Zukunftsfähiges Modell

Geschichte, Theorie und Praxis: Lucy Redler hat die erste zusammenhängende Chronik über den politischen Streik in Deutschland nach 1945 vorgelegt – zuerst erschienen Junge Welt, 18.12.07


 

von Jörn Boewe

Politische Streiks, das weiß jedes bürgerliche Feuilleton, sind in der Bundesrepublik verboten. In Wahrheit ist die Rechtslage so eindeutig nicht. Durch Gesetz ist die Frage nicht geregelt, oder, wie der langjährige IG-Medien-Vorsitzende Detlef Hensche einmal im Interview mit der SoZ unterstrich: »Alles das, was den politischen Streik in der Bundesrepublik einschränkt oder für illegal erklärt, ist nur das Produkt von Gerichtsentscheidungen.« In ihrem Buch über den politischen Streik in Westdeutschland nach 1945 zeichnet Lucy Redler die Geschichte seiner Illegalisierung durch das Richterrecht nach. Diese rührt von der Auseinandersetzung um das Betriebsverfassungsgesetz 1952 her. Die Gewerkschaften lehnten seinerzeit den den Entwurf der Adenauer-Regierung ab, weil er in wesentlichen Punkten hinter das bis dahin geltende Kontrollratsgesetz Nr. 22 (Betriebsrätegesetz) und diverse Ländergesetze zurückfiel. So wurde der öffentliche Dienst ausgeklammert, die Betriebsräte zur »vertrauensvollen Zusammenarbeit« mit den Unternehmern verpflichtet und das Mitbestimmungsrecht auf soziale Angelegenheiten beschränkt. Die Protestaktionen, an denen sich mehrere hunderttausend Arbeiter und Angestellte beteiligten, kulminierten in einem zweitägigen Zeitungsstreik Ende Mai. Die Verleger verklagten die Gewerkschaften auf Schadensersatz. Um der Sache mehr Schlagkraft zu verleihen, wurden verschiedene Rechtsgutachten ins Feld geführt, wobei den Unternehmern zwei Juristen zur Seite standen, die sich ihre Sporen unter den Nazis verdient hatten: der Staatsrechtler Ernst Forthoff (»Der totale Staat«, 1933) und der Arbeitsrechtler Hans Carl Nipperdey (»Die Pflicht des Gefolgsmannes zur Arbeitsleistung«, 1938), während die Gewerkschaften ein eigenes Gutachten bei dem Marxisten Wolfgang Abdendroth in Auftrag gaben. Nipperdeys These, wonach ein Streik nur zulässig wenn »sozial adäquat« sei – setzte sich seinerzeit vor den meisten Landesarbeitsgerichten durch. Nach dieser, von der herrschenden Rechtsauffassung bis heute vertretenen Ansicht, darf sich ein Streik nur gegen Arbeitgeber (oder deren Verbände) richten und auf Inhalte abzielen, die prinzipiell durch einen Tarifvertrag geregelt werden können. Jeder andere Ausstand, beispielsweise einer, der den Gesetzgeber als Adressaten hätte, gilt danach als »rechtswidriger Eingriff in den Gewerbebetrieb«, aus dem das bestreikte Unternehmen Schadensersatzansprüche ableiten kann. Nipperdey konnte seine These 1958 als vorsitzender Richter des Bundesarbeitsgerichtes im Urteil gegen den Grundsatz-Streik der IG Metall zur Lohnfortzahlung im Krankheitsfall umsetzen, als er den Metallunternehmern 38 Millionen DM Schadenersatz zusprach.

Der 2004 als Diplomarbeit an der Hamburger Universität für Wirtschaft und Politik fertiggestellte Text, erscheint jetzt, drei Jahre später, im Neuen ISP-Verlag Köln/Karlsruhe zur richtigen Zeit. Vor zwei Jahren hat Oskar Lafontaine die Forderung nach dem »Recht auf Generalstreik« in die politische Debatte geworfen. Eine konkrete Orientierung im Sinne eines Aktionsprogramms war das zunächst nicht. Seitdem hat sich einiges verändert. Vor allem der Kampf der kleinen, aber durchsetzungsfähigen und entschlossenen Lokführergewerkschaft hat die versteinerten Verhältnisse zum Tanzen gebracht, sowohl die zwischen Kapital und Arbeit als auch innerhalb der Arbeiterbewegung selbst. Der als »rein ökonomischer« Ausstand begonnene Kampf bekam, nicht zuletzt dank der von der Bundesvereinigung deutscher Arbeitgeberverbände sowie von Teilen der Justiz und der Presse sekundierten Versuche des Bahnvorstandes, das Streikrecht drastisch einzuschränken, sehr schnell eine politische Dimension.

Überhaupt deutet vieles darauf hin, daß Arbeitskämpfe, ökonomische wie politische, in den kommenden Jahren in der Bundesrepublik Deutschland an Bedeutung gewinnen werden. Vor diesem Hintergrund ist es hilfreich, die Bilanz einer Periode zu ziehen, in der politische Streiks eher die Ausnahme waren, fast nie über reine Demonstrationsstreiks hinausgingen, nichtsdestotrotz dennoch oft wichtige politische Meilensteine darstellten: Im November 1948 streikten neun Millionen Arbeiter und Angestellte in der britisch-amerikanischen Zone gegen Währungsreform und Preisanstieg. 1950/51 erzwangen IG Metall und IG Bergbau mit der Androhung eines Ausstands die Einführung der paritätischen Besetzung der Aufsichtsräte in den Unternehmen des Bergbaus und der eisen- und stahlerzeugenden Industrie (»Montanmitbestimmung«). Mitte der 50er Jahre gab es Arbeitsniederlegungen gegen die Remilitarisierung und atomare Bewaffnung der Bundeswehr, 1968 Streiks gegen die Einführung der Notstandsgesetze. 1986 mobilisierte die IG Metall 250000 Kollegen nach Bonn, um gegen den »Aussperrungsparagraphen« 116 des Arbeitsförderungsgesetzes zu protestieren.

Redler weist nach, wie die Gewerkschaftsführungen in nahezu all diesen Kämpfen eine äußerst zögerliche, konziliante Haltung an den Tag legten und dadurch regelmäßig Chancen verspielten. Es gab immer wieder auch gewisse klassenkämpferische Gegentendenzen, selten allerdings politisch wie organsatorisch auf der Höhe der Zeit. Das zieht sich bis in die jüngste Vergangenheit. Wenn der neue IG-Metall-Chef Berthold Huber sagt, die 35-Stunden-Woche für die neuen Bundesländer könne erst dann erkämpft werden, wenn die Gewerkschaft »in der Fläche handlungsfähig« sei und die entsprechende Mitgliederzahl habe – wird verdrängt, daß die Schwäche der Gewerkschaft ja gerade Folge nicht ausgefochtener Kämpfe ist. Wie anders klang da doch der alte Hasso Düvel, der als IG-Metall-Bezirksleiter in Berlin, Brandenburg, Sachsen 1993 einen großen Streik gewonnen (den um die Ost-West-Angleichung) und 2003 einen verloren hatte (den für die 35-Stunden-Woche im Osten). »Wenn wir alle zusammenstehen, kann uns keiner was wollen, so einfach ist das«, sagte Düvel seinerzeit dem Autor dieser Zeilen, »und den Rest macht dann die Dynamik«.

Lucy Redler. Politischer Streik in Deutschland nach 1945. Neuer ISP Verlag, Köln/Karlsruhe 2007, 143 Seiten, 14 Euro