Bahn-Privatisierung: Wiederholt sich Geschichte?

Kopiert Tiefensee den Dawes-Plan?

Bahnprivatisierung als Eigentumssicherungs-Modell (2007) und Bahnausplünderung als Dawes-Plan (1924)

von Winfried Wolf


 

Im März 2007 präsentierte Bundesverkehrsminister Wolfgang Tiefensee den Entwurf eines Bahnprivatisierungsgesetz. Glaubhafte Gerüchte besagen, dass dieses im Hause Mehdorn, in der Bahnzentrale entstanden oder zumindest durch die Bahnzentrale erheblich bestimmt und mitformuliert worden sei.

Dieser Gesetzesentwurf war am 23. Mai 2007 Gegenstand einer Anhörung im Verkehrsausschuss des Deutschen Bundestages, wobei die überwältigende Mehrheit der Gutachter die Auffassung vertrat, das mit diesem Gesetzentwurf implizit enthaltene "Eigentumssicherungsmodell" sei mit der bestehenden Verfassung – Grundgesetz Artikel 87 e – nicht vereinbar. Dieses Privatisierungsmodell erschien bisher als einmalig. Es sieht, verkürzt formuliert, vor, dass

  • erstens die Anteile des Bundes an der Deutsche Bahn AG zu bis zu 49,9 Prozent an private Investoren verkauft werden;

  • zweitens das Eigentum an der Bahninfrastruktur (Bahnhöfe und Schienennetz) und der Energieversorgung in eine Gesellschaft, die im Eigentum des Bundes steht, eingebracht werden

  • drittens von Anbeginn an der Bund als Eigentümer der Eisenbahninfrastrukturgesellschaften (EIU) auf die Rechte, die aus diesem Eigentum resultieren, verzichtet und diese für einen längeren Zeitraum (10 oder 15 Jahre) an die teilprivatisierte DB AG abtritt. Die teilprivatisierte DB AG kann die Infrastruktur "betreiben und bilanzieren".

  • viertens der Bund an die teilprivatisierte DB AG jährlich rund 12 Milliarden Euro bezahlt (2,5 Mrd. Euro für die Instandhaltung des Netzes, rd. 1 Milliarde Euro für den Ausbau des Netzes, rd. 5 Milliarden Euro für den Nahverkehr (Regionalisierungsmittel, insoweit sie direkt an die DB AG gehen) und schließlich

  • 3-4 Milliarden Euro für den Ausgleich bei den Beamteneinkommen.

Im Ergebnis argumentierte die große Mehrheit der Sachverständigen, dass es hier einen grundlegenden Widerspruch zwischen einerseits dem Eigentumstitel des Bundes an der Infrastruktur und andererseits der Möglichkeit der teilprivatisierten DB AG, über diese Infrastruktur wie ein Eigentümer zu verfügen, geben würde.

Für diese Sichtweise spricht viel. In jedem Fall widerspricht diese Vorgehensweise dem Wortlaut und dem Geist der entsprechenden Grundgesetzartikel. Andererseits lässt sich sagen: So neu ist dieses ausgebuffte Modell einer Bahnstruktur, bei der man der Bahnsubstanz gewaltige Milliardenprofite entziehen kann, ohne formell Eigentümer zu sein, nicht. Alles bereits einmal da gewesen. Alles bereits getestet. Mit deutlich negativen Ergebnissen für das damals seit 90 Jahren aufgebaute Eisenbahnvermögen. Mit deutlich positiven Resultaten für Heuschrecken aus dem Ausland. Das Tiefensee-Mehdorn-Modell eines "Eigentumsicherungs-Modells" ist im Grunde das Modell, das 1924 zur Anwendung kam, als die Reichsbahn dafür zugerichtet wurde, die Reparationsleistungen zu zahlen, die "eigentlich" der Staat, die neu gebildete Weimarer Republik als Nachfolgerin des Kaiserreichs, respektive die deutsche Industrie als Verantwortliche für den Angriffs-Weltkrieg hätten zahlen müssen.

Doch gemach. Diese Eisenbahngeschichte auf deutschem Boden spielte sich wie folgt ab.

1918-1920: Deutsche gemischte Eisenbahnen werden Staatsbahn

Im Schlussprotokoll über die Arbeiten der Finanzkommission der internationalen Waffenstillstandskommission im belgischen Ort Spa vom 1. Dezember 1918 musste sich die deutsche Regierung verpflichten, die deutschen Eisenbahnen, die bis dahin in einer gemischten Form von privaten und Ländereisenbahnen existierten, weder zu veräußern noch hypothekarisch zu belasten, noch eine Konzession auf sie zu erteilen. Sie wurden "als gemeinsames Pfand der Alliierten für die Reparationen" verstanden, auf welche die Alliierten Siegermächte ein Recht hätten i Insofern wirkten die Niederlage des Kaiserreichs im Ersten Weltkrieg und der vereinbarte Waffenstillstand am Kriegsende in Richtung Bildung einer einheitlichen, staatlichen Eisenbahngesellschaft. Die Weimarer Verfassung vom August 1919 forderte dann in Artikel 171, die "dem allgemeinen Verkehr dienenden Eisenbahnen" seien "in Reichseigentum" und als neu zu errichtende staatliche Gesellschaft zu führen. Am 31. März 1920 wurde der Staatsvertrag zwischen der Reichsregierung und den acht Eisenbahnländern Preußen, Bayern, Sachsen, Württemberg, Baden, Hessen, Mecklenburg-Schwerin und Oldenburg zur Übernahme und Zusammenfassung der Länderbahnen geschlossen. Damit war die Deutsche Reichsbahn gegründet. Der damals vereinbarte Übernahmepreis betrug 39 Milliarden Mark. Das ist insofern von Interesse, als der Wert der damaligen Eisenbahn umgerechnet auf heutige Werte weit höher ist als der Wert, auf den die Deutsche Bahn AG Anfang des 21. Jahrhunderts im Rahmen der Bahnprivatisierungsdebatte geschätzt wird. Oder anders formuliert: Dies ist ein weiterer Beleg dafür, dass die rund 18 Milliarden Euro, mit denen die Bundesregierung und die Große Koalition die aktuelle Deutsche Bahn AG – Schienen, Bahnhöfe, Energieproduktion und rollendes Material alle eingeschlossen – bewerten und auf deren Basis der Einstieg von privaten Investoren erfolgen soll, ein politischer Wert für die Verkäufer und ein Schnäppchenpreis für die Heuschrecken-Investoren ist.

Zurück zur Eisenbahnhistorie: Die Reichsbahn war zunächst dem neu geschaffenen Reichsverkehrsministerium unterstellt. Sie war damit Teil des neuen Staates, der Weimarer Republik. In der Inflationskrise des Jahres 1923 sah sich die Berliner Regierung nicht in der Lage, die aus dem Versailler Vertrag resultierenden Reparationsverpflichtungen termingerecht zu erfüllen. Darauf marschierten 60.000 Mann französischer und belgischer Truppen im Ruhrgebiet ein und besetzten dieses von Januar 1923 bis Sommer 1925. Über 5.000 Kilometer der ertragsreichsten Eisenbahnstrecken wurden der Reichsbahnverwaltung entzogen und alliierter Kontrolle unterstellt. Die Eisenbahn wurde nun auch real zum Pfand für die deutsche Kriegsschuld. Der Gesamtschaden, der durch die Besetzung vor allem an Einnahmeverlusten entstand, wurde von der Reichsbahnverwaltung später auf zwei Milliarden Goldmark beziffert. ii

In dieser kritischen Situation fiel der Reichsbahn der neue Eigentümer in den Rücken. In einem Memorandum vom 7. Juni 1923 bot die Reichsregierung, unterstützt von einem breiten Parteienbündnis unter Einschluss der Deutschnationalen, den Alliierten einen neuen Reparationsplan an, für dessen Einhaltung eine umgewandelte Reichsbahn Garant sein sollte. Dieses Angebot wurde von den Alliierten zunächst nicht akzeptiert. Die Reichsregierung ging einen Schritt weiter. Am 15. November 1923, auf dem Höhepunkt der Inflationskrise, erklärte der deutsche Finanzminister, dass er für die Ausgaben der Reichsbahn "keine Verantwortung mehr übernehmen" könne. Die finanzielle Verwaltung der Eisenbahn wurde aus dem Staatshaushalt ausgegliedert und erneut eine neue Gesellschaft gegründet, die "Deutsche Reichseisenbahn". Diese wurde als selbständiges, eine juristische Person darstellendes wirtschaftliches Unternehmen definiert, das Betrieb und Verwaltung der weiter im Eigentum des Reiches stehenden Eisenbahnen zu übernehmen hatte. iii Die Eisenbahn in Deutschland existierte nun in schwerer Krisenzeit als neue Gesellschaft ohne staatliche Absicherung und ohne größere finanzielle Ausstattung. Im Grunde wurde sie auf diese Weise den Siegermächten förmlich als "Reparationsleistungsträger" angedient. Als später im Reichstag die rechtsextremen Kräfte gegen die "Ausverkaufspolitik" wetterten und den Dawes-Plan ablehnten, wurden sie immer wieder mit der Tatsache konfrontiert, dass sie dem zentralen Bestandteil dieses Plans in der Inflationskrise 1923 zugestimmt hatten. Dies bewirkte letzten Endes, dass die Mehrheit der Deutschnationalen in der Endabstimmung 1924 dem Projekt Ausgliederung der Eisenbahn zustimmte.

Es kam, was kommen sollte. Am 9. April 1924 beschloss eine Londoner Konferenz der Siegermächte unter Vorsitz des amerikanischen Bankiers Charles Gates Dawes den sogenannten Dawes-Plan. Die US-Banken spielten beim Thema Kriegsschulden eine entscheidende Rolle, da Großbritannien und Frankreich bei nordamerikanischen Finanzinstituten hoch verschuldet waren und die deutschen Reparationsleistungen faktisch über Paris und London zu den US-Banken "durchgereicht" wurden. Der Dawes-Plan mündete in eine neuerliche Umwandlung der Eisenbahn in Deutschland, nunmehr in ein selbständiges Unternehmen unter ausländischer Aufsicht. Dieses trug die Bezeichnung "Deutsche Reichsbahn-Gesellschaft". Die Sachwerte der Eisenbahn wurden als Pfand zur Deckung der Reparationsschulden eingesetzt.

Die rechtliche Konstruktion dieser Bahngesellschaft war nach der Beobachtung zeitgenössischer Rechtsexperten einmalig. Obwohl die Gesellschaft deutschem Recht unterworfen war, entsprach sie keiner der im Handelsgesetzbuch vorgesehenen Gesellschaftsformen. Entscheidend war dabei, wie mit dem Eigentum an der Infrastruktur und dem rollenden Material umgegangen wurde und wie ein Begriff dees "unsihtbaren Eigentums" Eingang in das Wirtschaftsrecht fand. Die Konstruktion hatte drei Komponenten:

Erstens blieb der deutsche Staat formell Eigentümer des gesamten Sachvermögens, des "beweglichen und unbeweglichen Vermögens, das die Eisenbahn bewirtschaftete". Dies war wichtig zur Beruhigung der Öffentlichkeit; man wollte nicht als "Ausverkaufspolitiker" gescholten werden.

Zweitens besaß die Deutsche Reichsbahn-Gesellschaft das, wie es wörtlich hieß, "unsichtbare Eigentum", nämlich das "Betriebsrecht an den Anlagewerten", verbunden mit den Verpflichtungen, diese Anlagen instand zu halten und aus den Gewinnen oder aus der Substanz solange die vereinbarten Reparationszahlungen an die Siegermächte zu transferieren, bis diese getilgt sein würden. Als letzter Tag der Reparationsleistungen wurde im entsprechenden Gesetz der 31. Dezember 1964 genannt. (Ja, richtig gelesen: Es sollten Reparationen bezahlt – von der Reichsbahn-Gesellschaft bezahlt – werden über vier volle Jahrzehnte hinweg!) iv

Drittens wurde die Gesellschaft unter die Aufsicht eines ausländischen Kommissars gestellt. Als Vertreter der Gläubiger wurde ein Treuhänder bestimmt, der die Hälfte der achtzehn Mitglieder des Verwaltungsrats der Deutsche Reichsbahn-Gesellschaft – darunter mindestens vier Ausländer – zu bestimmen hatte. Im Nennwert von elf Milliarden Goldmark hatte die Gesellschaft dem Treuhänder Reparationsschuldverschreibungen auszuhändigen und diese durch erststellige Hypothek auf das gesamte Reichsbahnvermögen zu sichern.

Das Reichsbahngesetz, das diese Konstruktion absegnete, war mit einer Verfassungsänderung verbunden; es musste damit mit einer Zweidrittel-Mehrheit verabschiedet werden. Zwischen dem 25. und 29. August 1924 gab es im Deutschen Reichstag heftige Debatten. Insbesondere die KPD geißelte den Gesetzentwurf als "Sklavenpakt von London" und als eine "völlige Umwandlung Deutschlands in eine Kolonie der Entente, in eine Kolonie, in der die Arbeitskraft der Reichsbahner in besonders billiger Weise verschachert werden soll" – so das KPD-Mitglied des Reichstags, MdR Ruth Fischer. Ein Argumentationsstrang der Gegner dieses Modells bestand darin aufzuzeigen, dieses Modell sei "nicht verfassungskonform". Tatsächlich verlangte die Weimarer Verfassung eine einheitliche Eisenbahn "in Reichseigentum". Doch die Befürworter des Dawes-Plans argumentierten: Da die neue Gesellschaft die Sachwerte "nur" wie ein "unsichtbares Eigentum" nutzen kann, blieben die Eisenbahnen doch "letzten Endes in Staatseigentum". In einer ersten Abstimmung wurde die erforderliche Zweidrittel-Mehrheit verfehlt. Doch nachdem, wie erwähnt, die Mehrheit der "Deutschnationalen" für die Ausverkaufslinie gewonnen werden konnte, erhielt das neue Reichsbahngesetz nebst Verfassungsänderung am 29. August 1924 die erforderliche Zweidrittelmehrheit erreicht.

1924 bis 1930: Enormer Kapitalabzug

Für Zins und Tilgung der deutschen Kriegsschuld musste die Deutsche Reichsbahn-Gesellschaft nun jährlich 660 Millionen Goldmark an die Alliierten abführen. Diese Zahlungen endeten faktisch am 1. Juli 1932, als die Weltwirtschaftskrise die Reichsbahn selbst in eine existentielle Krise stürzte. v Zusätzlich musste die Deutsche Reichsbahn-Gesellschaft jährlich über 200 Millionen Reichsmark "Beförderungssteuer" abführen. Unter Berücksichtigung von Übergangsregelungen zahlte die Reichsbahn im Zeitraum 1925 bis 1930 allein für Reparationen und Beförderungssteuer einen Betrag von 4,6 Milliarden Mark; unter Einschluss der ihr aufgebürdeten Pensionsleistungen und der an die deutsche Industrie abgeführten Dividenden für deren Reichsbahn-Vorzugsaktien (siehe unten) wurden ihr in dieser Periode 5,5 Milliarden Mark entzogen. Eberhard Kolb bilanziert: "Die Reichsbahn hatte damit den Hauptteil der gesamten deutschen Reparationsleistung aufzubringen." vi

Neben den Siegermächten profitierte auch die deutsche Industrie von der Sonderkonstruktion. Sie beteiligte sich, wie im Dawes-Plan als Möglichkeit vorgesehen, mit Vorzugsaktien an der Deutschen Reichsbahn-Gesellschaft, so dass sie ihrerseits jährliche Millionenbeträge aus der Reichsbahn bezog, unabhängig davon, ob es Gewinne oder Verluste gab. vii Darüber hinaus erhielt die deutsche Wirtschaft Sitz und Stimme im neu geschaffenen Verwaltungsrat der Deutschen Reichsbahn-Gesellschaft. Die Vorzugsaktionäre konnten unter bestimmten Bedingungen den Präsidenten dieses einflussreichen und für die Wirtschaft strategisch wichtigen Gremiums stellen. Unter den gegebenen Bedingungen entsprach ein Platz im Verwaltungsrat fast einem Platz an der Sonne; zumindest handelte es sich um eine äußerst interessante und für das eigene Unternehmen einträgliche Position. Und so waren denn in den folgenden Jahren und bis Ende des Zweiten Weltkriegs im Verwaltungsrat der Deutsche Reichsbahn-Gesellschaft die profiliertesten Köpfe der deutschen Wirtschaft vertreten – so Carl Friedrich von Siemens (Aufsichtsratsvorsitzender der Siemens-Halske- und Siemens-Schuckert-Werke – von Siemens war bis Anfang der dreißiger Jahre sogar Vorsitzender des mächtigen Verwaltungsrats); Peter Klöckner (Aufsichtsratsvorsitzender des Klöckner-Konzerns), Krupp von Bohlen und Halbach, Bankier Freiherr von Schröder sowie Hermann Schmitz von der I.G. Farben. Die Präsenz in diesem Gremium war aufgrund seiner Funktionen so wichtig: Der Verwaltungsrat entschied alle grundsätzlichen Fragen des Eisenbahnbetriebs, z.B. die Tarifpolitik, das Beschaffungswesen und die Personalpolitik. Er hatte außerdem unmittelbaren Einfluss auf die Verwaltung der Reichsbahn-Gesellschaft, indem er den Generaldirektor und die übrigen Vorstandsmitglieder ernannte. Dadurch konnten die Vertreter der deutschen Wirtschaft im Verwaltungsrat der Reichsbahn eine Politik betreiben, die ihren Interessen, u.a. als Kunden der Reichsbahn , bediente. Während die Siegermächte ihre Vorteile aus der Sonderkonstruktion Reichsbahn "nur" bis zur Weltwirtschaftskrise beziehen konnten, bezog die deutsche Wirtschaft aus dieser Sonderkonstruktion bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs ihre Vorteile. viii Es handelte sich um eine Struktur zur systematischen Verbilligung der Transportpreise im Interesse der Wirtschaft. Dies wiederum führte, ähnlich wie heute in den Zeiten der Globalisierung, dazu, dass in erster Linie die großen Konzerne mit ihren weltumspannend arbeitsteiligen Produktionen und ihrem hohen Transportaufwand profitierten, wohingegen regionale Wirtschaftsräume zerstört wurden. All dies wiederum hatte eine erste "Verkehrsinflation" zur Folge: Weite Transporte waren spottbillig; die realen Transportpreise zahlten andere: die Fahrgäste, die Steuerzahlenden und spätere Generationen.

Die Reichsbahn konnte in den Jahren 1925 bis einschließlich 1929 trotz dieser äußerst ungünstigen Rahmenbedingungen positive Betriebsergebnisse ausweisen. 1930 und 1931 gab es erneut, wie am Ende des Ersten Weltkriegs, Verluste, allerdings ausschließlich aufgrund der genannten Sonderleistungen. 1932 und 1933 geriet die Reichsbahn dann ganz in die roten Zahlen. Trotz dieser kritischen Voraussetzungen gelang es in den Jahren 1925 bis 1929, das streckenweise erheblich beschädigte Bahnnetz auszubessern und das rollende Material zu einem großen Teil zu modernisieren. Die Fakten zu dieser kurzen Periode der deutschen Eisenbahnen sind wichtig, um sich klarzumachen, dass die Reichsbahn in dieser Zeit als "Fast-Staatsbahn" trotz extremer Belastungen aus Krieg, Fremdbestimmung, Ruhrbesatzung, Reparationen und schließlich die Weltwirtschaftskrise auf einen relativ guten Kurs gelangte. Nochmals neu formuliert: All dies demonstriert, dass unter normalen Bedingungen mit der Verfasstheit einer einheitlichen Bahn in öffentlichem Eigentum eine gewaltige Steigerung des Werts und Nutzens des Schienenverkehrs möglich gewesen wäre.

Zwei Ergänzungen: (1) Charles G. Dawes, der leitende Agent der "Londoner Konferenz", war Mitinhaber des mächtigsten Finanzinstituts der Welt, von J. P. Morgan & Co.. Er vertrat zumindest indirekt über den mit Morgan verbundenen Autokonzern General Motors Interessen, die dem Schienenverkehr entgegengesetzt waren. (2) Der aller erste Vorschlag, die deutsche Eisenbahn als Reparations-Pfand einzusetzen, kam aus den Vereinigten Staaten von Amerika und damit aus dem Land, in dem sich seit Anfang des 19. Jahrhunderts das Auto durchgesetzt hatte und die Eisenbahnen immer mehr ins verkehrspolitische Abseits gedrängt worden waren. Der damalige US-Außenminister Charles E. Hughes regte am 29. Dezember 1922 in einer Rede in New Haven an, die Reichsbahn in ein selbständiges Unternehmen umzuwandeln und dieses mit einer "Generalhypothek zugunsten der ausländischen Gläubiger" zu belasten. ix

Eigentumssicherung und Dawes-Plan

Die mit dem Dawes-Plan gewählte Unternehmenskonzeption der Bahngesellschaft weist einige Parallelen mit dem "Eigentumssicherungsmodell" auf, auf dessen Grundlage im Frühjahr 2007 ein Bahnprivatisierungsgesetz vorgelegt wurde. Auch bei diesem Modell handelt es sich, wie die Verfassungs- und Wirtschaftsrechtsexperten betonen, um "eine einmalige, bisher nicht bekannte Konstruktion", indem die teilprivatisierte Deutsche Bahn AG formell nicht Eigentümerin der Infrastruktur sein, sie jedoch "betreiben und bilanzieren" darf. Erneut wird eine Konstruktion gewählt, bei welcher das Eigentum formal dort bleibt, wo es – um den Widerstand zu minimalisieren – politisch opportun zu sein scheint. Gleichzeitig wird die teilprivatisierte Deutsche Bahn AG bzw. werden die privaten Investoren, die bei der DB AG einsteigen, ohne Eigentümerin zu sein aus dem Betrieb des Netzes und der übrigen Infrastruktur Gewinne beziehen können in einer Form und in einem Ausmaß, als wären sie Eigentümer. Also auch hier eine Art "unsichtbares Eigentum". Gleichzeitig würden in diese Bahn auf dem Umweg, dass der Bund doch formell Eigentümerin der Infrastruktur bleibt, über zehn Jahre hinweg rund 130 bis 150 Milliarden Euro fließen. Die "normalen" Gewinne aus dem Betreiben der Infrastruktur und die teilweise transferierten Gelder aus den Bundesmitteln, die in die Infrastruktur fließen, würden der Alimentierung der "Investoren" dienen.

Was im Fall des Dawes-Plan die Siegermächte waren, wären im Fall des Eigentumssicherungsmodells die privaten Investoren. Das eine Mal – 1924 – waren die Profiteure England, Frankreich und die USA. Das andere Mal – 2007 ff – wären es die sogenannten "Investoren", die nach Verabschiedung eines deutschen Bahnprivatisierungsgesetzes bei der DB AG "einsteigen" würden. Wobei es bereits erste Adressen für diese Heuschrecken-Investoren gibt: Genannt wurden die Deutsche Bank, Kapitalgruppen aus den Vereinigen Emiraten und Abu Dabi oder auch "russische Investoren", etwa Gazprom, wie dies von "Spiegel online" gemeldet wurde. x Siegermächte eben.

PS: Das Buch zur Geschichte der Eisenbahnen in Deutschland, in dem die wichtigsten Fakten zum Dawes-Plan ausgebreitet werden, erschien 1999. Es trägt den Hinweis: "Sonderausgabe für die Mitarbeiter und Freunde der Deutschen Bahn AG". In der Regel ist das ein Hinweis auf Sponsoren. xi Zumindest bei einigen klügeren und geschichtsbewussten Vertretern der Deutsche Bahn AG dürfte die Geschichte des Dawes-Plan und die damals gewählte Sonderkonstruktion der Deutsche Reichsbahn-Gesellschaft bekannt sein. Vom Bahnprivatisierungsgesetz-Entwurf mit dem "Eigentumssicherungsmodell" wiederum heißt es, Herr Tiefensee habe hier "wertvolle Zuarbeit" aus dem Hause der Deutschen Bahn AG erhalten.

Winfried Wolf ist marxistischer Ökonom und Verkehrsexperte. Er war als Abgeordneter der PDS von 1994 bis 2002 Mitglied des Bundestags. Er referiert auf den Sozialismustagen 2007 über die Bahnprivatisierung und eine sozialistische Alternative zum kapitalistischen Verkehrs-Chaos.

i Eberhard Kolb, "Die Reichsbahn vom Dawes-Plan biszum Ende der Weimarer Republik", in: Gall / Pohl, (Hg), Die Eisenbahnin Deutschland, München 1999, S.109.

ii Eberhard Kolb, a. a. o., S.110.

iii Otmar Lang, "Die Eisenbahn in der WeimarerZeit", in: Zug der Zeit – Zeit der Züge. Deutsche Eisenbahn 1835-1985,herausgegeben von der Eisenbahnjahr Ausstellungsgesellschaft Nürnberg,Berlin 1985, Band 2, S.656.

iv Eberhard Kolb, a.a.O., S.116 bilanziert: "Diesesvöllig einmalige Unternehmen, das im deutschen Rechtsraum ohneParallele war, bezeichnete die Begründung zum entsprechendenReichsbahngesetz als ´eine Gesellschaft eigenen Rechts mitprivatwirtschaftlichem Charakter, aber mit starkemöffentlich-rechtlichen Einschlag.´" Im Dawes-Gutachten war dasAnlagevermögen der Reichsbahn auf 26 Milliarden Goldmark veranschlagtworden.

v Ralf Roman Rossberg, Geschichte der Eisenbahn,Künzelsau 1977, S. 46.

vi Eberhard Kolb, a. a. O., S.117. AnReparationszahlungen sollen es 1925 200 Millionen Mark, 1926 595Millionen Mark und 1927 550 Mio. Mark gewesen sein und dann 1928-1930jeweils die genannten 660 Mio. Mark. Die Beförderungssteuer lagjährlich bei 205 Mio. Mark. Für Dividenden und Pensionen wurdenjährlich weitere 160 Mio. Mark abgeführt. Angaben nach: Otmar Lang,a.a.O., S. 658.

vii Insgesamt scheint ein Einstieg des deutschenprivaten Kapitals mit rund 500 Millionen Mark erfolgt zu sein. Bei dergarantierten Verzinsung von 7 Prozent entsprach das einer jährlichenÜberweisung von 35 Millionen Mark an die private Industrie. Vgl. OtmarLang, a.a.O., S. 658.

Interessant ist im übrigen der Kontrast, der zwischenden Milliarden-Zahlungen der Reichsbahn an die Alliierten und denAuflagen für die deutsche Industrie besteht: Nach dem Dawes-Planmusste die deutsche Industrie, immerhin maßgeblich für den ErstenWeltkrieg verantwortlich, gerade 300 Millionen Mark aufbringen.

viii Vgl. Elfriede Rehbein u. a., Einbaum, Dampflok,Düsenklipper, Berlin (DDR) 1968, S. 199.

ix Eberhard Kolb, a. a. O., S.431.

x Spiegel online vom 14. November 2006.

xi Die Eisenbahn in Deutschland – Von den Anfängenbis zur Gegenwart, a. a. O., S.3.