2009: Krise, Widerstand, Marxismus

Thesen der SAV-Bundesleitung


 

1.Der Weltkapitalismus steht am Beginn seiner schwersten Krise seit der Großen Depression, die 1929 begann. Diese Krise ist nicht nur eine Wirtschaftskrise. Es ist auch eine soziale, politische und ideologische Krise. Sie markiert das Ende der Ära des deregulierten Kapitalismus und der Dominanz der neoliberalen Ideologie (wenn auch nicht von Angriffen neoliberalen Charakters, wie weiteren Privatisierungen und Flexibilisierungen). Diese Periode wird abgelöst durch eine Periode von wirtschaftlicher Rezession und Stagnation, kapitalistischem Krisenmanagement, politischem Chaos und sozialen Explosionen. In den Worten des Financial Times-Kolumnisten Martin Wolf drohen „Nationalismus und Revolution“. In marxistischer Terminologie übersetzt heißt das: wir stehen vor einer Periode des Kampfes zwischen Revolution und Konterrevolution, die sich ausgehend von der aktuellen Krise über Jahrzehnte erstrecken kann. Unsere Vorhersage, dass die Entwicklungen der letzten Jahre in Lateinamerika die Zukunft Europas und anderer Teile der Welt vorwegnahmen, wird sich bestätigen. Das bedeutet vor allem, dass der Sozialismus als Alternative zur kapitalistischen Krise wieder auf die Tagesordnung kommt und sich die Möglichkeiten zum Aufbau der SAV und des Komitees für eine Arbeiterinternationale (CWI) qualitativ und sprunghaft verbessern.

2.Es ist unmöglich eine exakte Vorhersage über Tiefe, Dauer und Verlauf der Krise zu treffen. Wir können festhalten, dass die Weltwirtschaft auch im Januar 2009 noch am Beginn der Krise steht und diese tiefer sein wird, als alle Krisen seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs. Es handelt sich nicht um eine Finanzkrise, sondern eine allgemeine Krise der kapitalistischen Produktion, die ihre tiefere Ursache in der dem kapitalistischen System immanenten Beschränkung profitabler Anlagemöglichkeiten für überschüssiges Kapital hat, was zum Aufbau von Überkapazitäten und Überproduktion führt. Die Aufblähung der Finanzmärkte war eine Folge des Mangels an profitablen Anlagemöglichkeiten in der Produktion und ist nicht die Ursache der Krise. Die Krise erfasst alle Teile der Welt gleichzeitig. Keine Volkswirtschaft, auch nicht China, wird die Rolle einer Lokomotive für die Weltökonomie spielen können. Dies erkennen auch die ernsthafteren bürgerlichen Ökonomen und Kommentatoren. Die Deutsche Bank hat in ihrer neuesten Prognose aus dem Dezember 2008 auf die Möglichkeit eines Rückgangs des Bruttoinlandprodukts in Deutschland um vier Prozent hingewiesen. Die deutsche Wirtschaft wird wegen ihrer starken Exportabhängigkeit, der enormen Bedeutung der Autoindustrie und dem starken Abbau der Löhne und Sozialleistungen in den letzten Jahren (was den Binnenmarkt weiter eingeschränkt hat) besonders stark von einer weltweiten Rezession getroffen. Aber auch in der Weltwirtschaft gibt es weiteres Potenzial für neue Crashs und eine qualitative Vertiefung der Krise hin zu einer Depression des Ausmaßes der dreißiger Jahre, also einem drastischen Fall des BIP von zehn Prozent oder mehr. Ein Platzen der Blase der Kreditausfallversicherungen (CDS = Credit Default Swaps) oder ein Absturz des Dollars und Zusammenbruch des Weltwährungssystems sind nur zwei davon. Das birgt auch die Gefahr von Bankrotten kleinerer entwickelter und sogar größerer osteuropäischer und neokolonialer Staaten, wie wir es faktisch in Island sehen.

3.Eine weitere Folge der Krise wird die Zunahme inner-imperialistischer Spannungen sein. Das gilt auch, wenn die imperialistischen Staaten gleichzeitig versuchen werden, gemeinsame Maßnahmen gegen die Krise auf den Weg zu bringen. Letztlich kann der Kapitalismus den Nationalstaat nicht überwinden und suchen, gerade in Zeiten der Krise, die Konzerne den Schutz "ihres" Nationalstaates. Das wird auch die Gefahr von Kriegen und militärischen Konflikten weiter erhöhen, auch wenn die USA unter einer Obama-Präsidenschaft einen eher multilateral-diplomatischen Kurs in der Außenpolitik einschlagen werden. Stellvertreterkriege, wie in Georgien oder im Kongo, werden tendenziell zunehmen.

Die Weltwirtschaftskrise stellt auch die Zukunft des Euro in Frage. Während im Moment in einigen kleineren Staaten der EU der Gedanke zunimmt, der Euro biete einen gewissen Schutz vor der Krise (z.B. in Dänemark), so werden gerade die mächtigeren EU-Staaten den Euro als Ballast empfinden, der sie in ihrer Reaktion auf die Krise einschränkt. Dementsprechend ist es möglich, dass einzelne Staaten, möglicherweise sogar Deutschland, aus dem Euro als gemeinsamer Währung aussteigen oder es zu einer Verkleinerung der Euro-Zone kommt.

Ebenso wird die Umweltzerstörung durch die Weltwirtschaftskrise zunehmen und die Bedrohung der Lebensgrundlagen der Menschheit größer. Die Debatten um CO2-Emmissionen in Europa sind ein erster Ausdruck davon, dass die Krise auch auf dem Rücken der Umwelt ausgetragen wird.

4.Die Kapitalistenklassen haben weltweit relativ schnell und deutlich auf die Krise reagiert. Sie haben das neoliberale Dogma frei nach dem Motto „was schert mich mein Geschwätz von gestern“ über Bord geworfen und sind zu keynesianischer Wirtschaftspolitik übergegangen, um ihr System zu retten. Die großen Rettungspakete für angeschlagene Banken, staatliche Investitionsprogramme und Verstaatlichungen von Banken in einigen Ländern werden die Krise nicht beenden, können sie aber möglicherweise abmildern. Doch selbst wenn das gelingt, stünde der Weltwirtschaft wahrscheinlich eine lange Phase von Rezession und Stagnation bevor, vergleichbar mit der Entwicklung Japans in den neunziger Jahren – mit dem Unterschied, dass Japan ein einzelnes Land mit größeren finanziellen Reserven und der Möglichkeit von Exportsteigerung war, während nun die ganze Welt zeitgleich betroffen ist. Am Ende dieser Phase im Jahr 2001 betrachteten sich ein Drittel der JapanerInnen als arm und ein Viertel hatten keinerlei Sparrücklagen mehr. Keynesianische Maßnahmen mögen die Krise kurzfristig abfedern können und eine tiefe Depression verhindern können, sie verschieben wirtschaftliche Probleme aber nur in die Zukunft und bereiten so größere Krisen vor.

5.Die sozialen Folgen der Krise sind kaum absehbar. Auch wenn kapitalistische Regierungen mit keynesianischen Maßnahmen versuchen werden, Arbeitsplätze zu erhalten und den Konsum zu stimulieren, werden sie einen drastischen Anstieg der Massenarbeitslosigkeit und die Verarmung breiter Teile der Arbeiterklasse und der Mittelschichten nicht verhindern können. Das gilt für die entwickelten kapitalistischen Staaten, die sich staatliche Investitionsprogramme leisten können. Für die Massen der neokolonialen Welt wird sich eine Situation entwickeln, die die Hungerkrisen der letzten zwölf Monate als harmlos erscheinen lassen wird.

Die Internationale Arbeitsorganisation rechnet mit zwanzig Millionen neuen Erwerbslosen durch die Krise, was wahrscheinlich eine moderate Schätzung ist. In den USA wurden alleine im November 2008 eine halbe Million ArbeiterInnen entlassen. Auch in Deutschland wird sich wiederholen, was wir in jeder Rezession der Nachkriegszeit gesehen haben: einen drastischen Anstieg der Erwerbslosenzahlen. Ähnlich wie in der Vergangenheit der Bergbau und die Stahlindustrie betroffen waren, werden es jetzt unter anderem die Auto- und Chemieindustrie sein und damit die schweren Bataillone der Arbeiterklasse. Doch mehr als in der Vergangenheit werden ganze Existenzen zerstört, da aufgrund von Verschuldung und dem schnellen Abrutschen ins ALG II eine weitgehende Verarmung droht und Ersatzarbeitsplätze nicht in Sicht sind. Das ist ein Rezept für bittere und mit harten Bandagen geführte Abwehrkämpfe.

6.Diese Krise wird enorme Auswirkungen auf die Entwicklung des Bewusstseins in der Arbeiterklasse und der Jugend und auf den Verlauf der Klassenkämpfe haben. Selbst wenn, insbesondere ein schneller und tiefer wirtschaftlicher Einbruch, die Arbeiterklasse für eine vorübergehende Zeit in einen Zustand der Schockstarre versetzen kann, wird gleichzeitig eine Veränderung des Denkens und des Bewusstseins stattfinden. Die Kapitalisten und ihre Medien selber haben in den letzten Monaten das Gespenst des Sozialismus wieder herauf beschworen. Die staatlichen Eingriffe und Verstaatlichungen bei Banken, aber auch die staatliche Bürgschaft für Opel, werden dazu führen, dass ArbeiterInnen ähnliche Maßnahmen zur Rettung ihrer Betriebe fordern werden. Es entwickelt sich eine ganz neue Offenheit für sozialistische Ideen und eine wachsende Minderheit zieht „von selbst“ sozialistische Schlussfolgerungen. Das große Interesse an den Kapital-Lesekreisen und marxistischer Literatur sind darauf nur ein Hinweis. Dabei darf nicht vergessen werden, dass sich diese Entwicklung vor dem Hintergrund einer jahrelangen Legitimationskrise der kapitalistischen Parteien und Institutionen vollzieht. Schon in den letzten Jahren ist das Vertrauen in die bürgerliche Ordnung drastisch gesunken, hat sich ein Bewusstsein gegen Neoliberalismus und Konzernherrschaft entwickelt und ist die Offenheit für antikapitalistische und sozialistische Ideen gewachsen. Wie wir vorher gesagt haben, entwickelt sich daraus nun ein antikapitalistisches Bewusstsein bei breiten Teilen der Arbeiterklasse und der Jugend.

Das bedeutet aber nicht, dass die Massen eine geradlienige und schnelle Entwicklung zu revolutionären Schlussfolgerungen und der bewussten Unterstützung des Marxismus machen werden. Es wird auch Illusionen in die keynesianischen Maßnahmen von Regierungen und in die reformistischen Angebote von Teilen der Gewerkschaftsführung und der LINKEn geben. Die Arbeiterklasse insgesamt wird erst Erfahrungen mit dem Scheitern dieser Konzepte und mit großen Kämpfen machen müssen, bevor sie revolutionäre Schlussfolgerungen zieht. Eine Minderheit zieht diese schneller und wenn es uns gelingt diese Minderheit zu organisieren, können wir durch den Aufbau einer starken marxistischen Kraft den gesamten Prozess beschleunigen. Zur Zeit ist die mangelnde Aktivität der Arbeiterklasse noch eine Barriere für die Gewinnung von mehr ArbeiterInnen und Jugendlichen zum Marxismus, da oftmals die Vorstellungskraft fehlt, dass die Arbeiterklasse kollektiv handeln und die Gesellschaft verändern kann. Sobald sie aber in Bewegung gerät und der Gesellschaft ihren Stempel aufdrückt, wie wir es ansatzweise zum Beispiel beim Streik der Lokführer gesehen haben, wird sich das ändern.

7.Gleichzeitig wird die gesellschaftliche und politische Polarisierung zunehmen und werden Nationalismus und Rassismus auch zunehmen können. Die Gefahr des Anwachsens neofaschistischer Gruppen oder der Entstehung einer rechtspopulistischen Kraft in Deutschland existiert. Wie weit sich das entwickeln kann hängt nicht zuletzt von der Fähigkeit der Arbeiterklasse, sich kollektiv gegen die Folgen der Krise zu wehren und von der Entwicklung der Partei DIE LINKE ab.

8.Die Tatsache, dass die deutsche Arbeiterklasse eine frische Erfahrung mit den Folgen der, vergleichweise schwächeren, Rezession von 2001 bis 2003 hat und in der Folge eine Reihe von Kämpfen und Massenmobilisierungen durchlaufen hat und die Existenz der LINKEn, die zumindest ein reformistisches Angebot von Links macht, machen es wahrscheinlicher, dass in Deutschland keine starke oder anhaltende Lähmung des Widerstands einsetzen wird, sondern wir im Jahr 2009 Bewegungen und betriebliche Kämpfe sehen werden und die politische Reaktion der Arbeiterklasse auf die Krise nach links geht. Umso wichtiger ist es, dass wir in der Partei DIE LINKE einen marxistischen Pol aufbauen und den Kampf gegen die Politik der Regierungsbeteiligung mit pro-kapitalistischen Parteien fortsetzen und gleichzeitig Initiativen zum konkreten Widerstand ergreifen, wo wir dazu die Gelegenheit haben. Wir müssen erklären und, im Rahmen unserer Möglichkeiten, ein Beispiel dafür geben, mit welcher Politik DIE LINKE sich zu einer Massenpartei aufbauen könnte, die in der Arbeiterklasse einen Mehrheit für Sozialismus erreichen kann.

9.Diese Krise wird, früher oder später, weltweit zu einem Aufschwung von Klassenkämpfen, von revolutionären Bewegungen und von der politischen Selbstorganisation der Arbeiterklasse führen. Auch wenn es keinen unmittelbaren Automatismus zwischen Krise und Klassenkampf gibt, zeigen viele Beispiele aus der Geschichte, welche Kämpfe durch eine Wirtschaftskrise ausgelöst werden können: die erste Weltwirtschaftskrise nach dem Zweiten Weltkrieg zu Beginn der 1970er Jahre führte unter anderem zu revolutionären Massenbewegungen in Südeuropa und dem Wiederaufbau sozialistischer und kommunistischer Massenparteien. Die sogenannte Asienkrise 1997/98 führte unter anderem zum Sturz des Suharto-Diktatur in Indonesien und war ein Faktor bei der Auslösung des revolutionären Prozesses in Venezuela und anderen lateinamerikanischen Ländern. Die Rezession der Jahre 2001 bis 2003 und ihre Folgen in Deutschland führten nicht nur zu den großen Demonstrationen am 1.11.2003 und 3.4.2004 und der Bewegung der Montagsdemonstrationen, sondern auch zum selbständig geführten Streik der Belegschaft bei Opel-Bochum und zur Gründung der WASG als erstem Schritt zu einer neuen Arbeiterpartei. Solche Entwicklungen werden durch die aktuelle Krise auf einem höheren Niveau stattfinden.

10.Wir sehen international und in Deutschland erste Hinweise auf Politisierung, Bewegungen und Klassenkampf. Die Massenbewegung in Irland gegen Kürzungen der Regierung erschüttert das Land. Italien wird Zeuge der größen Protestbewegung im Bildungsbereich seit vielen Jahren. Vor allem zeigt aber Griechenland, welche Explosivität und Dynamik die neue Weltlage mit sich bringt. Die Erschießung des 15-jährigen Alexis Grigoropoulos war der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte und eine Rebellion der griechischen Jugend auslöste, die die Regierung zu Fall bringen kann. Ähnliche Jugendrebellionen und Bewegungen, die ohne eine klare Perspektive der Arbeiterbewegung auch zu vermehrten Krawallen führen können, können in vielen Ländern ausbrechen. In Deutschland haben wir die großen Schülerstreiks, aber auch die großen Demonstrationen gegen den Ausbau des Überwachungsstaates, gegen den Castor-Transport und gegen die Änderung des Versammlungsgesetzes in Baden-Württemberg gesehen, was Ausdruck der zunehmenden Jugendradikalisierung ist. Die Betriebsbesetzung bei HWU in Schleswig-Holstein ist ebenso ein Hinweis auf die Radikalität und Form zukünftiger Kämpfe.

11.All das bedeutet nach zwei Jahrzehnten endlich wieder deutlichen Rückenwind für den Marxismus und die Möglichkeit, die SAV schneller und sprunghaft aufzubauen und den Einfluss des Marxismus in der Arbeiterklasse und der Jugend qualitativ auszudehnen. Die SAV steht unter anderem für folgende Ideen: der Kampf für Verstaatlichung der Schlüsselindustrien unter Arbeiterkontrolle und -verwaltung, die Notwendigkeit die aktuellen Kämpfe unmittelbar mit dem Kampf für Sozialismus zu verbinden, demokratische und kooperative Planung der Wirtschaft als Alternative zur kapitalistischen Konkurrenz, Facharbeiterlohn für Funktionäre und Opposition gegen (stalinistischen) Bürokratismus, die Verallgemeinerung von Kämpfen auf nationaler und internationaler Ebene, die Notwendigkeit eines eintägigen Generalstreiks in Deutschland als erstem Schritt dahin.

Wir sind ein aktiver Bestandteil in Gewerkschaften, dem sozialen Widerstand, der Partei DIE LINKE und der Linksjugend["solid] und treten dort für eine kämpferische Politik auf der Basis eines sozialistischen Programms ein. Wir unterstützen linke und oppositionelle Betriebsgruppen, sind aktiver Teil der Schülerstreiks und nehmen an den Vorbereitungen für eine zentrale bundesweite Protestdemonstration gegen die kapitalistische Krise teil. Wir verbreiten marxistische Ideen durch Veranstaltungen, Lesekreise und verschiedene Publikationen.

Wir rufen alle Mitglieder und UnterstützerInnen der SAV dazu auf, dass Jahr der Krise zu einem Jahr des Widerstands und des Aufschwungs für den Marxismus zu machen. Werdet Mitglied der SAV! Spendet für unsere Arbeit! Werdet mit uns aktiv im Kampf für eine sozialistische Demokratie!