Gewalt – was ist Ursache, was Wirkung?

Nach dem Amoklauf von Winnenden


 

Seit der Mordserie an der Columbine High School, USA, im Jahr 1999 häufen sich auch in Deutschland Amokläufe, vor allem an Schulen. Zuletzt wurde Winnenden Schauplatz einer solchen Tat. Debattiert wird von den Politikern nun über die Schlussfolgerungen. Dabei werden die gesellschaftlichen Ursachen in der Regel nicht beachtet.

von Lasse Schmied, Kassel

Winnenden wird über Tage hinweg von Reportern belagert. Im Kampf um hohe Einschaltquoten weckt die Tat des 17-jährigen ehemaligen Schülers der Albertville-Realschule den Sensationseifer der Medienkonzerne. Die neue Berufszunft der „Amoklauf-Experten“ erstellt in zahllosen Sondersendungen zügig ein Täterprofil: Tim K. ist wie andere Amokläufer ein in sich gekehrter Einzelgänger, ein „Waffennarr“, der sich gerne mit „Killerspielen“ beschäftigt. Daraufhin werden Forderungen laut, die den privaten Waffenbesitz einschränken und Killerspiele verbieten sollen.

Verbotsdebatten sind heuchlerisch

Die Killerspiel-Erklärung ist alles andere als hinreichend. Denn Kinder, die bestimmte Computer-Spiele konsumieren, laufen nicht automatisch Amok. Der Spielinhalt kann sicher pädagogisch hinterfragt werden. Allerdings wurde der Kauf solcher Spiele schon nach dem Amoklauf in Erfurt 2002 erschwert, was keinerlei Wirkung gezeigt hat.

Unumstritten ist, dass sich in der Bundesrepublik acht bis zehn Millionen Schusswaffen im legalen Privatbesitz befinden. Die Tatsache allerdings, dass sich über 20 Millionen Waffen bereits im illegalen Besitz befinden (SPIEGEL 13/2009), zeigt, dass auch ein strengeres Waffenrecht – das übrigens ebenso nach Erfurt bereits verschärft wurde – auch nur eine Scheinlösung ist.

Die Debatte wird vom Establishment in mehrfacher Hinsicht heuchlerisch geführt.

Erstens: Die Zunahme von Gewalt ist auch Ausdruck einer Brutalisierung – und Militarisierung – der Gesellschaft. So befehlen Wortführer eines Verbots von Killerspielen das Morden der Bundeswehr in Afghanistan. Der virtuelle Krieg im Kinderzimmer führt in ihren Augen zu einer Verrohung der Jugend, während der reale Krieg der „Verteidigung deutscher Interessen am Hindukusch“ dient. Dazu gehört, dass die Bundeswehr regelmäßig bei Berufsberatungstagen in Schulen Werbeveranstaltungen durchführt.

Zweitens: Zur militärischen kommt die soziale Gewalt. Verbotsdiskussionen lenken hiervon und von der vorherrschenden jugendfeindlichen Politik ab.

Leistungsdruck

Das Verhältnis zwischen gesellschaftlichen Entwicklungen und dem Verhalten Einzelner ist komplex. Trotzdem gibt es immer Zusammenhänge.

Eine auf Konkurrenz beruhende Ellenbogengesellschaft produziert zwangsläufig Verlierer. Regelmäßiger Ort für solche Niederlagen von Jugendlichen ist die Schule. Täter wählten die Schule bewusst als Schauplatz ihrer Tat. Hier verfehlt man Erwartungen, schafft seine Abschlussprüfung nicht, erlebt den ständigen Leistungs- und Notendruck, wird gemobbt, muss trendy sein und Schönheitsidealen entsprechen. So kann Schule vielfältig zu einem Ort der Verzweiflung, Demütigung und der Ohnmacht werden. Jugendliche gehen unterschiedlich mit diesem permanenten Druck um. Jeder fünfte Jugendliche leidet mittlerweile unter psychischen Erkrankungen, was sich in Depressionen, Angstzuständen, Magersucht, Bulimie, Selbstverletzungen, dem Gebrauch von Psychopharmaka, Beruhigungsmitteln oder Drogenkonsum äußert. Suizid ist in Deutschland unter Jugendlichen die zweithöchste Todesursache. „Agression nach innen“ ist ein Massenphänomen. Die extreme „Aggression nach außen“ in Form eines Amoklaufs ist die grausame Ausnahme von deformierten Persönlichkeiten in einer Generation, die unter einem krankhaften Leistungs- und Erwartungsdruck steht.

Kranke Gesellschaft

Im Fall von Tim K. sind viele Einzelheiten noch unbekannt. Eine Auseinandersetzung mit den Hintergründen seiner Tat macht aber die Notwendigkeit deutlich, grDas Verhältnis zwischen gesellschaftlichen Entwicklungen und dem Verhalten Einzelner ist komplex. Trotzdem gibt es immer Zusammenhänge.

Eine auf Konkurrenz beruhendeundsätzlich den Druck, unter dem Jugendliche leiden, zu bekämpfen. Deshalb ist es richtig, für ein kostenloses Schulsystem zu streiten, in dem Jugendliche nach den eigenen Interessen unbeschwert in kleinen Gruppen lernen können; wo sie Ansprechpartner zum Beispiel in Form von Sozialarbeitern oder Schulpsychologen haben. Heute kommen auf einen Schulpsychologen etwa 16.500 SchülerInnen. Nötig ist nicht nur ein umfassendes Angebot an Ganztagsschulen, sondern auch ausreichend Mittel und Personal dafür.

Kostenlose Freizeitangebote werden von jugendfeindlichen Politikern ständig auf dem Altar der Haushaltskonsolidierung geopfert. Deshalb müssen neue Jugendzentren, Mädchenprojekte oder Skaterhallen erkämpft werden.

Letztlich bleibt aber die Notwendigkeit, das Übel an der Wurzel zu packen: Um Lehrstellenmangel, Massenarbeitslosigkeit, soziale Gewalt, Militarisierung abzuschaffen, muss der Kapitalismus abgeschafft und durch eine sozialistische Gesellschaft ersetzt werden – die nicht auf Konkurrenz, Profitstreben und krankem Leistungsdruck, sondern auf den Bedürfnissen der Menschen beruht. N

Gegenwehr bietet Jugendlichen auch heute schon die Möglichkeit, der Ohnmacht und Verzweiflung etwas entgegenzusetzen. Flugblatt von Linksjugend [solid] Stuttgart zu Winnenden unter

www.solid-stuttgart.de