Spontanstreik bei Daimler in Sindelfingen

Belegschaft reagiert mit Arbeitsniederlegung auf Vorstandsentscheidung, C-Klasse-Produktion zu verlagern


 

von Karl Neumann (zuerst erschienen in der Jungen Welt vom 3. Dezember 2009)

Die Beschäftigten im Daimler-Werk Sindelfingen haben am Mittwoch mit einer spontanen Arbeitsniederlegung auf die Entscheidung des Managements reagiert, die Produktion der C-Klasse in die USA zu verlagern. Am Vormittag standen rund 4000 Arbeiter vor dem Verwaltungsgebäude des größten Konzernstandorts und forderten eine Stellungnahme der Werkleitung. Teilnehmer beschrieben die Stimmung als „aufgeladen, aggressiv“. Die Beschäftigten seien „stinksauer“ über die Entscheidung, die laut Betriebsrat etwa 3000 Arbeitsplätze in der Fabrik gefährdet.

Zuvor hatte der Vorstand der Daimler AG beschlossen, die Modelle der C-Klasse ab 2014 nicht mehr in Sindelfingen zu bauen. „Dieser Schritt ist aus strategisch-wirtschaftlicher Sicht unabdingbar, damit wir mit Mercedes-Benz auch in Zukunft wettbewerbsfähig bleiben und die Wachstumschancen nutzen können“, begründete Konzernchef Dieter Zetsche den Schritt. Der Vorsitzende des Gesamtbetriebsrats (GBR), Erich Klemm, nannte die Entscheidung hingegen „grundlegend falsch und in ihrer Wirkung fatal“. „Die Menschen brauchen Sicherheit und Perspektiven hier am Standort“, forderte er. Von dem spontanen Wutausbruch der Belegschaft wurde aber offenbar auch der GBR-Chef überrascht. Als erste Maßnahmen hatte er lediglich die Streichung zusätzlicher Samstagschichten, Abteilungsversammlungen sowie eine außerordentliche Betriebsversammlung am kommenden Mittwoch angekündigt.

Die Spätschicht schloß sich der Aktion am Mittwochnachmittag sofort an und nahm die Arbeit erst gar nicht auf. Bis Redaktionsschluss wurde die Produktion nicht wieder angefahren. Aktivisten gingen davon aus, daß die Bänder auch in der Nacht stillstehen würden. Am heutigen Donnerstag will die Belegschaft um 9 Uhr und um 16 Uhr erneut zu Kundgebungen vor dem Werkstor zusammenkommen. Da sich die in Sindelfingen produzierte E-Klasse derzeit gut verkauft, dürfte der durch die Bandstillstände verursachte ökonomische Schaden beträchtlich sein.

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Kostenoptimaler Abbau

Daimler begründet Verlagerung der C-Klasse mit Währungsschwankungen und geringeren Produktionskosten. IG Metall, Linke und Kleinaktionären üben Kritik.

von Karl Neumann (aus der Jungen Welt vom 3. Dezember 2009)

Die Beschäftigten von Daimler in Sindelfingen sind sauer. Spontan hielten sie am Mittwoch früh die Bänder an, nachdem die Entscheidung des Konzernvorstands bekannt geworden war, die C-Klasse nicht mehr in der traditionsreichen Fabrik montieren zu lassen. Künftig soll das bestverkaufte Pkw-Modell des Stuttgarter Autobauers in Bremen, Südafrika, China und den USA produziert werden. In der Fabrik Tuscaloosa im US-Bundesstaat Alabama, wo derzeit die Mercedes-Modelle R-, M- und GL-Klasse gefertigt werden, sollen hierfür laut Produktionschef Rainer Schmückle ab 2014 zwischen 1000 und 1200 neue Stellen geschaffen werden.

In Sindelfingen, wo zurzeit täglich 660 Fahrzeuge der C-Klasse vom Band laufen, arbeiten nach Betriebsratsangaben rund 4500 der insgesamt 20 000 Produktionsmitarbeiter an diesem Modell. Durch die Verlagerung der Montage des Premium-Roadster SL von Bremen nach Sindelfingen reduziert sich der Arbeitsplatzverlust im Südwesten demnach auf etwa 3000. Das Unternehmen sprach hingegen von „rund 1800 betroffenen Mitarbeitern, denen auch zukünftig attraktive Beschäftigungsmöglichkeiten angeboten“ würden.

An dem Szenario des Arbeitsplatzabbaus, vor dem der Gesamtbetriebsrat immer gewarnt habe, habe sich nichts geändert, erklärte dessen Sprecherin Silke Ernst. Zur Ankündigung, alternative Arbeitsplätze zur Verfügung zu stellen, sagte sie am Mittwoch gegenüber junge Welt: „Dann sollen sie uns diese konkret nennen: Welche Produkte, welche Aufgaben sollen nach Sindelfingen kommen, um die Arbeitsplatzverluste durch die C-Klasse auszugleichen – und zwar komplett?“ Sie forderte den Konzern auf, den langfristigen Ausschluß betriebsbedingter Kündigungen vertraglich festzuschreiben und ein tragfähiges Beschäftigungskonzept vorzulegen.

„Aufgrund des starken Wettbewerbs im Segment der C-Klasse ist für uns eine kostenoptimale Aufstellung der Produktion für die Zukunft enorm wichtig“, ließ Schmückle wissen. „Dies gilt neben den Produktionskosten auch für die mit dem Standort in Verbindung stehenden Zoll- und Logistikvorteile.“ Zentrale Begründung für die Verlagerung in die USA ist, daß Daimler damit unabhängiger vom Wechselkurs werde. Aktuell verteuern sich infolge des starken Euro die Exporte in den nordamerikanischen Markt, in dem der deutsche Autobauer „zusätzliche Wachstumschancen“ ausmacht.

Daimler-Personalvorstand Wilfried Porth bezifferte die Kostenreduzierung durch die Verlagerung in die USA auf 2000 Euro pro Fahrzeug. Er kündigte am Mittwoch an, in den kommenden Tagen Gespräche mit dem Betriebsrat über die Zukunft von Sindelfingen zu führen. Einen Lohnverzicht wie 1996 und 2004 – als der Konzern mit der Drohung, die C-Klasse zu verlagern, Einkommenskürzungen und Arbeitszeitflexibilisierung durchgesetzt hatte – wird es laut Gesamtbetriebsratschef Erich Klemm dabei nicht geben. „Wenn wir jetzt erneut über die Sicherung von Beschäftigung am Standort Sindelfingen verhandeln müssen, dann werden wir definitiv nicht über Zugeständnisse der Beschäftigten sprechen.“ Der Vorstand stehe in der Verantwortung für die Sindelfinger Belegschaft und müsse sich dieser stellen, „statt als Jobkiller aufzutreten“, so Klemm.

Kritik an der Verlagerung kommt auch von der Partei Die Linke und vom „Dachverband der kritischen Aktionäre Daimler“ (KAD). Richard Pitterle, Bundestagsabgeordneter der Linksfraktion aus Sindelfingen, erklärte, der Konzern verabschiede sich „Stück für Stück vom Produktionsstandort Deutschland – das ist nicht hinnehmbar“. KAD-Sprecher Jürgen Grällin sagte am Mittwoch in Stuttgart: „Anstatt die Arbeitsplätze im Werk Sindelfingen durch neue, verbrauchsarme und damit konkurrenzfähige Automobile zu sichern, setzt der Daimler-Vorstand auf Rendite um jeden Preis. Diese Konzernstrategie geht auf Kosten der Beschäftigten.“

Der Zweite Bevollmächtigte der Stuttgarter IG Metall, Uwe Meinhardt, warf dem Daimler-Management „Arroganz und Mißachtung der Beschäftigten“ vor. Entlassungen müßten ausgeschlossen werden. Bis zur Unterzeichnung einer solchen Vereinbarung werde die Gewerkschaft „keine Ruhe geben“.