesserung der Konkurrenzfähigkeit der Europäischen Union, einschließlich der weiteren Militarisierung der Außenpolitik. Es ist deutlich, dass man hier weder eine Politik im Interesse der Hunger leidenden Menschen in der sogenannten "Dritten Welt" (lese: neo-kolonialen Welt), noch eine im Interesse der arbeitenden und arbeitslosen Bevölkerung in Europa vor Augen hat.

Bei dieser Gelegenheit verweise ich auf das Strategiepapier "Ein wettbewerbsfähiges Europa in einer globalen Welt" (vollständige Text hier http://trade.ec.europa.eu/doclib/docs/2006/october/tradoc_130468.pdf)

der Kommission aus dem Jahre 2006. Im Kapitel zu "Zugang zu Energie und Rohstoffen" heißt es": "Europa muss mehr denn je einführen, um ausführen zu können. Die Beschränkungen bei der Versorgung mit Ressourcen wie Energie, Metall und Schrott, Primärrohstoffen einschließlich bestimmter Agrarerzeugnisse, Häuten und Fellen müssen dringend aufgehoben werden. Die Schritte, die einige unserer größten Handelspartner unternommen haben, um den Zugang zu ihren diesbezüglichen Vorräten zu beschränken, stellen einige Wirtschaftszweige der EU vor große Probleme."

Um überleben zu können brauchen die gierigen und rohstoffhungrigen europäischen Kozerne billigen und vor allen Dingen billigeren Zugang zu Rohstoffen als ihre internationalen Konkurrenten. Daran ändert sich auch nichts, wenn in vielen Dokumenten der letzten Periode der populäre Jargon der "Nachhaltigkeit" und der "grünen Ökonomie" auftaucht. "Intelligentes Wachstum" ist noch so ein Modewort. Was soll das eigentlich heißen? Intelligent, weil man auch an die Folgen des Wachstums unter kapitalistischen Rahmenbedingungen denken will? Oder intelligent, weil es sich gut anhört und weil mehr und mehr Menschen Zweifel haben angesichts der brutalen Art und Weise wie dieses System mit Mensch und Natur umgeht? Wohl eher!

Konkurrenzprinzip

Der Drang nach verbesserter Konkurrenzfähigkeit bleibt jedoch das Leitmotiv der europäischen Institutionen – ganz gleich ob diese Konkurrenzfähigkeit nun "grün" oder "intelligent" genannt wird. So heißt es im aktuellen Strategiepapier "Europa 2020" (vollständige Text des Dokumentes hier)

"Die haushaltspolitische Konsolidierung und langfristige Stabilisierung der öffentlichen Finanzen muss mit weitreichenden Strukturreformen insbesondere auf den Gebieten der Altersversorgung, des Gesundheitswesens, des sozialen Schutzes und der Bildungssysteme einhergehen. Die Staatsorgane sollten diese Situation als Chance betrachten, ihre Effizienz und Leistungsqualität zu verbessern. Die Politik zur Vergabe öffentlicher Aufträge muss gewährleisten, dass die öffentlichen Mittel effizient genutzt werden und die Beschaffungsmärkte EU-weit offen bleiben"

Das sind Euphemismen für Erhöhung des Rentenalters, Kürzungen im Gesundheitswesen, Privatisierung des Bildungssystems und die Möglichkeit zukünftig öffentliche Aufträge international auszuschreiben.

Wer meine Interpretation zu negativ findet, dem empfehle ich, den Text gründlich zu lesen. An vielen Stellen findet man Hinweise wie: "Auf der Grundlage der Dienstleistungsrichtlinie muss ein offener Dienstleistungs-Binnenmarkt geschaffen werden. Gleichzeitig ist die Qualität dieser Leistungen für den Verbraucher sicherzustellen. Durch die vollständige Umsetzung der Dienstleistungsrichtlinie könnten der Handel mit privaten Dienstleistungen um 45 Prozent und ausländische Direktinvestitionen um 25 Prozent gesteigert werden, was eine Zunahme des BIP (Bruttoinlandsprodukt) um zwischen 0,5 Prozent und 1,5 Prozent zur Folge hätte." oder "Die Verlängerung des Erwerbslebens wird mit der Möglichkeit einhergehen müssen, während des gesamten Lebens neue Qualifikationen zu erwerben oder auszubauen."

Unter der Zwischenüberschrift "Die strukturellen Schwächen Europas sind

offensichtlich geworden" heißt es "Nur 46 Prozent der älteren Arbeitnehmer (zwischen 55 und 64 Jahren) sind erwerbstätig (Vereinigte Staaten und Japan: 62 Prozent). Außerdem leisten die Europäer im Durchschnitt 10 Prozent weniger Arbeitsstunden als ihre amerikanischen oder japanischen Kollegen."

Intelligent, oder?

Das Strategiedokument visiert auch eine deutlich beschriebene Rolle der europäischen Außenpolitik an, so heißt es: "Gleichzeitig muss die EU in der Welt selbstbewusster auftreten und bei der Gestaltung der künftigen Weltwirtschaftsordnung in den G20 eine führende Rolle einnehmen, dabei aber das europäische Interesse durch aktive Entfaltung aller uns zur Verfügung stehenden Instrumente verfolgen."

Zu diesem Zwecke sieht der Vertrag von Lissabon die Einrichtung eines Europäischen Auswärtigen Amtes vor, das unter der Leitung der Hohen Vertreterin der EU für die Außen- und Sicherheitspolitik, Baroness Catherine Ashton, stehen soll.

Eine einheitliche europäische Außenpolitik ist angesichts der zum Teil sehr gegensätzlichen Interessen der 27 verschiedenen Nationalstaaten der EU sicherlich nicht eindeutig umsetzbar; auch hier werden alle widersprüchlichen Kräfte innerhalb der EU deutlich. Darum soll das Europäische Auswärtige Amt auch nur komplementär zu den bestehenden nationalen Auswärtigen Ämtern fungieren. Aber die Botschaft ist deutlich.

Elmar Blok, CDU-Abgeordneter der EVP-Fraktion fasst es so zusammen: " We must make Europe a global player, not just a global payer", frei übersetzt: Wir müssen Europa zu einem globalen Hauptdarsteller entwickeln und nicht allein eine globale Bezahlmaschine bleiben"

In einem vom Parlament verabschiedeten Bericht des konservativen, französischen UMP-Abgeordneten Arnaud Danjean zur Umsetzung der Gemeinsamen Europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik (GSVP) wird ebenfalls Klartext geredet und festgestellt, dass die EU "zur Deckung des wachsenden operativen Bedarfs sowie zur professionelleren Krisenbewältigung ihre zivilen und militärischen Fahrigkeiten entwickeln muss" (in der englischen Version des Textes heißt es "needs to increase", also erhöhen statt entwickeln, TN)"

Herr Danjean kommt auch zur Feststellung, dass" die Gefechtsverbände trotz der damit verbundenen erheblichen Investitionen teilweise aus politischen Gründen sowie aufgrund der Tatsache, dass die Bedingungen für ihren Einsatz sehr strikt formuliert sind, bislang noch nicht eingesetzt wurden" und "spricht sich für einen effizienteren und flexibleren Einsatz der Gefechtsverbände aus." (Text siehe hier)

Handelsausschuss

Und dann war da natürlich auch wieder eine Sitzung des Internationalen Handelsauschusses, in dem es dieses Mal unter anderem eine Anhörung zu den Handelsbeziehungen zwischen der EU und der Türkei ging.

Hochrangige Sprecher aus der Wirtschaftswelt und Vertreter der türkischen Botschaft erklärten ihr deutliches Interesse vollwertiges Mitglied der Europäischen Union zu werden, um nicht als Verlierer da zu stehen, wenn die EU Freihandelsabkommen mit Ländern wie beispielsweise Südkorea abschließt.

William (the Earl of) Dartmouth, der aristokratische Vertreter der konservativen und rassistischen UKIP (United Kingdom Independence Party) benutzte die Anwesenheit der türkischen Vertreter dann auch direkt für eigene Wahlkampfparolen und erklärte, dass die Türkei einfach zu groß sei und zu viele Einwohner habe um der EU beizutreten. Die Bevölkerungszahl der Türkei steige und er wolle nicht, dass zu den vielen Millionen in der EU und in Großbritannien lebenden Türken noch weitere hinzukommen.

Joe Higgins nutzte seine Redezeit, um seine Solidarität mit den streikenden Arbeitern des TEKEL-Konzerns in der Türkei auszudrücken, prangerte die Machenschaften türkischer Konzerne an und protestierte gegen das Verbot der pro- kurdischen Partei Demokratik Toplum Partisi (DTP). Sehr zum Ärgernis der anwesenden Vertreter des türkischen Establishments.

Und auch wenn der ansonsten eher gemütlich, mitunter selbst unbeholfen, wirkende Vorsitzende des Internationalen Handelsausschusses mit Vorliebe Joe Higgins darauf hinweist, dass seine Redezeit vorbei ist, werden wir mit Entschlossenheit weiter unsere Stimme erheben. Es ist nötig. Die belgische Tageszeitung De Morgen veröffentlichte kürzlich eine Umfrage, der zufolge 83 Prozent der Bevölkerung kein Vertrauen in PolitikerInnen hat .

Nur Glaubwürdigkeit und eindeutige Positionen im Interesse derjenigen, die den Preis für die Krise dieses todkranken Systems bezahlen kann hieran etwas verändern.

Es tut dann auch gut positives Feedback zu kriegen. The Council of Canadians, eine kanadische NGO, äusserte sich sehr zufrieden über Joe Higgins deutliche Stellungnahme gegen mögliche Wasserprivatisierungen als mögliche Folge eines Freihandelsabkommens zwischen der EU und Kanada. (Text hier)

Tanja Niemeier ist Mitglied der Linkse Socialistische Partij (LSP) in Belgien und Mitarbeiterin der Konföderalen Fraktion der Vereinten Europäischen Linken/Nordische Grüne Linke (GUE/NGL). Sie berichtet seit Januar 2010 regelmäßig für sozialismus.info aus dem Europaparlament.